Vorm Mallinckrodt-Gymnasium am Südrandweg 2-4 bilden sich Schlangen. Zu den Veranstaltungen im Workshophaus ist die Zahl der Teilnehmenden begrenzt. Workshop geht eben nur mit 30 Leuten.
In Raum 129 bereitet Dr. Andreas Fisch seine Beamerpräsentation vor. Er referiert seit 20 Jahren über Flüchtlingspolitik am Wirtschaftsinstitut der „Kommende Dortmund“, dem Sozialinstitut des Erzbistums Paderborn. Andreas Fisch muss sich nicht nur auf seine Vorträge gut vorbereiten, sondern auch auf die Gegenmeinungen, die danach geäußert werden, und oft kommen da populistische Parolen hoch. Fisch fehlt es nicht an Übung, klug darauf zu reagieren.
Mittlerweile gibt er sein Wissen sogar an Lehrer und Lehrerinnen weiter, die im Klassenzimmer mit rechtspopulistischen Meinungen konfrontiert werden. Dazu eine kleine Geschichte: Ein Schüler provoziert den Lehrer mit einer Holocaustäußerung. Der Lehrer springt darauf an. Die Stunde ist gelaufen. Der Lehrer vergisst, Hausaufgaben zu geben. Die Sache ist erfüllt, und der Provokateur geht als Sieger vom Platz. Andreas Fischs Rat an den Lehrer: „Frag den Schüler zurück, ob er seine Hausaufgaben gemacht hat.“ Ist das nicht der Fall, hat der Lehrer die Lacher auf seiner Seite.
Die 30 Teilnehmer, die heute zu seinem Workshop erscheinen, sind zur Hälfe Teens und Twens, kluge Jugendliche. Ein junger Mann schafft es etwa im Laufe des Workshops, mit wenigen Worten präzise die Wirkung von Ich- und Du-Botschaften zu unterscheiden.
Die Frau, die den Supermarkt mied
11 Uhr. Es geht los. Fisch steigt mit einem Graffito von Banksy aus dem Flüchtlingslager von Calais ein. Es zeigt Steve Jobs, der – wie ein Vertriebener – einen Sack in der einen Hand trägt und einen alten Rechner in der anderen. „Jobs ist Sohn eines syrischen Einwanderers in den USA“, sagt Andreas Fisch. „Man sagt immer, die Flüchtlinge würden ihre Begabungen einbringen. Und mir war lange nicht klar, was das bedeuten kann.“
Andreas Fisch kommt ins Erzählen. Zum Beispiel diese Geschichte: In einem Dorf habe es mehr Flüchtlinge als Dorfbewohner gegeben. Die AfD verbreitete, die Frauen trauten sich nicht mehr in einen Supermarkt wegen des Asylbewerberheims. Ein Journalist recherchierte nach, fragte den AfD-Vertreter, wen er meine. Der Mann nannte eine Frau. Der Journalist fuhr hin und fragte die Frau, ob sie früher in dem Supermarkt eingekauft habe. – Ja. – Ob sie es jetzt nicht mehr tue. – Nein. – Ob sie den Markt wegen des Asylbewerberheims meide? – Ja. – Weil sie befürchte, von den Asylbewerbern angegrapscht zu werden? – Nein, sagt die Frau.
„Was ist schiefgelaufen?“, fragt Fisch. „Der Journalist unterstellte etwas, das der AfD-Mann gar nicht gesagt hatte. Die Frau mied den Supermarkt, weil die Schlange an der Kasse wegen der Asylbewerber länger sei, als die im Nachbardorf.
Die blutende Leiche
Andreas Fisch wirft ein Hegel-Zitat an die Wand. „Wenn die Vorstellung stark genug ist, hält die Realität nicht stand.“ Seine Beispielgeschichte dazu. Ein Mann hält sich für eine Leiche. Er geht zum Arzt. Der Arzt sagt: „Leichen bluten nicht.“ Der Mann stimmt zu. Der Arzt sagt: „Darf ich Ihnen in den Finger stechen?“ Der Mann stimmt zu. Ein Blutstropfen quillt heraus. Der Mann sagt: „Herr Doktor, Leichen bluten doch.“
Später spielt Andreas Fisch einen kleinen Trailer von der ARD-Sendung Panorama ein. Ein AfD-Politiker erzählt vor laufender Kamera von einer Vergewaltigung, kann aber nicht sagen, woher er die Information darüber hat. Später entschuldigt er sich gegenüber der Panorama-Redaktion: Der Fall habe so nie stattgefunden, aber bestimmt viele andere. – Die blutende Leiche.
Fisch macht das gut. Bildlich erzählen, eigene Erfahrungen beisteuern, Reaktionen abwarten, Schlüsse ziehen. Erste Regel. „Fakten überzeugen nicht“, sagt Fisch. „So rational ist keiner von uns.“ Zweite Regel: Wenn man emotional allzu sehr involviert ist, am besten gar nicht reagieren. Das gehe meistens schief. Dritte Regel: Wertschätzend antworten, nie aufbrausen.
Was stellen Sie sich unter einer Feder vor? Die Leute denken nach. Fisch beamt Bilder an die Wand: Vogelfeder, Pfauenfeder, Kugelschreiberfeder, Schreibfeder, Nut und Feder – jeder stellt sich unter einem Wort was Anderes vor. Vierte Regel. Wenn Leute über Integration reden, lohne es sich nachzufragen, was genau sie meinen. Sonst rede man lange, ohne einen Schritt voranzukommen.
Missverständnisse
Es ist viel Stoff, und Andreas Fisch redet viel. Es scheint unvermeidlich, wenn man in zwei Stunden so ein schwieriges Thema wie Kommunikation behandeln will. Manchmal helfen dabei Typisierungen.
Andreas Fisch stellt drei Typen von Gesprächspartnern vor. Betroffene knüpfen an Erfahrungen an, die man erst verstehen muss, bevor eine Verständigung möglich ist. Einseitige, die aus Desinformation oder mit einseitiger Information Parolen von sich geben, kann man irritieren, man kann versuchen falsche Fakten zu widerlegen, was nicht immer leicht ist. Man sollte aber wissen: Werthaltungen kann man nicht überlegen. Wer keinen Ausländer in seiner Umgebung haben will, den kann man nicht widerlegen. Man kann nur eine Gegenposition deutlich machen.
Und wie kommt man gegen den Demagogen an?
Aber all das helfe beim dritten Typus nicht: dem Demagogen. Wer sich auf eine Diskussion einlässt, gibt ihm nur Raum für mehr vergiftete Thesen und Parolen. Wann aber ist die Grenze überschritten, dass es sich tatsächlich um einen Demagogen handelt? Die Teilnehmer sollen sich über die Frage austauschen.
Die Teilnehmer raten: Wenn jemand laut wird. Wenn er monologisiert. Wenn Alkohol im Spiel ist. – Fisch schreibt die Stichpunkte am Flipchart mit und geht sie anschließend durch. Er habe noch nie erlebt, dass Björn Höcke, ein Demagoge aus der AfD, laut werde. Ein Monolog müsse nichts Schlechtes sein, fährt er fort, dahinter könne auch eine starke Erfahrung stehen. Und Alkohol mache noch nicht den Demagogen.
Aber dass jemand mit seiner Körperhaltung aufdringlich werde, zu nahekomme – dagegen müsse man Regeln setzen: Abstand halten! Wie es Gesprächsregeln überhaupt wichtig sind: Beim Thema bleiben und nicht immer auf ein neues Feld ausweichen lassen!
Und dass jemand kein Interesse an einer sachlichen Lösung zeige - dieses Stichwort am Flipchart kreist Fisch ein. Wer es mit einem Demagogen zu tun habe, müsse vor allem versuchen, das Gespräch zu beenden – ohne dass man als Opfer aus der Situation herausgehe. Demagogen wollten ein Podium für ihre Meinung haben, sie wollten keinen Austausch darüber.
Rassismus im Familienchat
Das war jetzt über eine Stunde Vorrede. Leider bleibt nicht mehr annähernd so viel Zeit für die eigenen Erfahrungen. Eine junge Frau erzählt, in ihrer Whatsapp-Gruppe, einem Familienchat mit 30 Teilnehmenden, kamen rechtspopulistische Sprüche, darunter ein Text mit vielen Zitaten, unterstützt mit Smileys. Zum Beispiel: „Deutschland ist, wenn du dich als Arbeitssuchender ausweisen musst, aber als Ausländer keinen Ausweis brauchst“ – unterstützt mit einem Smiley mit dunkler Einfärbung. Die Teilnehmerin hat lange überlegt, ob sie überhaupt reagieren solle. Es ist die Familie ihres Mannes – auch das war eine Überlegung dabei. Kinder sind in der Gruppe.
Andreas Fisch fragt: „Welches Ziel haben Sie?“ Er gibt ein paar Möglichkeiten vor. „Ich möchte, dass das Gerede aufhört. Ich möchte, dass die anderen anders denken. Ich möchte, dass die anderen meine Meinung wissen. Ich möchte, dass ich mit der Familie meines Mannes weiterhin klarkomme. – Je nach dem, was Sie wollen, müssen Sie unterschiedlich vorgehen.“
Für die letzte Möglichkeit schlägt Fisch vor: Man könne ja der Gruppe sagen, „Ihr wisst, dass ich anders darüber denke. Bitte lasst solche Äußerungen in diesem Familienchat. Mir ist es wichtig, dass wir zusammenhalten und uns deswegen nicht zerstreiten.“ Eine wertschätzende Antwort, die aber die eigene Position nicht verhehlt.
Die eigene Meinung klarstellen
Es wäre aber auch hilfreich, die eigene Meinung mitzuteilen. Gerade das ständige Wiederholen von Vorurteilen führe dazu, dass sich falsche Tatsachenbehauptungen durchsetzen. Wer nur hört, man dürfe Ausländern nicht vertrauen, denke irgendwann: Es wird ja schon was dran sein. Da sei es wichtig, Fakten dagegen zu setzen. Wer Statistiken korrekt liest, weiß, dass Ausländer nicht häufiger kriminell werden als andere.
Wichtig sei es, ruhig zu bleiben. „Mit wem solidarisieren sich die anderen, die Zuhörenden?“, fragt er in die Runde. – Mit dem, der sachlich ist. Wer aber überheblich erscheint, verliert die Empathie der Unbeteiligten.
Die Teilnehmerin erzählt, wie ihre Geschichte mit dem Gruppenchat ausging. Sie habe nicht reagiert, aus Ratlosigkeit. Später habe ihr Mann es getan, gut, wie sie findet. Er habe gesagt, solche Behauptungen gehörten nicht in die Whatsapp-Gruppe, zumal auch Kinder dabei seien. Und es sollte auch jedem klar sein, was er mit solchen Beiträgen auslösen könne. Zwei Chatmitglieder traten daraufhin aus der Gruppe aus.
Drei weitere Teilnehmer erzählen ihre Geschichten. Zehn Minuten bleiben für eine Gruppenarbeit. Die Leitfrage: Wie soll man reagieren?
"Die bekommen alles in den Arsch gesteckt"
Der erste Fall:
Ein junger Mann ist Arbeitsvermittler bei der Arbeitsagentur. Manche seiner Kunden, Arbeitslose, suchen im eins zu eins Gespräch in einem geschlossenen Raum die Schuld an ihrer Lage bei Flüchtlingen und anderen Migranten. Sie hätten nie einen Tag gearbeitet, würden alles bekommen, und er müsse selbst zusehen, wie er klarkommt.
Bei der Gruppenarbeit, an der der junge Arbeitsvermittler beteiligt war, kommt heraus, dass einem der Kläger ein Bescheid des Arbeitsamtes zugesteckt worden war. Einem Asylbewerber mit achtköpfiger Familie habe einen – wahrscheinlich gefälschten – Bescheid des Sozialamtes mit der Zusage einer sehr hohen Zuweisung bekommen. „Da kann man nicht mit dem Argument kommen: Asylbewerber bekommen nicht mehr als andere“, sagt einer, der in dieser Gruppe mitdiskutiert hat.
Wieder empfiehlt Fisch, den Kläger wertzuschätzen. „Sie könnten ihm sagen: Sie geben sich Mühe, eine Arbeit zu finden“ – und so wieder auf das eigentliche Thema kommen: die Arbeitsvermittlung. Wenn aber der Mann seine Ressentiments nur nutze, um von seinen eigenen Verfehlungen abzulenken, reiche es auch zu sagen: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass das stimmt. Jetzt lassen Sie uns doch mal überlegen, wie wir Ihnen weiterhelfen können.“ Das Ziel wäre, dem Kunden bei der Arbeitssuche zu helfen – und nicht auf ein Nebengleis gelenkt zu werden.
"Es können doch nicht alle kommen"
Zweiter Fall:
Eine ältere Dame erzählt, wie ihr beim Infostand der Grünen vorgehalten werde: „Ihr wollt ganz Afrika ins Land holen. Aber das überfordere uns. – Wie soll man auf solche Äußerungen reagieren?“
In ihrer Arbeitsgruppe fiel der Dame noch ein, wie sie in das Gespräch verwickelt wurde, bemüht argumentierte, und der Mann plötzlich sagte: Was wollen Sie mit diesem Gespräch eigentlich erreichen? Da war sie sprachlos.
Andreas Fischer analysiert: Er hat die Situation einfach umgedreht. Ein junger Mann wirft ein: Man muss sich auch überlegen, was will man erreichen.
Der Ehemann aus dem Sudan
Zu dem dritten Fall gibt es keine ausführliche Diskussion mehr. Trotzdem ist er erzählenswert:
Eine andere Teilnehmerin ist mit einem Afrikaner verheiratet, „zu allem Überfluss noch ein Nafri“, wie sie sagt: er komme aus dem Sudan. „Geh dahin, wo du herkommst“, bekomme ihr Ehemann zu hören. Manchmal gebe es nonverbale Signale: Leute halten ihre Taschen fest, wenn er sich in der Straßenbahn neben sie setzt, oder sie suchen einen anderen Platz. Bei einer Kundgebung zur politischen Lage im Sudan hätten Leute gesagt: „Wir sind nicht für alle Probleme in der Welt zuständig.“ – „Ich interessiere mich eigentlich nicht für Politik “, sagt die Frau. „Ich glaube ja, wenn alle Menschen anständig wären, hätten wir keine Probleme auf der Welt.“
Als Fazit hebt Andreas Fischer hervor: Wertschätzung sei sehr wichtig. Wenn er mehr Zeit gehabt hätte, würde er noch etwas über die Kommunikationsstrategien von Populisten erzählen. Mit ihren Verdrehungen könne man besser umgehen, wenn man das Prinzip durchschaue.
Gegen Ende der Veranstaltung kommt die Werbung: ein Buchtipp, hier zum ermäßigten Autorenpreis zu erwerben. Ein Ansichtsexemplar des Fachbuches „Zuflucht – Zusammenleben – Zugehörigkeit“, 2017 erstmals erschienen in der Reihe „Forum Sozialethik“, Band 18, beim Aschendorff Verlag. Auch Andreas Fischer hat dazu seinen Beitrag geliefert.
Nazigejohle im Regionalexpress
Es wurde viel geredet, die Köpfe rauchen. Aber wer an dieser Veranstaltung teilnimmt, bekommt eine Ahnung: Man kann sie lernen, die Strategien, klug auf rechtspopulistische Parolen zu reagieren.
Dann noch der Abspann, eine Anekdote: Im Großraumabteil eines Regionalzuges in Richtung Köln okkupierte eine Gruppe Nazis den öffentlichen Raum: Sie sangen ausländerfeindliche Lieder. Wie reagieren? Andreas Fischer sah sich um, wollte wissen: „Sind Leute da, die auf meiner Seite sind?“ Seine Einschätzung: halbehalbe etwa. Fischer stupste seine Nachbarin an, ob sie das Lied „Da simmer dabei“ anstimmen könnte, ein Lied von den Höhnern. Irgendwann grölte der halbe Zug mit. Die Neonazis verstummten. Die anderen Passagiere auch. Dann war Ruhe.