Eine energische Frau trat ans Mikrofon. Kämpferisch und zugleich mit ruhiger und eindringlicher Stimme. Es war in einem Kulturzentrum in Hamburg im Jahr 1988. Nur mit Mühe hatte ich mit ein paar Freundinnen einige Restkarten ergattert. Ich wollte Audre Lorde unbedingt sehen und hören.
Und ich bereute es nicht. Audre Lorde beeindruckte mich live genauso wie in ihren Gedichten, die ich Ende der achtziger Jahre als Studentin der Theologie und Diplompädagogik in Hamburg verschlungen habe. Schwarze Leinenhosen und Leinenbluse, darüber eine bunte Stola aus der Karibik. So begrüßte sie uns. In meiner Erinnerung sehe ich sie, als sei es gestern gewesen: Präsent, willensstark und verletzlich zugleich. Beeindruckt hat sie mich, weil sie kein Blatt vor den Mund genommen hat. Weder in ihren Gedichten noch in ihren Vorträgen. Gewehrt hat sie sich gegen dogmatische Kategorisierungen, gegen Etikettierungen und Stereotypen. Sie war eine schwarze Frau, die Frauen liebte. Sie war verheiratet, war Mutter und hatte zwei Kinder. In New York war sie aufgewachsen. Aber ihre Eltern kamen aus Grenada, einer westindischen Insel. Ihre Mutter erzählte ihr die Geschichten dieser Insel, die ihre Fantasie beflügelten und ihr ein literarisches Zuhause gaben. Lorde kämpfte gegen Rassismus, den sie in New York zurzeit der schweren wirtschaftlichen Depression erlebt hatte. Aber sie kämpfte auch gegen die Homophobie einer scheinheiligen bürgerlichen Gesellschaft, die Homosexualität damals wahlweise noch als krankhaft, sündig oder kriminell bezeichnete. Gleichzeitig wehrte sie sich gegen die Skepsis einiger schwul-lesbischer Kreise, die in den siebziger und achtziger Jahren misstrauisch auf eine verheiratete Mutter von zwei Kindern blickten, die sich selbst als lesbisch bezeichnete.
Lorde passte in keine Schubladen, und sie wehrte sich leidenschaftlich gegen dieselben. Noch bevor in der Wissenschaft der Terminus Intersektionalität erfunden wurde, lebte sie ihn bereits und schrieb darüber. Sie machte klar, dass es nicht nur den einen Kampf um ein Thema gebe, denn Menschen lebten auch nicht nur ein Leben rund um ein Thema. Vielmehr müssten Menschen ihre vielfältigen Zusammenhänge, Kontexte, Netzwerke, Lebensthemen und Sorgen ernst nehmen und respektieren, statt sich gegenseitig abzuwerten und sich in Schubladen pressen zu lassen.
Audre Lorde hat mich als Studentin nachdenklich gemacht und stark geprägt. Sie führte mir mit ihren Gedichten und Vorträgen vor, dass sogenannte Minderheitengruppen selbst gefährdet sind, andere auszuschließen und sich gegen die "Anderen" abzugrenzen. Sie hat gegen das trügerische Schweigen angeschrieben und mich ermutigt zu mir selbst zu stehen als Frau, die Frauen liebt, als Theologin, Seelsorgerin und Wissenschaftlerin.
Sie zeigte mir, wie wichtig es ist jenseits von Schubladen und begrenzenden Normierungen mit anderen zusammen für die eigene Vision einzustehen: Für einen Traum von Gerechtigkeit und Würde für alle Menschen, jenseits von Hautfarbe, Herkunft, Religion, sexueller Orientierung und Genderidentitäten.