Und auf einmal ist alles anders. Anstatt auf dem Weg zum Mittelmeer zu sein, sitzen wir bei meinen Eltern auf der Couch und warten. Vor zwei Wochen wurden unsere Pläne in Dänemark plötzlich durcheinandergeworfen. Erst nur komische Geräusche, dann komische Gerüche und zack standen wir ohne Heckdifferential da. Wir waren bereits auf dem Rückweg nach Deutschland. Schließlich wollten wir unsere Reifen wechseln, die bereits ziemlich abgefahren sind und uns dann auf den Weg nach Slowenien machen. Jetzt stecken wir bei unseren Eltern fest. Der Bus ist noch oben in Dänemark und soll hier in eine Werkstatt geliefert werden. Das kann 15 Tage dauern, aber im schlimmsten Fall auch fünf Wochen. Unsere Reise ist also bis auf weiteres unterbrochen.
Komisch, wenn man sich das nicht aussuchen kann und anstatt zu entscheiden, was man jeden Tag sehen und erleben will, sitzt man nun in einem Kaff in Mittelhessen und muss sich überlegen, wie es weitergeht. Am Anfang war es eine ziemlich schwere Entscheidung für uns beide, den Bus zurückzulassen. Geben wir jetzt auf? Hätte es nicht noch eine andere Möglichkeit gegeben? Eine andere Werkstatt, die uns hätte helfen können? Ist es nicht enorm peinlich, vor sechs Wochen eine Abschiedsfeier zu veranstalten und jetzt wieder auf der Matte zu stehen? Aber eigentlich hatten wir gar keine Wahl und können vor allem glücklich darüber sein, dass alles so gut geklappt hat, uns nichts passiert ist und der Bus wieder repariert werden kann. Glück im Unglück.
Nachdem wir all unsere Habe vom VW-Bus in den Mietwagen verfrachtet haben und Albertina ganz schön leer aussah, ist mir das Herz in die Hose gerutscht. Dieser Bus ist in den wenigen Wochen der Reise zu unserem Zuhause geworden. Auch ohne Inhalt ist es doch der Ort, an dem wir gegessen, geschlafen, gespielt, gekocht, gewaschen, gearbeitet und gelacht haben. Auch wenn wir immer zurück zu unseren Eltern oder zu Freund:innen können, war es doch so, als würden wir unser Zuhause zurücklassen, in der Verantwortung von fremden Menschen und auf unbestimmte Zeit.
Und als wir dann wieder da waren, wo wir wenige Wochen vorher losgefahren sind, wo alles genau so geblieben ist wie vorher (die gleichen Kassierer:innen, die gleichen Straßen, die gleichen Geräusche, die gleichen Gerüche), ist mir klar geworden, was Menschen meinen, die von „Heimat“ sprechen. Es geht um das Vertraute, den Ort wo man sich einfügt, wie das letzte Puzzleteil in ein vorgefertigtes Muster. Eine Form von Sicherheit, wenn man bereits weiß, was sich hinter der nächsten Straßenkreuzung befindet und in welche Kneipe die Menschen gerne gehen, die dort wohnen.
Heimat ist ein komisches Wort. Es kommt mir nicht leicht über die Lippen. Seitdem ich realisiert habe, wie das Wort benutzt wird, um manche Menschen einzuschließen und andere auszuschließen, fühlt sich diese ganz bestimmte Vertrautheit an wie eine Lüge. Warum nennt sich die frühere NPD jetzt „die Heimat“? Warum muss es so etwas wie ein „Heimatministerium“ geben? Warum nennt sich das NSU-Trio „Thüringer Heimatschutz“ und tötete in diesem Namen mindestens zehn Menschen? Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah schreiben in „Eure Heimat ist unser Albtraum“, dass Heimat nie einen realen Ort beschrieben hat, sondern das Ideal einer homogenen, christlichen und weißen Gesellschaft. Das Wort sei außerdem ein Kampfbegriff von Rechtspopulist:innen und Rechtsextremist:innen. Warum benutzen wir es dann noch so gerne?
Heimat wird benutzt, um ein „Wir“ und ein „Die“ aufrechtzuerhalten. Heimat ist so nah am „Zuhause“ dran, dass es um Wärme, Identität und Vertrautheit geht. Es wird also persönlich. Die bekannte Hausecke und die alte Dorfkneipe werden mit dem „Wir“ und dem „Die“ aufgeladen, aber auch alle vertrauten Routinen. Die Kerb einmal im Jahr, der Weihnachtsgottesdienst und die Wursttheke im Supermarkt, wo man sich einmal in der Woche die Bestellung „wie immer“ abholt und dem Sohnemann ein Stück Fleischwurst in die Händchen gedrückt wird. Wenn Heimat in Gefahr wäre, ist das alles in Gefahr.
Ich will nicht in einer Welt leben, in der die Angst vor dem Heimatverlust mich zu einem gehässigen und voreingenommenen Menschen macht. In der „fremd“ etwas Schlechtes ist und keine Neugier mehr in mir weckt. Solange Heimat ein Wort ist, mit dem Dichotomien aufrechterhalten werden, mit dem Hass geschürt wird und das nur für manche ein positives Gefühl ist, brauche ich es nicht. Ich würde viel lieber in einer Welt ohne Heimatgefühl leben wollen. „Zuhause“ reicht mir vollkommen. Es ist das Synonym für die positiven Heimatgefühle, aber anders als bei „Heimat“ können alle wissen, was es bedeutet, ein „Zuhause“ zu haben.
Ich finde es wichtig, sich selbst immer wieder neu darauf zu prüfen, was man reformieren kann, um ein gerechteres Leben zu führen, dass weniger Menschen verletzt. Es geht mir nicht darum, es allen Recht zu machen. Es geht viel mehr darum, Menschen gut zu tun und sich für diejenigen einzusetzen, die nicht so stark gehört werden. Wenn ich also merke, dass "Heimat" ein Begriff ist, der anderen Menschen weh tut, dann kann ich auch einen anderen Begriff benutzen, ohne dass mir etwas fehlt. Ich kann nicht die Welt reformieren und die Kirche wahrscheinlich auch nicht. Aber ich kann mich jeden Tag ein Stück neu gestalten.
Solange ich also darauf warte, dass endlich der Bus aus Dänemark nachhause kommt, lade ich Dich ein, Dich zu fragen: Was ist „Heimat“ für Dich? Hast Du das Gefühl, dass Deine Heimat bedroht wird oder dass sie von jemandem weggenommen werden kann? Brauchst Du das Wort überhaupt oder reicht „Zuhause“ nicht längst aus?