Ich fühle mich feige, als ich beim Podium "Vertrauen und Vertrauensmissbrauch - Sexuelle Gewalt: genau hinhören - was bedeutet das?" sitze.
Schon vor einem Jahr hatte mir Kerstin Claus, eine Betroffene von sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche, gesagt: Jeder sollte in den Institutionen, mit denen er zu tun hat, danach fragen, welche Konzepte es zum Schutz für Kinder gibt und wie diese im Ernstfall umgesetzt werden.
Nun sagt sie es auf diesem Podium wieder und macht deutlich, wie selbstverständlich uns die Frage nach dem Schutz vor sexualisierten Übergriffen fallen sollte: "Man darf doch auch nach einem Brandschutzplan fragen."
Mir mangelt es an Zivilcourage, was sexualisierte Gewalt angeht. Das Unglück: Ich bin kein Einzelfall. Ich habe mir vor ein paar Monaten überlegt, dass ich bei meinem Sohn in der Kita und meiner Tochter in der Grundschule dringend nachfragen muss, ob es bei Verdachtsfällen von sexualisierter Gewalt Prozesse gibt, die einsetzen, wenn Übergriffe bekannt werden.
Dann stellte ich mir vor, wie ich auf dem ersten Elternabend meiner Tochter danach frage. Ich sehe Stirnrunzeln vor meinem geistigen Auge, ich lese Gedanken, wie: "Bisschen hysterisch", oder: "Bald haben wir hier amerikanische Verhältnisse". Ich könnte einen schlechten Eindruck hinterlassen, mich verlässt der Mut. Ich fragte nicht danach - auch aus Faulheit. Dauert ja eh schon lange so ein Elternabend nach der Arbeit. Da wollte ich dann nicht noch nerven.
Erziehungswissenschaftlerin Sabine Maschke hat in einer rerpäsentativen Befragung im Auftrag des hessichen Bildungsministeriums herausgefunden: In jeder deutschen Schulklasse in der Mittelstufe gibt es ein bis zwei Schüler, die sexualisierte Übergriffe erleiden. 70 Prozent aller befragten Jugendlichen wissen von sexualisierter Gewalt in ihrem Umfeld. Förderschüler sind doppelt so häufig von Übergriffen betroffen. Heute, nicht in grauer Vorzeit. Immer schon - nicht aufgrund eines Zeitgeistes, nicht wegen Liberalismus, nicht wegen Konservatismus. Es ist schlicht die mangelnde Empathie, die mangelnde Ausdrucksfähigkeit einer ganzen Gesellschaft.
Maschke zeigt das gesamtgesellschaftliche Versagen deutlich auf: Es fehlen uns die Worte. Ein betroffenes Kind versuche im Durchschnitt sieben bis acht Mal zu erzählen, was ihm widerfährt. Aber die Erwachsenen hörten ihm nicht zu. Umso älter Menschen werden, umso schwerer werde es, das Schweigen zu durchbrechen.
Kinder und Jugendliche müssten lernen, was Grenzverstöße sind und an wen sie sich wenden können, wenn sie einen solchen erleiden. Ein offenes Sprechen über sexualisierte Gewalt ist auch das, was die evangelische Kirche, was ihre 20 Landeskirchen lernen müssen. Leitende Kirchenbeamte müssen Vorbild sein, damit die Gemeinden wissen, woran sie sind. Damit Betroffene gehört werden, braucht es klare Regeln, klare Zuständigkeiten, etwas, woran sich alle orientieren können - einen Brandschutzplan eben. Angestoßen ist dieser Prozess seit der Synode 2018.
Zwei gute und umsetzbare Vorschläge kommen von Detlev Zander, der als Kind im evangelischen Kinderheim Kloster Korntal jahrelang vergewaltigt worden ist: "Nehmen Sie einen Betroffenen oder eine Betroffene mit in Ihren EKD-Beauftragten-Rat zum Schutz vor sexualisierter Gewalt auf", sagt er, und: "Schließen Sie einen Koalitionsvertrag mit Betroffenen, was Sie als Kirche angehen wollen."
Was jetzt schon Hoffnung macht: Heute, das zweite Mal innerhalb eines Monats, sitzen Vertreter der evangelischen Kirche mit Betroffenen auf einer öffentlichen Bühne und sprechen über das Versagen der Menschen in der Institution Evangelische Kirche.
Es ist noch längst nicht alles geklärt. Aber die Qualität des Gesprächs macht Mut. Und auch das Interesse: Nur wenige Plätze im großen Saal der Oper Dortmund blieben frei.
Und mich persönlich bestärkt es auch, beim nächsten Elternabend doch noch nachzufragen.