Es beginnt mit einer Zeitreise. Horst Köhler, ehemaliger Bundespräsident, entführt das Publikum auf eine Reise ins Jahr 2050: Nordafrika versorgt ganz Europa mit Solarstrom, Silicon Savannah ist der Technologie- und Innovationsmotor Afrikas, Mitteleuropäer tragen Mode von Designern aus Westafrika, Senegal ist Fußballweltmeister, Malaria ist bekämpft dank der Erkenntnisse afrikanischer Forscher, das Mittelmeer ist kein Massengrab mehr, sondern ein produktiver Kulturraum. „Auf Kirchentagen darf man träumen“, holt Köhler das Publikum wieder zurück in die Realität.
Auf dem Podium „Europa und Afrika: Meer-Nachbarschaft – Mehr als Migration“ versuchten die Teilnehmenden das verkorkste Verhältnis der beiden Kontinente aufzudröseln. Auf der einen Seite das paternalistische Europa, das (oft aus schlechtem Gewissen) so gerne helfen möchte, aber auch nicht so genau weiß wie. Auf der anderen Seite das junge, dynamische, aufstrebende Afrika, das immer noch an den Folgen der Kolonialzeit, Korruption und einem unfairen Weltmarkt zu knabbern hat.
Horst Köhler forderte in seinem einleitenden Vortrag zunächst vier Weichen zu stellen:
- Afrika als Partner anzuerkennen und den postkolonialen Überlegenheitsgestus abzulegen.
- Die wirtschaftliche Transformation Afrikas und den Strukturwandel in Europa im Zusammenhang zu sehen: Also investieren, neue Märkte erschließen, einen gemeinsamen Wirtschaftsraum etablieren und Wachstum fördern, statt auf immer neue Arten ökonomische Ausbeutung durch die Hintertür zu betreiben.
- Die Jugend Afrikas als Machtfaktor im 21. Jahrhundert anzuerkennen. Ihre Energie und ihren Wissensdurst zu nutzen.
- Das neue Selbstbewusstsein Afrikas akzeptieren.
Afrika habe das Potential für eine gute Entwicklung. „Lassen sie uns nicht bis 2050 warten, um daran mitzubauen!“, rief Köhler auf.
"Es ist die richtige Zeit, etwas zu tun"
Die Podienteilnehmenden Sabine Lösing (Die Linke), MdEP aus Göttingen, Ellen Johnson Sirleaf, Friedensnobelpreisträgerin und ehemalige Präsidentin Liberias, Dr. Fidon Mwombeki, Generalsekretär der Gesamtafrikanischen Kirchenkonferenz, Thomas Schäfer, Vorstandsvorsitzender von VW Südafrika und Sub-Sahara-Afrika sowie Christos Stylianides, EU-Kommissar für humanitäre Hilfe und Krisenschutz trugen im Anschluss ihre Thesen zum Verhältnis Europa-Afrika vor.
Auf die große Frage, wann Afrika entwicklungstechnisch denn nun endlich mal zu Potte komme, antwortete Johnson Sirleaf, dass sich Europa auch nicht in zwei Jahrzehnten entwickelt habe. Man mache gute Fortschritte, einige Länder seien deutlich weiter als andere. „Heute sind wir selbstbewusst; ich glaube heute sind wir über den Punkt hinaus, dass wir eine Zukunft vor uns haben, die von anderen diktiert wird“, führte Johnson Sirleaf aus.
Für EU-Kommissar Stylianides gab es ein Patentrezept, um die Entwicklung zu fördern: PPPs – Private-Public-Partnerships, also eine Zusammenarbeit zwischen privatwirtschaftlichen Unternehmen und dem öffentlichen Sektor. Johnson Sirleaf stimmte ihm indirekt zu, es bräuchte vor allem private Investitionen und Instrumente, die das Risiko für die Investoren verringern, damit sie sich trauen, ihr Kapital einzubringen.
Schäfer von VW, der einzige privatwirtschaftliche Vertreter auf dem Podium erzählte dann, was VW so macht: Werke bauen, die vor Ort produzieren. Ein großes Problem sei, dass beispielsweise 2014 außerhalb von Südafrika lediglich 323 neue VW verkauft wurden. Es gebe einfach zu viele Gebrauchtwagen, die aus Europa und Asien importiert würden. Außerdem sei die Kraftstoffversorgung völlig veraltet und für Neuwägen ungeeignet. Deswegen setzt VW wohl verstärkt auf E-Autos. Weitere Produktionsstätten sind in Nigeria und Ruanda geplant. Seinen Vorrednern und Vorrednerinnen schloss er sich an: „Es ist der richtige Zeitpunkt, in Afrika etwas zu tun.“
Und was ist mit China?
Lösing setzte sich für eine humane Migrationspolitik ein und stellte sich vehement gegen militärische Einsätze, wie etwa in Mali: „Das hat nichts mit wertebasierter Politik zu tun und hilft nicht, wirtschaftliche Probleme lösen.“ Auch Horst Köhler plagten Zweifel hinsichtlich der Kriminalisierung der Seenotrettung: „Ich bin besorgt, dass wir unseren eigenen Kindern vermitteln, dass es eine große Kluft gibt, zwischen den Werten, die wir ihnen mit auf den Weg geben und den Toten im Mittelmeer und in der Sahara. Wir werden unglaubwürdig.“
Das Publikum interessierte sich für die Rolle, die China als Großinvestor seit einigen Jahren in Afrika spielt. Johnson Sirleaf brachte das Thema mit dem vielleicht aussagekräftigsten Statement des Abends auf den Punkt: „China ist in Afrika so präsent, weil Europa nicht da ist.“ Mwbombeki führte aus: „Die Chinesen sind sehr erfolgreich in der Industrialisierung Afrikas, weil sie wissen, in welche Sektoren sie investieren müssen. Sie produzieren Dinge, die jeder braucht: Kosmetik, Reifen und andere Alltagsgegenstände.“
Faire Handelsabkommen könnten auch ein Lösungsansatz für eine stabilere Wirtschaft sein, warf Lösing ein. Die derzeitigen krankten daran, dass afrikanische Länder zwar Rohstoffe und Lebensmittel nach Europa verkaufen dürfen, aber nur, wenn sie nicht weiterverarbeitet sind. Als Beispiel nannte sie die Ananas. „Die darf importiert werden. Aber nicht der Ananas-Saft. Der wird in Europa gemacht und wieder nach Afrika gebracht. Die Wertschöpfung geschieht vollständig in Europa, nicht in Afrika. Wertschöpfung muss in Afrika von statten gehen! Das wäre eine Veränderung der Geschichte der Ausbeutung.“
Und wie könnte es nun aussehen, das neue Verhältnis zwischen Europa und Afrika? Horst Köhler versucht einen Aufschlag. Der erste Schritt müsse sich im Kopf vollziehen: „Zeigen wir Afrika Respekt, weil wir diesen Kontinent für unsere Kinder und Enkel auch brauchen. Wir müssen entschlossener das unterstützen, was Afrika selbst anpackt. Es wächst das Bewusstsein, dass wir unser Verhältnis überdenken müssen.“ Und das ist ja der erste Schritt, um eine Beziehungskrise zu lösen. Vielleicht braucht es dann irgendwann gar keine verträumten Zeitreisen mehr, weil die Realität dann schon weiter ist.