Ein sechsjähriger Junge bekommt eine Ohrfeige. Alle schauen ihn an. Die Tränen steigen dem Kind in die Augen. „Jetzt nur nicht weinen“, denkt der Kleine und ringt sich ein trotziges Lächeln ab. Um keinen Preis will er den Schmerz und die Demütigung vor den anderen und vor sich selbst eingestehen. Das würde noch viel mehr wehtun als die Ohrfeige.
Dieses Verhalten ist nicht auf Kinder beschränkt. „Macht nicht´s“, „Nicht so schlimm“, „Geht schon“, das sind Sätze die wahrscheinlich jede_r von uns schon einmal gesagt hat, auch wenn wir tief in uns gespürt haben: „Es macht doch etwas“, „Doch, es ist schlimm“ und „Nein, es geht nicht.“ Auch viele homosexuell liebende Menschen handeln nach diesem Prinzip. Da wird fröhlich mitgelacht über den ach so lustigen Schwulenwitz. Da wird sich arrangiert: Es müsse ja nicht unbedingt sein, Hand in Hand zum Gottesdienst zu gehen. Wie gucken denn dann die Leute? Da wird geheimgehalten: „Im Kirchenchor, da sage ich nicht, wer die Frau, mit der ich zusammenlebe, wirklich ist.“ Da wird heruntergespielt: Nein, es macht dem jungen Schwulen nichts aus, dass er im Bibelkreis nicht so wie alle anderen von seiner ersten Liebe berichten kann. Oft folgt dann noch der Hinweis, früher oder in anderen Ländern, wo Homosexuelle verfolgt, gar getötet werden, ja, da ging und geht es ihnen schlecht, aber heute, hier bei uns?
Wenn ich Menschen treffe, die so oder so ähnlich von ihrer Lebenssituation erzählen, frage ich mich häufig, ob es ihnen nicht vielleicht so geht wie dem kleinen Jungen. Ob es nicht eigentlich doch weh tut, über die eigene Demütigung zu lachen, die Partnerin oder den Partner zu verleugnen und in der Gemeinde über Liebesgefühle schweigen zu müssen. Und ich frage mich, ob die Angst vor dem Schmerz und die Furcht vor der möglichen Demütigung wegen dieses Schmerzes so überwältigend ist, dass Menschen ihre Seele deshalb lieber versuchen zum Schweigen zu bringen.
Wir leben ja in einer Gesellschaft, die alles dafür tut, Gedanken an Schmerzen, Verwundungen und Ohnmacht zu verdrängen. Der Mensch soll aktiviert werden, sich selbst zu helfen, die Zähne zusammenbeißen, Handlungsfähigkeit demonstrieren, bloß nicht aufgeben. Wer da nicht mitspielt, der wird ausgeschlossen, muss unmöglich gemacht werden, weil er eine Antithese zu dem vermeintlich so schönen Märchen vom unbesiegbaren menschlichen Kampfgeist darstellt. Bestes Beispiel dafür ist die Bedeutungswandlung des Wortes „Opfer“. War hiermit bislang ein Mensch gemeint, der zu Schaden gekommen ist, steht die Bezeichnung heute eher für einen Verlierer, eine Loserin, jemand Verächtlichen.
Wie gut ist es da, dass Jesus Christus einen Kontrapunkt setzt! Jesus war und ist das größte Opfer aller Zeiten. Und dieses Opfer hat uns befreit. Befreit, ihm nachzufolgen. Nachzufolgen indem wir sein Leben und sein Leiden zum Vorbild für unser Dasein erheben. Die Vorstellung, ein Opfer zu sein macht wirklich Angst. Es ging Jesus nicht anders, als er seinen himmlischen Vater im Garten Gethsemane „mit Zittern und Zagen“ bat, den Kelch des Leids doch an ihm vorübergehen zu lassen. Natürlich wollte er nicht leiden, natürlich wollen wir nicht leiden, aber das liegt - und hier widersprechen wir Christ_innen dem weltlichen Dogma - essentiell nicht in unserer Hand! Über Leiden oder nicht entscheidet Gott. Aber er tut noch mehr. Er lässt uns mit dem Leid nicht allein. An Jesu Passion können wir uns das gewiss machen: In aller Ohnmacht, in allen Schmerzen und in allem Spott, sogar bis in den qualvollen Tod ist Gott bei ihm gewesen, wird er bei uns sein. Er ist der liebendende Vater, der das weinende geohrfeigte Kind in die Arme nimmt und wirklich trösten kann.
Deshalb, weil wir uns gewiss darüber sein dürfen, dass der liebende Vater immer anwesend ist, können wir es wagen, Opfer zu sein, unsere Wunden anzuschauen. Und ich bin überzeugt, in diesem sicherlich nicht schmerzlosen Gewahrwerden liegt großer Segen. Denn ja, nicht alle Wunden werden auf dieser Erde geheilt, nicht allen Opfern widerfährt im Irdischen schon Gerechtigkeit, und doch ist es möglich. Aber eben erst da, wo wir von den Wunden wissen. Abgedeckte Wunden werden eitern und zu Krankheit und Tod führen, nur die Wunden, die wir ans Tageslicht lassen, können heilen. Auch als Lesben und Schwule können wir erst dann, wenn wir wissen, was uns wirklich schmerzt, im Vertrauen auf Gott für Gerechtigkeit kämpfen.
Sicher wird es immer Menschen geben, die unsere Schreie, unsere Tränen, unsere Schmerzen verspotten. Auch hier geht es uns nicht anders als Jesus am Kreuz, der von den Soldaten verhöhnt wurde, als er vor Schmerzen schrie. Da die Heeresmänner seine Klage als Anklage gegen sich, die ihn dort festgenagelt hatten, verstehen mussten, konnten sie diese nicht ertragen. Es machte sie aggressiv, weshalb sie ihr Opfer, um sich gegen das unerträgliche fremde Leiden zu wehren, verspotteten. Nichts anderes passiert, wenn Lesben und Schwulen aufgefordert werden, über ihr Leiden zu schweigen. Denn die Wunden der Homosexuellen sind in dieser Hinsicht nicht anders als die Wunden Christi: Sie klagen an. Sie sagen: „Da ist etwas nicht in Ordnung, in Eurer Stadt, in Eurer Landeskirche, in Eurer Gemeinde, in Eurem Hauskreis.“ Daher fordern gerade die, die das Leid verursachen, so oft am lautesten: „Macht Euch nicht zum Opfer!“ oder „Hört auf zu jammern!“. Aber das geht nicht, denn wir sind von Gott berufen, genau das zu tun, weil unser Klagen einer der Stachel ist, an dem der Leib Christi heil werden kann.
Ich wünsche uns an diesem Karfreitag, dass wir den Mut finden, das Wunder, das am Kreuz geschah, für uns anzunehmen und Jesus nachzufolgen. Jesus, heute schauen wir auf Dich an Deinem Kreuz „und schöpfen draus die Zuversicht, dass du uns wirst verlassen nicht, sondern ganz treulich bei uns stehn, dass wir durchs Kreuz ins Leben gehn.“ (Christoph Fischer)