Liebe evangelisch.de-Nutzerinnen und -Nutzer,
am Strand von Bodrum in der Türkei wird ein toter Junge am Stand angeschwemmt. Alan Kurdi, drei Jahre alt, zusammen mit seinem fünfjährigen Bruder Galib und Mutter Rehan im Mittelmeer ertrunken. Es ist bisher DAS Bild für die Flüchtlingskrise - ein Bild, das mehr Sog entfaltet als alle anderen Bilder von überfüllten Booten und Zügen voller Menschen. Darf man das Bild von dem toten Jungen zeigen? Diese Frage haben in der vergangenen Woche viele Menschen und Medien diskutiert - eine sehr gute Zusammenfassung gibt's im Altpapier von Freitag.
Viele von uns sind allerdings gar nicht über traditionelle Medien (wie die Tagesthemen, die direkt mit dem Foto aufmachten) darauf gestoßen worden, sondern über Facebook. Das Bild des toten Alan entwickelt noch einen ganz anderen Effekt, wenn man es "zwischen Geburtstagswünschen und Kinderbildern" sieht, wie es eine Kollegin in der Redaktionskonferenz beschrieb. Das ist immer noch etwas anderes als so ein Bild auf dem Titel der "Bild" im Zeitungsständer aus den Augenwinkeln zu erspähen.
Auf Facebook haben die Nutzer nicht (mehr) die Kontrolle, von vornherein wegzuschauen. Man schaut ohnehin schon konzentriert auf den Bildschirm, so schnell weggucken kann niemand. Bei Videos, die von alleine starten, ist das noch viel krasser. Ende August wurden in den USA eine Journalistin und ihr Kameramann vor laufender Kamera erschossen (hier der Bericht auf CNN). Der Mörder postete ein Video von der Tat selbst auf Facebook - und andere Menschen teilten das, bevor Facebook und Twitter die Accounts des Mörders schlossen.
Wer rechnet denn damit, von einem automatisch startenden Video eines Mordes auf Facebook überrascht zu werden? Und - viel wichtiger - wer teilt sowas?
Es ist und bleibt eine Aufgabe von Medien, Bilder der Wirklichkeit zu zeigen. Aber es macht einen Unterschied, in welchem Kontext das geschieht. Wer das Bild einfach so, ohne Warnung, in die Welt schickt, schockiert über Gebühr. Journalisten haben gerade online die Möglichkeit, vor solchen Inhalten zu warnen und eine Schranke davor zu setzen, die bewusst überwunden werden muss. Der Facebook-Algorithmus kennt diese ethische Verantwortung nicht. Dabei gibt nur wenige Bilder (und Videos), die wirklich jeder sehen MUSS - das Bild des toten Alan gehört aus meiner Sicht nicht dazu. Genug Menschen können und wollen sich der emotionalen Belastung, ein totes Kind zu sehen, nicht aussetzen.
Vergessen darf man allerdings nicht, dass Christen (so lange sie keine Reformierten sind) mit dem getöteten Jesus am Kreuz auch immer wieder Leid und Tod zeigen. Mit dem Bild des Gekreuzigten ist aber eine Geschichte der Hoffnung und der Auferstehung verbunden (übrigens einer der größten Kritikpunkte an Mel Gibson's "Passion of the Christ", dass dieser Teil der Geschichte in dem Film einfach fehlt, aber das nur am Rande). Das Bild des toten Kindes ist dagegen ein Ausdruck großer Hoffnungslosigkeit. Für mich ist das ein weiteres, eindeutiges Signal dafür, dass Deutschland und Europa sich verändern müssen, von den Außengrenzen bis ganz nach innen.
Denn das Leid der Menschen, die aus ihrer Heimat vertrieben sind, können wir nur lindern, wenn wir ihnen hier helfen und gleichzeitig daran arbeiten, die Fluchtgründe zu beseitigen. Sechs Vorschläge, wie Flüchtlinge hierzulande schneller Fuß fassen können, hat Kerstin Griese für epd-sozial benannt - ein guter Aufschlag für die Debatte, was wir über die Soforthilfe in Erstaufnahme-Einrichtungen hinaus politisch tun können.
Geschichten wie die des ertrunkenen Alan Kurdi helfen hoffentlich dabei, auch die Skeptiker endlich davon zu überzeugen, dass unsere westliche, christliche Gesellschaft einen weitreichenden Hilfsauftrag hat. Wer aber erst das Bild sehen musste, um auch nur ein Fünkchen Empathie zu empfinden, den beneide ich nicht um sein erschreckend kaltes Herz.
Öffentlich kann sich übrigens jeder selbst positionieren, gerade dort, wo die Fremdenhasser ihre Parolen fast ungehindert loswerden können: Auf Facebook. Wir laden Sie ein, mit dem Profilfoto "Refugees Welcome" klar Position zu beziehen, damit die Minderheit der Ausländerfeinde merkt, was sie sind: Eine unchristliche Minderheit.
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