Liebe evangelisch.de-Nutzerinnen und Nutzer,
brauchen die christlichen Kirchen einen digitalen Cheflobbyisten in Berlin und vielleicht auch Brüssel? Im Prinzip ja, das war jedenfalls die Antwort der Tagung "Kirche im Web", auf der ich Donnerstag und Freitag war. Dafür müssten die Verantwortlichen in der Kirche aber erkennen, dass Netzpolitik auch aus christlichen und theologischen Grundlagen schöpfen kann. Eine Erkenntnis, für die die aej bereits 2015 bei ihrem Netzpolitischen Kongress im Nachgang der Digital-Synode 2014 geworben hat, die aber noch lange nicht ausdiskutiert ist.
Die Ansätze, die die (mehrheitlich katholischen) Teilnehmenden bei #kiw16 diskutierten, setzten an zwei Kernpunkten an: Wer die Teilhabe auch der wirtschaftlich Schwächsten an unserer Gesellschaft unterstützen will, muss ein Grundbedürfnis auf Internet anerkennen. Schon für die Arbeitssuche ist das Netz viel wichtiger als ein Fernseher - aber letzterer steht derzeit zum Beispiel unter Pfändungsschutz. (Wobei man fairerweise sagen muss, wie sich in der Diskussion dann auch ergab: Ein Internet-Router wird in der Regel auch nicht gepfändet, weil er üblicherweise kein Geld bei einer Versteigerung einbringt.)
Johanna Haberer, Professorin für Christliche Publizistik in Erlangen, brachte noch den zweiten Punkt in die Diskussion: Kirche muss ihr "Wächteramt über Medien" auch mit Blick auf die Systemarchitektur wahrnehmen, also mit Google und Facebook reden."Wir scheitern, wenn wir nicht die Architektur des digitalen Raumes mitgestalten", gab Haberer den Zuhörenden mit. Die Kirche sollte also nicht nur Inhalte im Netz verbreiten, sondern auch darüber hinaus Einfluss auf den technischen Kontext nehmen.
Aus der Diskussion ergab sich aber auch, dass der positive Blick auf das Nutzererlebnis - ich pflege Kontakte, finde interessante Inhalte, erreiche viele Menschen über Plattform wie Facebooke etc. - und der kritische strukturelle Blick auf die Algorithmen und Plattform-Oligarchen gemeinsam nebeneinander stehen müssen anstatt sich zu widersprechen. Wenn Menschen aus beiden großen Kirchen auf eine faire Behandlung aller Nutzer im Netz pochen, dann legen sie ihrer Analyse keine marktwirtschaftliche Sicht zugrunde, sondern eine theologische, eine dem einzelnen Menschen zugewandte Perspektive.
Die Praxis loben, das Problem kennen
So kann man dann gleichzeitig loben, was Kirchenmenschen praktisch auf Facebook machen und zugleich die algorithmisch gesteuerte Echokammer des sozialen Netzwerkes kritisieren, ohne sich grundsätzlich zu widersprechen. Allerdings gibt es nur ganz wenige Menschen innerhalb der Kirche, die diese Position aus dem vollen Dreiklang von praktischer Erfahrungen im Netz, akademisch fundierter Reflexion und theologischem Sachverstand entwickeln können. (Ein sehr guter Ausgangspunkt dafür, vielleicht sogar der beste, ist übrigens Ralf Peter Reimanns Blog theonet.de.)
Weil Netzpolitik eben auch ein kirchliches Thema ist, hat ein Teil der Teilnehmenden am Freitag nach dem evangelisch besetzten Impuls-Podium (Johanna Haberer, Christoph Breit, Werner Thiede) die Idee noch weitergesponnen, welche Form eine netzpolitische kirchliche Vertretung denn haben könnte. Der Gedanke eines "ökumenischen digitalen Cheflobbyisten" führte in der Diskussion dann zu der Idee, dass es doch eher eine Gruppe sein müsse, eher ein "Think Tank" als ein einsamer Streiter. Der müsse eine "positiv-kritische Grundhaltung" gegenüber den sozialen Medien und Online-Kanälen mitbringen (also eher kein Datenschützer sein) und sich mit den bisherigen Vertretern der Kirche(n) im Politikbetrieb vernetzen. Ein Modell, von dem man lernen könnte, wäre beispielweise der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK), in dem die gemeinsame Vertretung von Interessen auf einem kleinsten gemeinsamen Nenner bereits funktioniert.
Aber vor allem - und das ist ein Rat, der mir selbst sehr sympathisch ist, weil ich ihn 2015 im Synodenreader auch schon gegeben habe: Jeder muss selbst ein bisschen Lobbyist sein, bei Kirchenleitenden, auf Facebook, im Gespräch, auf Tagungen und Synoden. Kirche wird eben dort sichtbar, wo Menschen sagen: Ich gehöre dazu, und ich stehe dafür ebenso wie für andere inhaltliche Themen.
Wer sich in diese Diskussion direkt mit einklinken will, kann das spätestens bei "Kirche im Web" 2017, dann im Jahr des Reformationsjubiläums, am 23./24. März 2017 in Münster. Zusammen mit den Akademien der Bistümer Münster und Rottenburg-Stuttgart, der Clearingstelle Medienkompetenz der DBK und der katholischen Medien-Dienstleistungsgesellschaft MDG wird auch evangelisch.de dann wieder mitveranstalten. Den erfolgreichen Barcamp-Nachmittag, den wir bei dieser Tagung erstmals ausprobiert haben, wird es dann auch wieder geben. Ich freue mich auf alle Protestanten, die 2017 dazukommen möchten!
Ich wünsche ich euch und Ihnen ein gesegnetes Wochenende!
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