Eine alleinerziehende Mutter mit vier Kindern arbeitet in einer 75-Prozent-Stelle und kann das Geld für zwei Klassenfahrten nicht aufbringen, 750 Euro zusammen. Sie berichtet darüber auf Twitter. Es finden sich hunderte Menschen, die ihr Geld schenken. 5 Euro, 20 Euro, 50 Euro – bis jetzt waren es 704 Menschen, die ihr 17.110 Euro geschenkt haben. (Offenlegung: Ich habe auch mitgemacht.)
Für sie und ihre Kinder bedeutet das Geld, wie sie selbst schreibt, Reserven: Überraschende Ausgaben können jetzt auch mal kommen, "ohne Angst".
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Das ist eine Geschichte von Nächstenliebe, wie sie sich viele Menschen wünschen und wenige überhaupt nur vorstellen können. Aber natürlich melden sich auch da Neider. Menschen, die @chaosundich das unverhoffte Glück nicht gönnen. Ich finde, die Geschichte illustriert sehr gut, wie Social Media in beide Richtungen – zum Guten und zum Schlechten – funktionieren kann. Und dass es an uns liegt, diese Wippe in eine Richtung zu bewegen.
Die eine Seite von Social Media ist die Verknüpfung von Menschen miteinander, die als große Menge etwas erreichen können, was eine einzelne Person nicht kann. (#Keine(r)BleibtAllein funktioniert ähnlich, auch das gelingt nur, wenn möglichst viele Menschen mitmachen.)
Die andere Seite von Social Media ist das "Like", der Daumen nach oben, das Herz. Ein "Like" auf einen Tweet, einen Facebook-Post, ein Instagram-Foto heißt oft: Mir gefällt das. (Es wäre an der Zeit, dass die Plattformen eine anständige "Will ich später lesen"-Markierung einführen.) Wenn es dabei um Produkte, wertvolle Dinge oder Geld geht, kann es auch heißen: Ich will das auch. Auf diesen Effekt hoffen alle Marken, die Influencer-Marketing machen, die also Menschen mit vielen Followern (vor allem auf Instagram) dafür bezahlen, mit ihren Produkten öffentlich zur Schau zu stehen.
Die Hoffnung auf diesen Effekt steht natürlich auch hinter jeder Fernsehwerbung mit Prominenten, aber da gibt es dieses unmittelbare, öffentliche Signal der Bestätigung nicht.
Beides – das Vernetzen und das "Like" – können positiv oder negativ funktionieren. Den negativen Effekt der Vernetzung erleben gerade viele, die sich öffentlich gegen die AfD, Identitäre und Neonazis positionieren. Das politisch rechte Meinungsspektrum ist sehr gut vernetzt. Claudia Roth hat das neulich erfahren, als sie den Versuch der AfD unterbrach, den Mord an der 14-jährigen Susanna zu instrumentalisieren.
Die Unterstützung für @chaosundich zeigt das Gegenteil: eine positive Welle, die für die Einzelnen nur wenig, für die Beschenkte aber sehr viel ausmacht.
Das "Like" in seiner Bedeutung als "das will ich auch" kann negativ als Verstärker von Neid und Missgunst funktionieren. Erstens, weil mehr Menschen Dinge mit vielen Likes sehen und damit mehr Gelegenheit für Neid entsteht. Zweitens aber auch, weil mit der Entscheidung "Das gefällt mir." Auch immer das Nachdenken kommt, dass es einem auch nicht gefallen könnte.
Auf der anderen Seite können viele "Likes" und Reaktionen segensreich sein. Gerade Menschen, die Social Media nicht nur dafür nutzen, die positiven Seiten ihres Lebens zu zeigen, sondern ihre Ängste und Nöte raustragen in die Welt und ihre Seele offenbaren, können von positiven Reaktionen aufgefangen werden. Dafür ist @chaosundich nur eines von ganz vielen Positivbeispielen, die immer wieder durch meine Timeline fließen.
Da fängt Nächstenliebe an: mit einem "Like" auf Social Media für diejenigen, die es brauchen. Klingt banal, ist es aber in ganz bestimmten Situationen eben nicht. Es reicht auch nicht immer. Aber es ist ein guter Anfang. Social Media werden erst dann "sozial", wenn ganz viel geherzt statt gehetzt wird.
(Oder, wie Ralf Peter Reimann neulich sagte: "Auch den Menschen, die auf Facebook sind, sind wir das Evangelium schuldig.")
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Vielen Dank für’s Lesen & Mitdenken!
Im Blog Confessio Digitalis schreibe ich meine Beobachtungen, Links und Interviews zu den Themen Digitalisierung, Digitale Kirche und digitalisierte Welt auf. Ich bin erreichbar auf Twitter als @dailybug.
P.S.: Ich habe zwei Rückmeldungen bekommen, die mich darauf hingewiesen haben, dass "Digitalis" auch der Name der Fingerhut-Pflanzen ist, die zu Gift verarbeitet werden können. Das lässt den Blogtitel "Confessio Digitalis" natürlich ein bisschen fies klingen. Andererseits behandelt man mit Digitalis-Präparaten auch Herzprobleme. Und dass das digitale Herz der Kirche besser schlägt, ist mir natürlich ein Anliegen. Deswegen lasse ich den Namen des Blogs erstmal so - nehmt es als Präparat.