Die Führung beginnt am Gedenkstein für die alte Synagoge, von den Nazis schon vor der Reichspogromnacht abgerissen. Aber in dieser Führung geht es nicht um das Früher. Es geht darum, wie rechte Gewalttäter heute versuchen, eine ganze Stadt in Geiselhaft zu nehmen. Dortmund gilt – neben Berlin – als zweiter Schwerpunkt für Nazi-Aktivitäten. Weil sie brutal und hemmungslos vorgehen, sind die Rechtsextremen gefährlich – auf andere Weise als die AfD, die deren Menschenverachtung in die Mitte der Gesellschaft zu tragen versucht.
Über 100 Interessierte sind der Einladung des Arbeitskreis „Christen gegen Rechtsextremismus“ zur Führung gefolgt. Etwa 100 Mitglieder engagieren sich in dem Dortmunder Arbeitskreis. Warum er nötig ist? Weil die Nazis in Abrede stellen, dass alle Menschen als Ebenbilder Gottes gleich geschaffen sind. Damit greifen sie das Christentum direkt an, sagt Friedrich G. Er führt zusammen mit einer jungen Studentin, Jana W..
Wie Nazis Bürger einschüchtern
Und er bittet darum, ihre Namen bei einer Veröffentlichung im Internet nicht vollständig zu erwähnen. Nazis sammeln Namen, stellen sie mit Adressen ins Netz und betreiben regelrechte Hetzjagden auf unbescholtene Bürger. Wie bei jenem Paar, das von einem Spieleabend heim in ihre Wohnung in Dortmund-Dorstfeld lief. Sie sahen eine Wahlwerbung der rechtsradikalen Partei „Die Rechte“ auf dem Boden liegen, betrachteten das Plakat, liefen weiter. Nazis nahmen die Verfolgung auf, bis eine Gruppe sie umzingelte, die Polizei rief und die beiden anzeigten, sie hätten ein Wahlplakat beschädigt. Während die Polizei die Vorwürfe aufnahm, fotografierten die Nazis die Szene. Die Anzeige wurde nicht weiterverfolgt. Aber kurze Zeit später wurden die Facebookprofile der beiden Anwohner aus Dorstfeld mit Naziseiten verlinkt. Dazu gab es Kommentare, wie: „Warum ruft ihr die Polizei. Für so etwas habe ich eine Sturmhaube dabei. Da bleibt man unerkannt und hat noch Spaß dabei.“
So wollen Nazis den Anwohnern aus Dorstfeld signalisieren: In diesem Stadtteil haben wir das Sagen. Der Arbeitskreis Christen gegen Rechtsextremismus setzt sich zur Wehr, auch dadurch, dass er auf dem Kirchentag auf seine Arbeit aufmerksam macht.
Acht Stationen hat die Führung. Sie wird am Freitag und Samstag jeweils ab 11 und ab 15 Uhr wiederholt und ist absolut empfehlenswert. Treffpunkt ist der Gedenkstein alte Synagoge am Platz der Alten Synagoge.
Wie Dortmunder sich den Nazis entgegenstellen
Schon die zweite und dritte Station zeigen, wie Nazis heute den öffentlichen Raum okkupieren: Mit zahlreichen Demonstrationen, Infoständen und Aktionen wollen sie provozieren und Aufmerksamkeit erlangen. Am 11. Juni 2013, während eines Festaktes in der Industrie- und Handelskammer stellte sich eine kleine Gruppe Nazis an der gegenüberliegenden Straßenseite (dritte Station des Rundgangs) mit einem Transparent auf: „Unser Widerstand gegen euren Präsidenten“. Womit sie ihre Ablehnung der demokratischen Grundordnung und ihren Institutionen kundtat. Gegenüber (zweite Station des Rundgangs) hatten sich weitaus mehr Dortmunder Bürger aufgestellt. Keine öffentliche Aktion der Nazis soll unwidersprochen bleiben.
Am Rathaus (4. Station) erklärt Jana W. , wie der bundesweit bekannte Nazi Siegried Borchardt (genannt „SS-Siggi“) sich bei der Kommunalwahl (dort gibt es keine 5 Prozent-Hürde) sich als Vertreter von „Die Rechte“ in den Dortmunder Stadtrat wählen ließ. Er trat nach zwei Monaten zurück und überließ einem anderen Nazi das Mandat. Mit bis zu 50 Anträgen pro Sitzung wollte er die Arbeit des Stadtrates lahmlegen, eine weitere zerstörerische Arbeitsweise der Rechtsextremen. Unter anderem stellte er provokante Anfragen: Wie viele AIDS-Kranke gibt es in Dortmund, welcher Nationalität? Wie viele Juden leben in Dortmund und in welchen Stadtteilen? Letztere Anfrage sollte an die NS-Listen über Juden erinnern, eine symbolgeladene Botschaft an die eigenen Leute.
Wie Nazis die Reinoldikirche für eine Provokation okkupierten
An der Reinoldikirche (5. Station) verschafften sich Nazis während des Weihnachtsmarktes 2016 Zugang zum Turm, sperrten sich ein und entrollten das Banner: „Islamisierung stoppen“. Da ihnen nicht beizukommen war, ließ die Pastorin die Glocken läuten, was auf dem Turm sehr laut ist. Die Polizei öffnete schließlich die Tür mit Gewalt. Die Nazis erstatteten Anzeige wegen Körperverletzung gegen die Pastorin.
Am Kreisel der Kampstraße, die nach Dorstfeld hinaus geht, erzählt Friedrich F., wie die örtlichen Nazis in Dorstfeld dem jungen Paar Gewalt androhen (mehr dazu: siehe oben). Und wie sich die Zivilgesellschaft wehrt. Eine uniformierte Taskforce patrouilliert im Stadtteil. Eine Soko der Polizei hält seit 2015 den Ermittlungsdruck hoch. Der Arbeitskreis „Christen gegen Rechtsextremismus“ berät Opfer und Aussteiger.
Wie Nazis dem Polizeipräsidenten Mord androhen
Am U-Bahnhof Kampstraße (6. Station) ermordete der 17-jähriger Dortmunder Skinhead Sven Kahlin den Punker Thomas Schulz (31) – nachdem er ein Dreivierteljahr zuvor in einem Regionalzug einen Punk mehrmals ins Gesicht geschlagen hatte. Kahlin bekam sieben Jahre Haft, schrieb aus dem Gefängnis über Nazi-Website Grüße an Kameraden und wurde nach fünf Jahren wegen guter Führung entlassen. 2011 griff Kahlin türkische Jugendliche auf dem Weihnachtsmarkt an: 21 Monate Haft.
An dieser Station spielt Friedrich G. auch vom Band vor, wie sich eine Nazi-Demo anhört. Unter anderem drohen die aggressiven Männerstimmen: „Gregor Lange, aus der Traum, bald liegst du im Kofferraum“ – eine Anspielung an den 1977 von der RAF ermordeten Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer. Diese offenkundige Morddrohung gegen den Dortmunder Polizeipräsidenten gilt als strafrechtlich nicht verfolgbar. Agieren an der Grenze dessen, was erlaubt ist – auch das ist eine Nazi-Strategie.
Querverbindungen zu den Morden des NSU
Am Mahnmal, das an die NSU-Morde erinnert, zählt Jana W. die Querverbindungen auf, die bekannterweise zwischen dem NSU und der Dortmunder Naziszene bestehen. Der Mord an Mehmet Kubasik am 4. April 2006 wurde in derselben Straße verübt, in der frühere Stadtrat Siegried Borchardt lebt, ebenso Brieffreunde von Beate Zschäpe. Von hier aus sind ähnliche Verbindungen zur Kasseler Naziszene zu ziehen. Zwei Tage nach Mehmet Kubasik wurde in Kassel Halit Yozgat ermordet. Gegen keine dieser in Dortmund und Kassel bekannten Nazis wurde Anklage erhoben.
Aber der Arbeitskreis Christen gegen Rechtsextremismus kann auf dieser Führung glaubhaft machen: Dortmund wehrt sich.