Kim (Pseudonym) ist etwa fünfzig Jahre alt. Sie ist schwarz, gut aussehend und hoch intelligent. Ich habe sie vor einigen Jahren auf einer Tagung an der Ev. Akademie in Bad Boll kennen gelernt. Seitdem halten wir Kontakt. Kim ist lesbisch und kommt aus Jamaika. Vor über zwanzig Jahren ist sie aus Jamaika geflohen, weil sie es als lesbische Frau in ihrem Heimatland nicht mehr ausgehalten hat. Sie wurde von Familienmitgliedern bedroht und von ihren Eltern verstoßen. Sie verlor ihren guten Ruf, wurde sozial geächtet und war mehrfach gewalttätigen Übergriffen ausgesetzt. Heute lebt sie in den USA und setzt sich dort für die Rechte von schwarzen Lesben, Schwulen, Bi-, Trans- und Intersexuellen (LSBTI) ein.
Am Rande einer Friedenskonferenz des Ökumenischen Rats der Kirchen in Kingston/Jamaika habe ich Kim im Mai 2011 wieder getroffen. Sie war zu Besuch in ihrer alten Heimat. Ich war dort mit einer Gruppe von lesbischen und schwulen Trainerinnen und Trainern aus Moldau, Lettland und Norwegen für einen Workshop eingeladen. Wir haben uns mit Homophobie und Transphobie in verschiedenen Kirchen auseinandergesetzt und Strategien gegen religiös legitimierte Gewalt diskutiert. Wir trafen Kim - gemeinsam mit mehreren anderen lesbischen Frauen aus Jamaika - in einem Hinterhof an der Peripherie von Kingston. Eine alte Lagerhalle wird dort jede Nacht zu einen Musikclub umfunktioniert, in dem LSBTI und ihre Freundinnen und Freunde willkommen sind. Den Ort nennen sie "Oase", er ist geheim und wird von privat organisierten Sicherheitskräften streng bewacht. Eine Oase ist dieser Ort allerdings für viele junge Schwule, Lesben, Bi-, Trans- und Intersexuelle, die von ihren Eltern und Familien von zuhause rausgeschmissen werden und oftmals unter widrigen Bedingungen auf der Straße leben. Viele von ihnen prostituieren sich, um zu überleben. HIV-Infektionen und andere Infektionskrankheiten sind an der Tagesordnung. Die Oase ist für viele von ihnen der einzige Ort, an dem sie so sein dürfen, wie sie sind, an dem sie auf Gleichgesinnte treffen und sich sicher fühlen. Kein Wunder, denn Jamaika steht in der Kritik, eines der gewalttätigsten und homophobsten Länder der Welt zu sein. Offen lebende Schwule und Lesben leiden unter sozialer Ächtung und massiver physischer oder psychischer Gewalt.
Kim hat unsere kleine europäische Gruppe vor unserem Quartier an der Kingston University abgeholt und in die Oase gefahren. Den Ort hätten wir sonst nie gefunden. Nach einer herzlichen Begrüßung wurden uns die Räume gezeigt: eine Bar, ein kleiner Tanzraum und ein Beratungsraum, in dem nicht wenige von ihnen nachts ihre Schlafsäcke ausrollen, um dort zu übernachten statt auf der Straße. Am nächsten Morgen ab sechs Uhr muss aber alles wieder aufgeräumt und verschwunden sein. Denn der Ort wird tagsüber anders genutzt. Wir hörten Reggae-Musik, tranken Bier und sprachen über die Situation von LSBTI in der Karibik und in Afrika.
Trotz ihrer persönlichen Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen in Jamaika hat sich Kim unserer europäischen Gruppe gegenüber deutlich positioniert: "Die weiße westliche Welt wirft Afrikanischen Kirchen und Gesellschaften homophobe Predigten und die Unterstützung homophober Gewalttaten vor. Diese Vorwürfe sind einerseits berechtigt und richtig. Andererseits haben sie häufig rassistische und neo-koloniale Untertöne. Es besteht die Gefahr, dass westliche Gesellschaften und Kirchen auch im 21. Jahrhundert den Kirchen in Afrika und in der Karibik noch immer vorschreiben wollen, was diese zu tun oder zu lassen haben. Dabei sind es doch die Weißen gewesen, die mit ihren teilweise gewaltsamen Missionierungen und mit den damals auch in Europa noch sehr engen christlichen Moralvorstellungen diese Werte und Normen überhaupt erst nach Afrika gebracht haben. Auch die Kriminalisierung von Homosexualität ist erst mit den aus Europa importierten Gesetzeskodexen in die ehemaligen Kolonien gekommen. Das müssen Weiße heute wissen und kritisch reflektieren, wenn sie mit Afrikanern und Asiaten über das Thema reden und scheinbar alles besser wissen!"
Kim hat mir mit ihrer Position eines unmissverständich gezeigt: Es gibt bei diesem Thema keine einfachen Antworten, kein gut oder böse, schwarz oder weiß, keine globalen Rezepte und schon gar keine westlichen Anweisungen. Trotzdem gibt es klare Grenzen: Die Menschenrechte von LSBTI müssen in der Karibik, in Afrika und Asien genauso geachtet und geschützt werden wie überall sonst auch .
Mich haben Kims Sätze und auch die von den anderen lesbischen Frauen aus Jamaika nachdenklich gemacht. Auf Nachfrage, was sie denn von Europäischen und Nordamerikanischen Kirchen erwarten, betonten die Frauen: Homophobe und transphobe Gewalt ist nicht akzeptabel und muss verurteilt und beendet werden. Insbesondere dann, wenn Hass, Gewalt und Menschenrechtsverletzungen mit der Bibel in der Hand begründet und legitimiert werden. Aus ihrer Sicht ist es aber genauso wichtig, dass die koloniale und rassistische Geschichte der europäischen und nordamerikanischen Kirchen erinnert und kritisch reflektiert wird. Ihr Ziel ist es, einen Dialog auf Augenhöhe zu führen - ohne Vereinnahmung und Paternalismus, um gemeinsam gegen Hass und Gewalt eintreten zu können.
Was ich verstanden habe: Es ist extrem wichtig zuzuhören. Auch in der Karibik und in Afrika, in Mittel- und Lateinamerika und in Asien gibt es Lesben und Schwule, Bi-, Trans- und Intersexuelle. Sie sind nicht nur Objekte von kirchlicher Verdammnis, staatlicher Verfolgung oder westlicher Fürsorge, sondern sie sind Subjekte ihrer eigenen Lebensgeschichte. Sie sind schwarz oder weiß, dunkel oder hell, alt oder jung, gläubig oder ungläubig und leben in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen und Lebensformen. Sie sind in ihren Heimatländern geboren und aufgewachsen.Trotzdem werden sie ausgegrenzt, angegriffen und oft sogar ermordet. Ihnen wird ein "westlich dekadentes" Leben vorgeworfen, das nicht "typisch" afrikanisch, lateinamerikanisch oder asiatisch ist. Aber wenn sie nach Europa oder Nordamerika fliehen und Asyl beantragen, werden sie dort als Schwarze und Fremde misstrauisch beäugt, ihre Asylgründe werden häufig angezweifelt oder ihnen wird überhaupt nicht geglaubt. Diese fatalen Widersprüche und Doppelbotschaften gilt es im Blick zu haben, um die komplexe Situation zu begreifen, in der sich Kim und die anderen befinden. Darüber hinaus braucht es ein kritisches Verständnis für die Zusammenhänge von Homophobie, Rassismus und Kolonialismus, um daraus gemeinsame Handlungsstrategien ableiten zu können - jenseits von schwarz - weiß.
Veranstaltungshinweis zum Thema auf dem Ev. Kirchentag in Stuttgart:
"Homosexualität im kirchlichen Spannungsverhältnis von Nord und Süd",
Freitag, 5. Juni, 15:00 - 17:00 Uhr im Zentrum Regenbogen, Michaelskirche Wangen
Zum Weiterlesen:
- Marc Epprecht, Sexuality and Social Justice in Africa. Rethinking Homophobia and Forging Resistance, London - New York 2013
- Kerstin Söderblom, Homophobie und Gruppenbezogener Menschenhass, in: Sonja Angelika Strube (Hg.), Rechtsextremismus als Herausforderung für die Theologie, Freiburg i.Br. 2015, S. 223 - 241