Jede Glaubenserfahrung beginnt mit einem persönlichen Kontakt. Irgendjemand muss dir beibringen, dass bestimmte Erfahrungen im Glaubenskontext gedeutet werden können, sonst tust du es nicht. Die wenigsten Menschen beginnen ihren Glauben direkt aus religiösen Texten, sondern bekommen dieses Framing im Kindesalter beigebracht. Auch die, die ihren Glauben später entdecken, schließen sich üblicherweise nicht 40 Tage mit der Bibel in einem Zimmer ein und kommen als Christen wieder raus.
Der Glaube, der sich sola scriptura erschließt, braucht Predigt, Auslegung, Gedanken und Gespräch. Das schaffen Bezugspersonen, denen ich vertraue, dass sie mir keinen Unsinn erzählen - gemeinhin wird das zusammengefasst unter dem Stichwort Authentizität.
Diese Bezugspersonen brauchen wir auch online. Denn Gemeinde bildet sich um Personen. Das sind in der verfassten Kirche eben Pfarrerinnen und Pfarrer, und die sind nicht talar-gewordene Theologie, sondern Menschen aus Fleisch und Blut und Geist. Es war schon immer so, dass Amt und Person sich nicht sauber trennen lassen. Nicht umsonst ist Pfarrer*in eine Berufung und nicht nur ein Beruf.
Als soziale Medien noch nicht jeden Bereich unseres Alltags berührten, musste meistens die Person hinter dem Amt zurückstehen. Wenn die Pfarrerin morgens in Schlappen zum Bäcker geht, wird sie direkt als Pfarrerin erkannt. Wenn der Pfarrer im Hawaii-Hemd im Supermarkt einkauft, wird er direkt als Pfarrer erkannt.
Die Gemeindemitglieder stört das nicht.
In sozialen Medien zeigen sich Personen als Menschen mit allem, was dazu gehört, und das Verhältnis dreht sich um: unsere Geistlichen dort sind nicht in erster Linie Pfarrer*innen, sondern Menschen, und das Amt steht hinter der Person zurück. Wenn die Pfarrerin ein Foto von sich schulterfrei mit Lippenstift postet, wird sie auch als Pfarrerin erkannt.
Die Gemeindeglieder stört das.
Womit wir beim Auslöser für diese Überlegungen sind.
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Die Pfarrer*innen, die heute besonders prominent auf Instagram unterwegs sind (ich nenne beispielhaft Theresa liebt, seligkeitsdinge_, wasistdermensch, pfarrerausplastik, breitesterpastor) sind dort nicht als theologie-durchtränkte Kunstwesen. Sie sind dort, weil sie Menschen in dieser Welt sind. Ich kenne einige von ihnen durch die Arbeit an dem neuen Evangelischen Content-Netzwerk, das wir im GEP entwickeln, denn unter anderem mit ihnen reden wir darüber, was dieses Netzwerk sein kann, soll und wird. (Konkreter wird es 2020.) Mein Eindruck ist: Sie verstehen sehr wohl, welche Bedeutung das Pfarramt hat, und welche Verantwortung Pfarrer*innen haben.
Zugleich sind sie aber eine neue Generation Theolog*innen, die das Priestertum aller Gläubigen umkehren, nämlich hin zum Amt. Das Priestertum aller Gläubigen, wie ich es verstehe, heißt nicht nur, dass auch andere Menschen als Pfarrer*innen predigen dürfen. Es heißt auch, dass es keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen Pfarrer*innen und Gemeindegliedern gibt. Alle Getauften stehen im gleichen Verhältnis zu Gott und zur Kirche. Das stimmt natürlich nicht mit Blick auf Anstellungsverhältnisse; Pfarrer*innen haben mehr Zeit für Theologie, Liturgie, Diakonie und so weiter, weil wir sie per Kirchensteuer dafür bezahlen.
Sie stehen aber nicht auf einer "höheren Stufe" zu Gott. Die Reaktionen auf die neue Instagram-Generation zeigen uns, dass die Verehrung von Talarträgern in der evangelischen Kirche zu weit gegangen ist. Natürlich sind die meisten Bilder auf Instagram Bilder von ihnen selbst als Personen statt als Amtsträger. Sie stehen dort als Menschen zur Verfügung, sie reden ausgehend von einer Stellung mitten unter uns, weil sie sind wie wir!
Priestertum aller Gläubigen ist auch die Menschlichkeit aller Priester
Von dort können sie Predigt, Auslegung und Gespräch beginnen, und immer wieder neu sehen, wie sie den Glauben und die Nachfolge Jesu in ihr Handeln einbauen. Wenn wir sie aber darauf reduzieren, werden wir dem Priestertum aller Gläubigen nicht gerecht. Es enthält nämlich auch die Menschlichkeit aller Priester, die gerade in sozialen Medien wieder öffentlich sichtbar wird.
In vier Tagen feiern wir an Weihnachten die Geburt Jesu Christi. Gott wird Mensch, wird anfassbar, erlebbar, sterblich. Ohne Jesus, in dem Gott so wird wie wir Menschen, hätte sich die Botschaft des Evangeliums nie so verbreitet. Die Gewöhnlichkeit und Verletzlichkeit, die Jesus mitbrachte, war entscheidend. Es wird zu seinen Zeiten auch Menschen gegeben haben, die diesen Wanderprediger gesehen haben und dachten: "was ist das denn für einer?", nie eine seiner Predigten hörten und nichts anderes gesehen haben als einen besitzlosen Redner auf dem Weg durch Galiläa.
Wer nur den Menschen sieht, sieht nicht genug. Wer nur das Amt sieht, sieht nicht genug. Unsere Pfarrer*innen müssen beide Erwartungen erfüllen. Gerade in sozialen Medien steht aber der Mensch im Vordergrund. Denn mit dem Kontakt zum Amt wird keine Glaubensbiografie beginnen. Wenn ein Mensch einen anderen für unsere Botschaft empfänglich macht, hat der Heilige Geist es leichter. Dazu muss man vor allem erstmal Mensch sein und sein dürfen. Und die größte Menschwerdung von allen feiern wir an Weihnachten – in den Kirchen ebenso wie auf Instagram.
In diesem Sinne: Gesegnetes Fest und einen guten Start ins Jahr 2020!
Im Blog Confessio Digitalis schreibe ich meine Beobachtungen, Links und Interviews zu den Themen Digitalisierung, Digitale Kirche und digitalisierte Welt auf. Ich bin erreichbar auf Twitter als @dailybug.
P.S.: Leser*innen haben mich darauf hingewiesen, dass Digitalis auch der Name der Fingerhut-Pflanzen ist, die zu Gift verarbeitet werden können. Das lässt den Blogtitel Confessio Digitalis natürlich ein bisschen fies klingen. Andererseits behandelt man mit Digitalis-Präparaten auch Herzprobleme. Und dass das digitale Herz der Kirche besser schlägt, ist mir ein Anliegen. Deswegen lasse ich den Namen des Blogs so - nehmt es als Präparat!