Die Frage der Woche, Folge 57: Ist die Kirche reformfähig?
Wie sieht die Zukunft der Kirche in 100 Jahren aus, und wie kommen wir dahin?

Liebe evangelisch.de-Nutzerinnen und -Nutzer,

über unsere Facebook-Seite erreichte mich folgende Frage von Frank Pientka:

"Statt 'die Frage der Woche' fände ich mal die Frage nach der Reformfähigkeit und Zukunft der ev. Kirche interessant: Selbst wenn die letzte Gemeinde geschlossen ist, werden immer noch Synoden Tagen, Leitung und Verwaltung weiterarbeiten, doch wozu. Ich stelle eine immer größere Reformmüdigkeit und Frust bei vielen Beteiligten fest, da keiner mehr erklären kann wozu und wohin das Ganze führen soll. Antworten darauf und eine Reflektion über Grund und Ziel von Gegenbewegung zur Reform, wie z.B. Kirchenbunt, Gemeindenotbund etc., fände ich wichtig. Brüderliche Grüße!"

Da steckt eine ganze Menge drin, deswegen wird dieser Eintrag etwas länger. Und trotzdem werde ich keine abschließende Antwort auf die Zukunft der Kirche geben können - kein Einzelner kann das. Aber ich kann zumindest ein paar Gedanken und Beobachtungen aufschreiben, damit sich jeder selbst eine Antwort bilden kann.

Eine eigene Antwort wollen die beiden Bewegungen, die Sie ansprechen, auch geben. Dabei ist es sehr unterschiedlich, wogegen sich die Menschen in "Kirchenbunt" oder im Gemeindehilfsbund (der früher Gemeindenotbund hieß) organisieren.

Der Gemeindehilfsbund beispielweise macht nicht den Eindruck, dass er die Kirche irgendwie nach vorne bringen möchte. 1992 gegründet (wer das nachlesen will: die "Zeit" war damals live dabei), möchte die Lehren der Kirche so erhalten, dass die konservativen Moralvorstellungen des frühen Nachkriegsdeutschland durch ihren Glauben gestützt bleiben. Es fällt mir schwer, diese Gruppe ernst zu nehmen, die die evangelische Kirche "in einer selbstzerstörenden Grundlagenkrise" sieht und die Behauptung aufstellt: "Kirchenleitende Gremien haben bibelfremde Irrlehren in sie hineingetragen." Das steht so in einem "Bekenntniswort" vom März 2015, ist also durchaus noch deren aktuelle Meinung.

Der Gemeindehilfsbund stört sich dabei auch ganz explizit an der Öffnung für homosexuelle Menschen im Pfarramt. Und schon 1992 sah der Bund das Evangelium "in einem immer bedrohlicheren Ausmaß bibelkritisch verdunkelt" - der Erklärung von 2015 zufolge hat sich daran nichts geändert. Ich sehe darin keine Gegenbewegung zu Reform. Ich sehe darin viel eher einen Verein frustrierter Menschen, die kein lebendiges Evangelium verkünden, sondern schlicht ein starres Wort wie eine Monstranz vor sich hertragen, immer im Kreis.

Diese Menschen frustrieren sich selbst. Und ihr Frust wird in der verfassten Kirche auch nie wieder aufgelöst werden, denn die wird nicht mehr zu einer erzkonservativen Bibelauslegung zurückkehren können. Denn dann fällt sie wirklich in die Bedeutungslosigkeit in der Zukunft, die ich am Ende dieses Textes spekulativ entwerfe.

Eine erstarrte Kirche ist eine tote Kirche

Anders nehme ich den Verein "Kirchenbunt" war. Die Bewegung gibt es seit Juni 2014. Sie ist eine direkte Reaktion auf die Verwaltungsreform und das " Neue Kirchliche Finanzwesen" in der Evangelischen Kirche im Rheinland. Das ist die Umstellung von einer kameralistischen Buchhaltung (Berechnung von Einnahmen und Ausgaben) auf eine kaufmännische Buchhaltung, in der auch Vermögenswerte erfasst werden.

Da sehe ich eine konkrete Debatte über die Vorstellung, wie Kirche als Summe ihrer Glieder - Getaufte, Gemeinden, Kirchenkreise etc. - funktionieren soll. Die Menschen hinter "Kirchenbunt" wollen nicht, dass Entscheidungen für die Kirche aus wirtschaftlichen Gründen getroffen werden: "Gottes Zukunft nahm man ohne Umschweife selbst in die Hand: Gesichte, Träume und Visionen von damals wurden durch Prognosen, Statistiken und Umfragen ersetzt. […] Man spürt immer deutlicher den Verlust von Spontaneität und Gestaltungsspielraum vor Ort. Denn es erweckt den Eindruck, dass wir Prognosen nicht als mögliche, sondern als gewisse Zukunft betrachten und uns darum nach ihnen zu richten haben", schreibt Kirchenbunt-Mitgründer Andreas Reinhold zu Pfingsten 2016.

Die Ziele dieser beiden Bewegungen könnten nicht unterschiedlicher sein: Die einen wollen eine starre Moralwelt per Bibelwort begründen und als unveränderlich festhalten. Die anderen sehen eine Veränderung und möchten sie anders gestalten.

Dieser Wille zur Gestaltung und Veränderung ist es, der die Zukunft der Kirche (katholisch wie evangelisch) bestimmen wird. Denn eine erstarrte Kirche ist eine tote Kirche.

Die Gesellschaften, in denen wir leben, verändern sich ständig: Nachfolgende Generationen verhalten sich anders als die davor, finden andere Sachen gut, setzen andere Prioritäten, leben andere Werte. Das kann sich in jede Richtung verändern. Das bedeutet auch, dass unterschiedliche Generationen die Bibel unterschiedlich verstehen. Denn die Schrift ist in sich widersprüchlich, deswegen hat Luther ja seine vier Soli aufgestellt: Die Auslegung muss immer mindestens im Lichte aller vier "soli" stehen (und nicht nur von "sola scriptura", wie es bestimmte Christen gerne fordern). "Sola gratia", "sola fide und "solus Christus" gehören dazu.

Die Gemeinde bleibt wichtig - aber der Glaube außerhalb davon verändert sich

Nun ist es aber so, dass "Kirche" und "Glaube" nicht identisch sind. In der 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD (KMU V) findet sich eine Auswertung zum Gottesglauben, die ich sehr spannend finde.  Da hat sich nämlich ergeben: Wer sich am kirchlichen Leben beteiligt - das ist etwa ein Viertel der Kirchenmitglieder - stimmt den Aussage zu: "Ich glaube an einen Gott, der sich in Jesus Christus zu erkennen gegeben hat" (91 % ) oder "Ich glaube, dass es irgendein höheres Wesen oder eine geistige Macht" (9 %).

Von den restlichen drei Vierteln der Kirchenmitglieder glauben nur 51 % an "einen Gott, der sich in Jesus Christus zu erkennen gegeben hat", 28 % glauben an ein "höheres Wesen oder eine geistige Macht" und der Rest weiß nicht, was er glauben soll oder glaubt gleich gar nicht (KMU V, S. 53).

Dieser Mehrheit der Kirchenmitglieder sind sowohl die Verwaltungsstruktur von Gemeinden als auch die "Sola scriptura"-Debatte ziemlich egal. Sie werden im schlimmsten Fall weder von Reformbewegungen noch von der verfassten Kirche erreicht. Ihnen reicht die Taufe ihres Kindes oder Enkels, der Weihnachtsgottesdienst und das Kirchenläuten am Sonntag.

Eine Hoffnung von Reformprozessen wie "Kirche der Freiheit" ist, diese Gruppe wieder stärker zu erreichen. Bei "Kirche der Freiheit" ging es auch "um Außenorientierung statt um Selbstgenügsamkeit" - aber viele Hochverbundene sind sich in ihren Gemeinden eben doch selbst genug. Die Unterschiede im Glauben sind einfach zu groß. Wird sich jemand, der ein sehr unklares Gottesbild hat und auf der Suche danach ist, was er oder sie glauben kann, auf einen bibeltreuen Gesprächskreis einlassen? Überzeugte Gläubige werden jetzt sagen: Ja sicher, dafür sorgt der Heilige Geist bzw. die Botschaft von der Erlösung! Zweifelnde Gläubige werden aber sagen: So krasse Formen von Bibellese finde ich eher abschreckend, weil man das alles gar nicht sicher wissen kann. Die meisten Kirchenmitglieder haben aber gar nicht das Bedürfnis, so einen Kreis überhaupt zu finden.

Immerhin hat auch die KMU bestätigt, dass die Gemeinde nach wie vor der wichtigste Bezugspunkt für Kirchenmitglieder ist. Isolde Karle schreibt in ihrem Kommentar zur KMU (Auswertungsband, S. 122): "Die Ortsgemeinde, der Pfarrer/die Pfarrerin und das Kirchengebäude – diese Trias steht den Mitgliedern klar vor Augen, wenn sie nach Kirche gefragt werden. In aller Regel steckt diese Trias den primären Erfahrungsraum von Kirche ab, was nicht bedeutet, dass nicht auch andere, überparochiale kirchliche Angebote von Interesse wären. Doch dominiert in der Wahrnehmung der Mitglieder die Erfahrung der Kirche vor Ort."

Das hilft nur nichts, wenn die Menschen gar nicht erst in die Gemeinde gehen. Menschen mit geringen Gemeindekontakten zu erreichen ist eines der Ziele von aktuellen Kirchenreformen. Weil die Verantwortlichen davon ausgehen, dass mit dem Mitgliederschwund auch die Kirchensteuern sinken, wollten sie das dann mit einer stärkeren Regionalisierung von Aufgaben, Gemeindezusammenlegungen und all diesen verhassten Instrumenten erreichen.

Nächstenliebe, nicht Erlösung, wird die zentrale Botschaft sein

Meine persönliche Sicht darauf ist: Die verfasste Kirche möchte die bestehende Struktur der Volkskirche gern erhalten, nur eben mit weniger Mitteln. Ich weiß aber nicht, ob das auf Dauer geht, wenn die Kirche im Sinne der Gemeinschaft der Gläubigen kein homogenes Gebilde mehr ist. Die Katholiken haben es da einfacher mit ihrer inneren Vielfalt, weil der Papst und der ganze Vatikan als übergreifende Identifikationsfiguren für alle Katholiken gelten, gleich welcher Richtung. Wir Evangelischen haben diese zentrale Identifikationsfigur nicht. Unsere Glaubenspraxis teilt sich immer weiter in einzelne Gruppen, und natürlich kann keine dieser Gruppen beanspruchen, die wahre Ausübung des Glaubens zu haben. Dokumente wie das Apostolische Glaubensbekenntnis funktionieren nicht mehr als gemeinsamer Zusammenhalt, weil auch Glaubenssätze wie die Jungfrauengeburt oder die Auferstehung (zu Recht!) theologisch verschieden diskutiert werden können und sich auch gläubige Christen heute das Recht herausnehmen, ihre eigenen Schlussfolgerungen aus der Schrift zu ziehen.

Wenn Sie mich also nach einer Reflektion über die Zukunft der Kirche fragen, dann werfe ich mal einen Blick hundert Jahre weiter und sehe folgendes: Nächstenliebe mit Jesus als Vorbild funktioniert als das gemeinsame Ziel, dem sich alle Christen anschließen können. Christen beider Konfessionen sind aber keine Mehrheit der Gesellschaft mehr. Diese Christen arbeiten in großen und kleinen frei gewählten Strukturen zusammen, von Einzelgemeinden bis zu Landeskirchen, bloß ohne Papst, es sei denn, es ist eine ökumenische Gemeinde. Sie denken theologisch und politisch unterschiedlich. Die Vielfalt der Auslegungen von Gottesbildern und zentralen Glaubenssätzen macht die Gesamtheit der Kirche aus. Aber eines bleibt: Wer aus Jesu Botschaft heraus Fremden, Homosexuellen und anderen Gruppen Rechte absprechen will, darf sich nicht Christ nennen, weil er keiner ist. Nächstenliebe, nicht Erlösung, wird die zentrale Botschaft des kommenden Christentums sein.

Manchem Leser mag das viel zu weltlich und zu wenig spirituell vorkommen. Ich glaube, ein solches "Konsens-Christentum" ist jetzt schon der Nährboden, auf dem die übernächste Generation von Christen heranwächst, deren Glauben ganz anders aussehen wird als der Glaube der vorvorgehenden Generation. Und die Kirche als Institution wird sich mit dem Glauben zusammen verändern.

Ich wünsche euch und Ihnen ein gesegnetes Wochenende!


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