Über Wien scheint derzeit ein Regenbogen zu hängen. Pünktlich zu den diesjährigen Mega-Events, dem Life Ball, der am 16. 5. stattfand, und dem Eurovision Song Contest (ESC), dessen Halbfinale heute ist, sowie dem Vienna Pride mit der Regenbogenparade im Juni setzt die Stadt ein Signal: Es wurden 49 Ampeln mit homosexuellen und heterosexuellen Paaren als Ampelfiguren angebracht. An prominenten Straßenübergängen wie dem am Schottentor oder dem zwischen Rathaus und Burgtheater im zentral gelegenen pompösen Ersten Bezirk zum Beispiel halten Männer mit Männern, Frauen mit Frauen und Frauen mit Männern Händchen und umarmen sich. Sie stehen bzw. gehen Hand in Hand und werden dabei von Herzsymbolen begleitet. Ur süß, wie man in Wien sagt!
Ursprünglich sollte diese witzige, aber nicht gerade unpolitische Aktion Wien als tolerante und weltoffene Stadt lediglich während des Tourist_innenstroms heuer im Mai und Juni highlighten. Nun ließ die Verkehrsstadträtin Maria Vassilakou (Grüne) verlauten: Die Ampelpärchen bleiben. Und andere Städte wie München ziehen bereits nach. Da schau her! Endlich hat Wien mal wieder was erfunden, was woanders nachgemacht wird.
Natürlich kostet die Installation Geld. Aber ist es wirklich angebracht, sich angesichts diverser unnötiger Ausgaben der Stadt über eine solche – ja politisch und menschenrechtlich sinnvolle – Aktion aufzuregen? Vassilakou sieht in den Ampelpärchen zudem ein Plus für den Wien-Tourismus.
Dieser boomt gerade wie nie: Die Stadt ist voller ESC-Nomad_innen. Fähnchen aus allen möglichen Ländern Europas werden im derzeit eisigen Wind Wiens gewedelt. Conchita Wurst, für die sich so manche_r in Wien einst schämte, holte letztes Jahr den ESC-Sieg für Österreich. Durch sie hat sich der ESC ein wenig verändert. Und irgendwie auch Wien. Die Perücke, das Make-Up, der Bart, die Grazie – das sind sicher nicht einfach popkulturelle Attitüden einer Kunstfigur, sondern durch und durch Verkörperungen von Vielfalt und Ambivalenz in Bezug auf Geschlecht und Begehren. (Lesetipp zum ESC bzw. zu Conchita Wurst: Ina Matt, Queer Nation Austria, in: Ehardt u.a. (Hg.): Eurovision Song Contest: Eine kleine Geschichte zwischen Körper, Geschlecht und Nation, Wien 2015.)
Die Frau* mit Bart, die als Tom Neuwirth auch ein schwuler Mann* ist, wird gerade auf Händen getragen. Für den Life Ball, dem europaweit größten Charity-Event gegen HIV/AIDS bzw. für HIV/AIDS-Betroffene, schmückte „die Wurst“ die Werbeplakate als Adele von Gustav Klimt, mit Slogans wie „Akzeptanz ist eine Tochter der Freiheit.“ Conchita Wurst machte den diesjährigen Life Ball besonders. Unvergesslich aber machte ihn die berührende Rede des Life-Ball-Gründers und -Veranstalters Gery Keszler, der am Abend des 16. Mai zum ersten Mal öffentlich davon sprach, dass er selbst von HIV betroffen ist, und zwar seit Anfang der 80er-Jahre, als einer der ersten in Österreich. Die Stimme blieb ihm weg, als er sich selbst als HIV-positiv outete – und es ist bis heute ein Outen, welches sich viele Betroffene aus Angst vor Ausgrenzung und Benachteiligung nicht trauen, wodurch viel Lebensenergie in die Verheimlichung der Infektion gesteckt wird.
Ein wichtiges Anliegen war Keszler auch, den Life Ball 2015 dem Freund und Mitarbeiter Horstl zu widmen, der heuer an AIDS verstorben ist sowie die Thematisierung des teilweise stark ignoranten Umgangs mit HIV/AIDS in unserer Gesellschaft. Mit bewegenden Worten nahm der Gay-Aktivist Bezug auf die Vorurteile, die seit Jahren laut werden gegen Events wie den Life Ball. „Ein riesiges Ja zum Life Ball!“, sagte er. Aber er wisse nicht, ob er die dazugehörige pompöse Gala in der Hofburg nächstes Jahr brauche.
Und genau in seiner Rede wurde mir als Zuseherin gerade wieder klar, wie wichtig auch solche Mega-Events sind, die die breite Öffentlichkeit für das Thema HIV/AIDS vereinnahmen. HIV floriere an vergessenen Orten, sagte Charlize Theron, eine der vielen Weltstars unter den Gästen an dem Abend, in ihrer Rede. Aber auch in unseren Gesellschaften, und zwar gerade dort, wo Formen von Begehren und Sexualität, die nicht dem Mainstream entsprechen, tabuisiert sind, wo durch Verstrickungen in Angst und fehlendem Selbstwert sowie gesellschaftliche Ignoranz Präventionsbotschaften nicht greifen können.
Auch wenn der Kommerz und die fette Party, die Dekadenz und Oberflächlichkeit, die mit solchen Events einhergehen, oft die eigentliche Botschaft übertünchen, so stehen sie dennoch mit all ihren positiven Auswirkungen (Plakate, Öffentlichkeit, Spenden, Reden, die zum Innehalten anregen) als Veranstaltungen mit höchst sinnvollen Zielen und Absichten da. So sagte auch Gery Keszler: „Ich wünsch mir keinen Life Ball, keine Party, keinen red carpet. Ich wünsch mir kein Feiern, keine VIP areas... Viel lieber wär‘ es mir, wenn dieses Fest gar nicht mehr nötig wäre, weil wir AIDS besiegt haben.“
Der Life Ball gehört seit 23 Jahren zu Wien. Der Effekt, den er über diese vielen Jahre auf Wien hat, ist nicht geringzuschätzen. Conchita Wurst bewirkte durch ihren ESC-Sieg 2014, dass viele Menschen aus Österreich, einem Land, das mit rechts-konservativem Gedankengut stellenweise tief durchzogen ist und an LGBT-Akzeptanz noch leicht zu überbieten ist, stolz auf eine Dragdiva mit Bart sind.
Und lesbischwule Ampelpärchen erübrigen zwar keine Gleichstellungspolitik, aber bewirken vielleicht, dass der ein oder die andere nicht erst bei (Stufe) Rot stehenbleibt und innehält!
Und dass es einigen nicht gefällt: Jo eh!