Schweden im Herbst ist wirklich schöner als Fotos und Videos es einfangen können. Zuerst werden die Birken knallgelb und verlieren ihre Blätter, dann folgen alle anderen Laubbäume mit hellgelb, tieforange und rostrot. Der verhangene Himmel spiegelt sich in den weiten Seen, und die immer seltener werdenden Sonnenstrahlen tauchen die Welt in ein goldenes Licht. In genau dieser Zeit sind wir von Stockholm über Docksta bis Vålådalen gefahren. Schon vier Nationalparks haben wir gesehen, bei den Naturreservaten habe ich aufgehört zu zählen. Da wir mehr sehen wollten als Parkplätze, Supermärkte und Tankstellen, haben wir unsere Umgebung so gut wie möglich erkundet. Die Wälder sehen aus wie bei Ronja Räubertochter. Alles ist voller Moos und Flechten, riesige Felsen liegen zwischen den Bäumen und die unterschiedlichsten Pilze wachsen aus morschen Baumstämmen und dem Boden. Doch bei Wanderungen durch den Wald sollte es nicht bleiben.
Docksta war schon länger ein festes Ziel auf der Reiseroute, denn dort liegt der Skuleskogen Nationalpark und der Skuleberget. Am Skuleberget gibt es ein Kletterzentrum mit vier Via Ferrata Routen. Wir haben direkt mit der gelben Route begonnen. Schwierigkeitsgrad C und somit schwerer als alles andere, was wir bisher gemeinsam geklettert haben. Der Klettersteig war eine Herausforderung (für mich). Die Stahlseile hingen über dem nackten Felsen. Keine Tritte, nichts zum Festhalten außer das Seil. Heißt: Mit den Armen in das Seil hängen und mit den Beinen genug Druck gegen den Stein aufbauen, um am Berg hochzukommen. Auch wenn die Aussicht traumhaft war, es war eine psychisch und körperlich wirklich anstrengende Tour. Es gab mehrere Stellen, die mich auf die Probe gestellt haben. Währenddessen musste ich mir immer wieder sagen, dass ich groß, stark, erwachsen und selbstbewusst bin und die Route meistern werde. Ich habe es immer wieder runtergerattert - wie Affirmationen. Mut heißt nicht, keine Angst zu haben. Es heißt, dass man etwas macht, obwohl man Angst hat. Zwei Tage später haben wir noch eine leichtere Route geklettert. Das war für mich eine ganz andere Welt. Immer noch steil, immer noch herausfordernd, aber mit weitaus mehr Spaß, Kontrolle und Glücksgefühlen.
Zwischen den beiden Routen haben wir den benachbarten Nationalpark durchwandert, denn die Kletterrouten hatten wegen schlechten Wetters geschlossen. Kein Problem, dachten wir, denn wir sind ja bekanntlich nicht aus Zucker. Den Regen haben wir trotzdem unterschätzt. Nach wenigen Kilometern war alles (wirklich alles) nass. Durch den Wind, der den Regen auf uns peitschte, war es auch noch sehr kalt. Nach dem „Gipfel“ hatten wir die Möglichkeit, eine Abkürzung zu nehmen: Durch eine Schlucht. An sich kein Problem, aber an dieser Schlucht hing ein Warnschild, dass sie wegen herunterfallender Steine eine Gefahr darstellt. Zehn Minuten stand ich im Regen vor der Schlucht und dem Schild und haderte mit mir, meiner Angst, meinem Mut, meinem Kopf, der es besser wissen müsste und meinen kalten Füßen, die schnell ins Trockene wollten. Nach einiger Zeit habe ich mich dann entschieden. So schnell und leise bin ich noch nie über Felsen geklettert, glaube ich. Tatsächlich ist kein einziger Stein runtergefallen. Mein Herz hat trotzdem ganz schön laut geschlagen.
Nach Docksta sind wir Richtung Nordwesten gefahren und haben am Morgen auf unserem Parkplatz festgestellt, dass wir in der Nähe einer Höhle sind. Sie wurde irgendwann für Interessierte und Tourist:innen zugänglich gemacht. Das heißt, dass es in der Höhle Leitern aus Metall gibt. Nach dem Frühstück haben wir uns also unsere Helme und Stirnlampen, dicken Jacken und Handschuhe geschnappt und uns auf die Suche begeben. Nach zehn Minuten Laufweg fanden wir den Eingang: Eine schmale, tiefe Felsspalte. Eine lange Leiter führte hinab. Unten angekommen, wurde einem erst mal klar, wie tief wir schon im Berg waren. Durch einen engen Gang liefen wir bis zum Höhleneingang. Die Höhle war kleiner als ich dachte, was bedeutet, dass man schneller wieder draußen ist, aber auch, dass die Felsspalten, Lücken und Gänge, durch die man sich quetscht, enger sind. Ungefähr 30 Minuten schlängelten wir uns durch die Dunkelheit. Höhlen lösen in mir ein Unbehagen aus. Das Gefühl, dass Unmengen an Steinmassen über einem hängen, gibt mir nicht unbedingt viel Sicherheit. Trotzdem bedeutet es auch Nervenkitzel, und mir ist eine Höhle mit Leitern viel lieber als eine ohne. Auch wenn ich in der Höhle weniger Angst hatte, brauchte ich dennoch eine gute Menge an Mut, um mich überhaupt in die Höhle zu trauen.
Bei all diesen Erlebnissen, dachte ich, dass ich diejenige bin, die die Kraft und den Mut hatte, um sich in die Seile zu hängen, die Schlucht zu durchgehen und die Höhle zu erkunden. Ich war fest davon überzeugt, am Ende der Woche einen Text darüber zu schreiben, wie ungesund es ist, für den eigenen Mut und die eigene Kraft zu beten. Es ist doch eindeutig, dass ich es selbst war, aus meinem eigenen Können hinaus, die das alles geschafft hat. Dafür habe ich Gott doch nicht gebraucht, oder? Es brauchte eine Bergbesteigung im Sturm, Rentierbegegnungen und ein festgefahrenes Auto im Schlamm, bis ich verstanden hatte, dass es viel komplizierter ist als das.
Mein Punkt war eigentlich, dass es Selbstwirksamkeitserfahrungen mindert, wenn alles, was man selbst erreicht, auf Gottes Wirken „reduziert“ wird. Es ist wichtig zu wissen, dass man selbst krass gut ist, auch ganz ohne holy moly Gebetszirkel und Lobpreissessions. Aber wer bin ich eigentlich, dass ich denke, ich könnte das Gebet anderer Menschen bewerten? Durch meine ganzen Mutproben habe ich ganz vergessen, wo meine Demut ihren Platz hat und dass wir aus Staub geschaffen sind und nicht aus Lehm. Wenn Menschen zu Gott beten wollen, dann dürfen sie das tun. Egal in welcher Form. Meine Vorurteilsstrukturen haben meine Gedanken zwei Wochen lang beherrscht und ich dachte, ich schreibe einen ach-so-klugen Text nach diesen Erfahrungen. Pustekuchen.
Nur weil ich mich in meiner Angst nicht an Gott gewandt habe, bedeutet es nicht, dass andere es nicht dürfen. Und nur weil ich kein klassisches Gebet gesprochen habe, heißt es auch nicht, dass ich nicht gebetet habe. Schließlich habe ich beim Klettern unentwegt Affirmationen gesprochen, um auf mein Leben klarzukommen.
Gott kann Menschen helfen, mutig zu sein, und Gott kann Menschen dabei helfen, durch Gottes Anwesenheit mutig zu werden. Das sind beides gute Dinge.
Ich habe für mich bemerkt, dass es mehr ist als das. Bei all meinen Mutproben in den vergangenen Tagen war Gott nicht nur der Mut, sondern vor allem meine Mauer. Ich habe Gott wiedererkannt im leisen Säuseln des Windes, im fallenden Herbstlaub, aber auch im Sturm, der uns fast vom Berg geweht hat. Ich habe ihn wiedererkannt in den kleinen runden Kieseln im Fluss, aber auch in den großen Felsen der Berge, die seit tausenden Jahren Wind und Wetter trotzen und sich keinen Zentimeter bewegt haben. Ich habe ihn gespürt als Sonnenstrahlen auf meiner Haut und als vollkommenes Dunkel in der Höhle. Als tausende funkelnde Sterne am riesigen Sternenhimmel. Ohne den Felsen, ohne den Berg, ohne die Höhle, die Schlucht, den Wind und den Regen hätte es keine Mutproben gegeben. Gott ist nicht nur die Kraft im Sprung - Gott kann auch die Mauer sein, über die wir springen.