Manchmal tauchen Geschichten auf, die man zweimal lesen muss, weil sie so unglaublich klingen. Was Craig Silverman für Buzzfeed über eine Firma namens Ads Inc. recherchiert hat, ist so eine Geschichte. Sie zeigt fast alles auf, was derzeit an Facebook – und an Medienkompetenz – problematisch ist.
"Ads Inc." ist eine amerikanische Firma, die sich auf ein betrügerisches Geschäftsmodell spezialisiert hatte, das auf zwei Säulen fußt: Der Unbedarftheit von Nutzer*innen und Facebook als Werbeplattform.
Das funktioniert so: Die Firma denkt sich Geschichten über Prominente aus und postet bezahlte Links zu diesen erfundenen Geschichten auf Facebook, die dann genauso aussehen wie Fox News oder andere bekannte Nachrichtenseiten, aber von Ads Inc. nachgebaut wurden. Auf diesen Seiten platziert Ads Inc. dann auffällige Anzeigen für irgendein hippes Produkt, dass diese Prominenten angeblich auch benutzen. Die Probepackung kostet nur ein paar Dollar, aber damit schließt der Kunde gleich ein Abo ab, das dann fast unmöglich kündbar ist. "So ziemlich der einzige Weg, das Abo wieder loszuwerden, ist, die Kreditkarte zu kündigen", zitiert Silverman einen Mitarbeiter von Ads Inc. Verschickt werden meist Placebo-Produkte zweifelhafter Herkunft, klassisches Snake Oil.
Damit Facebook aber nicht auffällt, dass eine einzige Firma tausende von Anzeigen schaltet, die auf erfundene Inhalte mit Abzocker-Angeboten führen, hat sich Ads Inc. einer anderen Methode bedient. Menschen auf den Philippinen erstellen für drei Dollar Stundenlohn echte Facebook-Seiten zu beliebigen Themen, die mit geringem Aufwand ein paar hundert Likes von echten Facebook-Usern einsammeln. Diese Facebook-Seiten überschreiten damit die Hürde, auf Facebook Werbung schalten zu dürfen. Buzzfeed hat bei der Recherche rund 1.700 solcher Seiten gefunden, die Ads Inc. seit 2016 betrieben hat.
Hausfrauen, die Werbeboxen verticken
Weil Facebook aber immer persönliche Accounts erfordert, um Werbung zu schalten, hat Ads Inc. weitere Ebenen eingezogen, um ihre vielfältigen Werbeaktivitäten zu verschleiern. Die Firma bot Facebook-Nutzer*innen Geld, um Zugang zum Account zu bekommen und darüber Werbung zu schalten: 10 Dollar Einstiegsprämie, danach 15 bis 30 Dollar pro Monat. Alles, was die Nutzer*innen dafür tun müssen, ist, ihr Passwort weiterzugeben und ein paar Einstellungen in ihrem Facebook-Account anzupassen – und dann einen Rasperry-Pie-Minicomputer von Ads Inc. an ihren Internet-Router zu hängen. Fertig: Geld verdienen, ohne etwas dafür zu tun.
Aber selbst diese Menschen hat Ads Inc. nicht selbst angeworben. Dafür haben sie sich wiederum andere Menschen gesucht, die sich von zuhause ein bisschen Geld dazuverdienen wollten. Meistens amerikanische Hausfrauen, die ihre Freunde und Familie mit diesen "Werbe-Boxen" versorgt und sich damit einen Nebenverdienst aufgebaut haben.
Der Vorteil für Ads Inc. war, dass dadurch vollkommen echte und glaubwürdige Facebook-Accounts hinter den Werbeschaltungen stehen, die jeweils auch nur geringe Werbesummen aufwenden. Das alles noch mit unterschiedlichen Kreditkarten, und Facebook sieht das Netzwerk vor lauter Leuten nicht.
Die ganze Geschichte wird dadurch noch tragischer, dass der 27-jährige Firmengründer während eines Besuchs in Kenya gestorben ist, während er vorhatte, seine Werbe-Aktivitäten in legale Fahrwasser zu bringen.
Nicht einfach fremde Hardware in kritische Infrastruktur stecken
Es lohnt sich, die ganze Geschichte (allerdings englischsprachig) auf Buzzfeed zu lesen. Sie lässt mich fassungslos zurück, wie sorglos Menschen mit einer kritischen Infrastruktur wie dem Internet umgehen. Der ganze Ablauf der Firma zielt dabei auf die Generation der "Baby Boomer", die etwa zwischen 1945 und 1965 geboren sind, also heute Mitte 50 und älter sind. Nur in dieser Altersgruppe funktioniert das Abzocke-Abo-Modell, verraten Ads Inc.-Angestellte in dem Artikel: "Wenn du das mit allen anderen versuchst, ist es ein Desaster." Aber mit den älteren Facebook-Nutzer*innen ist die kriminelle Kombination aus erlogenen Inhalten und betrügerischen Abos lukrativ. Und von denen finden Firmen mit krimineller Energie unter den 2,4 Milliarden Facebook-Nutzern weltweit ausreichend viele.
Das alles verstößt natürlich gegen die Nutzungsbedingungen von Facebook, gegen verschiedene Gesetze, die Konsumenten vor betrügerischen Geschäftspraktiken schützen sollen, gegen die Persönlichkeitsrechte der Prominenten und die Urheberrechte der kopierten Webseiten. Die Firma hat nach der Buzzfeed-Recherche inzwischen ihre Aktivitäten eingestellt.
Für mich bleibt unverständlich, dass Menschen sich einfach ein kleines Stück Hardware zuschicken lassen und das einfach so an ihren Router hängen. Das ist in etwa so, wie ein Pulver unbekannter Herkunft in den Abluft-Ausgang der Abzugshaube in der Küche zu legen, weil jemand sagt, das verbessere die Luft draußen. Parfum? Asbest? Sägemehl? Keine Ahnung, aber es gibt ja Geld dafür, also wird es schon legitim sein.
Diese ganze Geschichte ist ein Signal, dass wir in einer Zeit der totalen Entgrenzung leben. Moralische Entgrenzung, weil Leute wie Ads Inc. kein Problem damit haben, mit dreister Abzocke gutgläubigen Menschen ihr Geld aus der Tasche Kreditkarte zu ziehen. Regionale Entgrenzung, weil das System ohne die billigen Dienstleister auf den Philippinen zu teuer würde. Technische Entfremdung, weil die Menschen, die ihren Account-Zugang gegen Geld weitergeben, offenbar nicht verstehen, welchen Schaden sie damit ermöglichen. Servicehinweis: Geben Sie nie ein Passwort an Menschen weiter, die Sie dafür bezahlen wollen!
Im Hintergrund unserer gesellschaftlichen Existenz sind die weltweiten Netze schon längst nicht mehr wegzudenken. Was es aber bedeutet, in einer vollständig vernetzten Welt zu leben, in der fast jeder fast jeden Anschein erwecken kann, haben noch lange nicht alle Menschen verstanden. Besonders nicht die, die sich einfach fremde Hardware direkt in ihre kritische Infrastruktur stecken.
Vielen Dank für's Lesen und Mitdenken!
Im Blog Confessio Digitalis schreibe ich meine Beobachtungen, Links und Interviews zu den Themen Digitalisierung, Digitale Kirche und digitalisierte Welt auf. Ich bin erreichbar auf Twitter als @dailybug.
P.S.: Leser*innen haben mich darauf hingewiesen, dass "Digitalis" auch der Name der Fingerhut-Pflanzen ist, die zu Gift verarbeitet werden können. Das lässt den Blogtitel "Confessio Digitalis" natürlich ein bisschen fies klingen. Andererseits behandelt man mit Digitalis-Präparaten auch Herzprobleme. Und dass das digitale Herz der Kirche besser schlägt, ist mir ein Anliegen. Deswegen lasse ich den Namen des Blogs so - nehmt es als Präparat!