Liebe evangelisch.de-Nutzerinnen und -Nutzer,
vielen Dank für die lebhafte Diskussion zum Thema "Reformfähigkeit der Kirche" in der vergangenen Woche! Ich komme auf das Thema zurück. Denn da können wir noch länger drüber reden. Aber für diese Woche hatte ich unserem Nutzer "Herr B." noch eine andere Antwort versprochen.
Er hatte unter Katharina Payks Blogeintrag "Alles unterm Regenbogen" neun Fragen gestellt. Die werde ich der Reihe nach durchgehen, wobei ich vorausschicke: Ich bin kein Theologe, meine Antworten sind also keine theologischen.
Auf in die neun Fragen!
"1. Ist die Forderung nach offener und öffentlicher Kommunikation über Sexualidentitäten und Sexualpraktiken noch so kleinster Minderheiten nicht ein Luxusproblem? Wird hier nicht ein im Vergleich zu den derzeitigen politischen Problematiken (z.B. Flüchtlingskrise, Bankenkrise, Rechtspopulismus) sehr kleines Problem zur drängenden gesamtgesellschaftlichen Frage "hochgepusht"? Zudem scheint es mir sehr einseitig gedacht, Gesellschaften nur über ihren Umgang mit LGBT-Minderheiten ansprechen zu wollen."
Lieber Herr B.,
öffentlich oder, noch viel wichtiger, offen in der eigenen Umgebung über sexuelle Identitäten zu sprechen, ist kein Luxusproblem. Es ist für die einzelnen Menschen ganz entscheidend dafür, sich als Mensch angenommen zu fühlen. Anders als die Bankenkrise oder der zunehmene Rechtspopulismus betrifft es unmittelbar den einzelnen Menschen ohne Auswirkungen auf andere. Wenn jemand offen mit seinen Vorlieben umgehen kann, betrifft das nur ihn oder sie. Das ist in den drei anderen Krisen anders - wie wir mit der Bankenkrise oder der Flüchtlingsfrage umgehen, hat erheblich mehr gesellschaftliche Auswirkungen als die Frage, ob unser Nachbar sich nachts von muskulösen Männern ans Bett fesseln lässt.
Was mich direkt zur zweiten Frage führt:
"2. Wo liegt die Grenze zwischen "sexueller Identität" und bloßer "sexueller Praktik"? Während Homosexualität und Transgender unbestritten eine "Identität" ist, scheint es mir bei BDSM eher um eine Praktik zu gehen, die unabhängig von sexuellen Identitäten ausgelebt wird."
Katharina Payks wesentlicher Punkt in ihrem Blogeintrag war, dass "queer" mehr umfasst Homo- und Transsexualität: nämlich auch sexuelle Praktiken, die von heterosexuellen Menschen ausgeübt werden können. Deswegen ist der Unterschied gar nicht so wichtig. Aber Sie haben Recht, dass BDSM unabhängig davon ist, welche Menschen jemand anziehend findet. Wenn man den Begriff "sexuelle Orientierung" verwendet, kann man damit übrigens alles beschreiben, man muss es nur benennen.
"3. Warum sollen Betreiber bestimmter sexueller Praktiken immer auch ein Recht drauf haben, öffentlich darüber reden zu dürfen und von dieser Öffentlichkeit wertgeschätzt und anerkannt zu werden? Gibt es eine Grenze, in denen bestimmte Praktiken zwar "aus Liebe" ausgeübt werden oder Teil der "sexuellen identität" sind, aber dennoch keinen legitimen Anspruch auf Öffentlichkeit haben?"
Gegenfrage: Warum nicht? Aber die allermeisten Menschen reden in der Öffentlichkeit ohnehin nicht über ihre sexuellen Praktiken. Wenn ein heterosexueller vereirateter Mann sagt: "Ich liebe meine Frau", kann das doch ohne Probleme öffentlich passieren. Davon, wie die beiden dann ihren Sex gestalten, ist damit gar nichts gesagt. Fragen Sie sich mal selbst, wann Sie überhaupt mal in der Öffentlichkeit oder im Freundeskreis gehört haben, wie jemand konkret seinen Sex gestaltet.
Anders ist es, wenn es um Sex ohne Zustimmung geht, von Vergewaltigung bis Pädophilie. Dafür gibt es keine Wertschätzung, und die richtige Öffentlichkeit dafür ist die Öffentlichkeit eines Gerichtssaals.
"4. Warum beraubt eine Zweierbeziehung Menschen ihrer Freiheit? Ist es nicht auch ein Akt der Freiheit, sich an einen bestimmten Menschen binden zu wollen? Wird "sexuelle Freiheit" hier nicht absolut gesetzt und gegen andere Ansprüche wie z.B. "Treue", "Selbstbindung" oder "Einzigkeit" unangemessen überbetont?"
Die normativ gesetzte Zweierbeziehung zwischen Mann und Frau ist dann restriktiv, wenn sich jemand dazu gezwungen fühlt, eine solche Beziehung einzugehen, obwohl er oder sie sich damit unwohl fühlt. (Das passiert tatsächlich!) Das gilt auch umgekehrt: Wenn sich jemand zu sexuellen Praktiken gezwungen fühlt, weil sein oder ihr Partner das unbedingt möchte, ist das ebenso restriktiv. Was jemand im Bereich Liebe, Sexualität und Partnerschaft besonders betonen möchte, kann erstmal jeder für sich entscheiden. Manchen Menschen ist Treue und langfristige Bindung besonders wichtig, manche Menschen suchen nach besonders viel Abwechslung. Wichtig bei allem ist, dass das mit Sorgfalt und Achtsamkeit gegenüber dem Partner oder den Partnern passiert.
Wenn Sie Treue besonders schätzen, steht es Ihnen frei, das zu leben.
"5. Halte ich den Vergleich polyamorer Beziehungen gegen Zweierbeziehungen mit "gelegentlichen Abenteuern" und "Seitensprüngen" für grundfalsch. Während das erste ja angeblich auf allseitigem Einvernehmen beruhen soll, ist das zweite doch im Grunde Betrug und Verrat an gegebenen Versprechungen."
Katharina Payk schreibt explizit, dass solche speziellen Beziehungen "immer im Konsens aller Beteiligten" passieren müssen. Aus ihrer Sicht, Herr B., ist ein Seitensprung Betrug. Was aber, wenn es sich beispielsweise um eine Ehe handelt, in der beide Ehepartner Spaß daran haben, zu wissen, dass ihr Partner sexuelle Erlebnisse mit anderen Menschen hat? Auch so etwas gibt es. Das sind beileibe nicht die Mehrheiten der Beziehungen, und darüber müssen Partner immer reden!
Beziehungen müssen ehrlich sein, sonst funktionieren sie nicht. Wer ungewöhnliche Vorlieben hat, muss mit seine*r Partner*in darüber reden. Betrug wird es dann, wenn der Partner tatsächlich betrogen wird. Wer heimlich andere Befriedigungen sucht, verletzt seine*n Partner*in damit. Ohne Ehrlichkeit auch beim Sex funktioniert keine Beziehung dauerhaft. Und auch mit Ehrlichkeit kann es manchmal in die Brüche gehen, wenn die Wünsche und Ideen zu sehr auseinandergehen.
Also: Was eine Beziehung ausmacht und aushält, müssen Partner miteinander verhandeln - aber Lügen hält keine Beziehung aus.
"6. Wenn es in allen Beziehungen stets um Liebe gehen soll, sind dann "polyamore" Beziehungen Zweierpaarbeziehungen nicht in gewisser Weise "überlegen", weil dort "mehr" geliebt wird?"
Glaube ich nicht. Viele Menschen können ihre partnerschaftliche Liebe nicht so teilen, dass sie mehr wird. Manche Menschen können das. Liebe als Gefühl ist kompliziert.
"7. Wird "Liebe" hier nicht überhaupt zu einem differenzlosen "Integral" von irgendwie allem gemacht, mit dem auch noch der entlegenste Entwurf sexueller Identität gerechtfertigt werden kann? Ist das kritisch-theologisch zu rechtfertigen?"
Warum glauben Sie, dass bestimmte sexuelle Identitäten und Orientierungen eine Rechtfertigung brauchen? Ohne diese Vorstellung ist ihre Frage gegenstandslos.
"8. Sollte die Gesellschaft es jedem ermöglichen seine Identität in rechtliche Kategorien zu überführen (also z.B. Gleichstellung der Ehe mit polyamoren Beziehungen)?"
Pauschal gefragt, pauschal beantwortet: Nein. Aber: Gleich funktionierende Partnerschaften sollten auch rechtlich gleich behandelt werden - es gibt keinen Grund, warum die Ehe zwischen zwei erwachsenen Menschen egal welchen Geschlechts nicht rechtlich identisch sein sollte. Andere Formen der rechtlichen Bindung zwischen Menschen sind in unserer Gesellschaft derzeit nicht vorgesehen.
Im konkreten Falle der Polygamie sind die Vorbilder, die es in anderen Gesellschaften gibt, keine Beispiele, die positiv für die Beteiligten sind. Mehrfach-Beziehungen unterscheiden sich in ihren Abhängigkeits-Dynamiken deutlich von Zweierbeziehungen und sollten daher anders betrachtet werden. Die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen hat im Jahr 2000 in einem Kommentar zu Artikel 3 (Gleichheit zwischen Mann und Frau) des "Covenant on Civil and Political Rights" geschrieben: "Polygamie verletzt die Würde von Frauen. Sie ist eine unzulässige Diskriminierung gegen Frauen. Deshalb sollte sie abgeschafft werden, wo sie noch existiert" (Absatz 24). Es gibt polyamore Beziehungen, die wirklich funktionieren, aber die real existierenden Beispiele von rechtlich zulässiger Polygamie in anderen Ländern gehören üblicherweise nicht dazu. Menschen dürfen hierzulande durchaus in Mehrfach-Beziehungen leben, solange sie auf Konsens beruhen und niemand zu irgendwas gezwungen wird. Eine rechtliche Kodifizierung bringt aber ganz andere Schwierigkeiten mit Blick auf Gleichberechtigung aller Partner mit sich als eine Zweierbeziehung.
"9. Sollte sich Theologie nicht auch kritisch auf solche Identitätsfragen zurückwenden können, anstatt sie nur einseitig zu verstärken?"
Hängt von der Theologie ab. Sie finden, glaube ich, genug Theologen, die sich "kritisch auf Identitätsfragen zurückwenden". Dafür sind Sie in einem evangelischen Queer-Blog hier auf evangelisch.de allerdings an der falschen Stelle.
Ich wünsche euch und Ihnen ein gesegnetes Wochenende!
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Ich werfe immer am Samstag an dieser Stelle einen Blick auf die vergangene Woche und beantworte außerdem Ihre Fragen zu evangelisch.de, so gut ich kann. Ich wünsche euch und Ihnen einen gesegneten Start ins Wochenende!