Wo bleibt das Destruktive?
Reiner Pfeiffer ist tot, aber möglicherweise hat er einen, nun ja, würdigen Nachfolger gefunden. Im Blickpunkt heute außerdem: Gefangene (Mesale Tolu, Julian Assange), Technikjournalismus (bzw. der Wunsch nach einem ganz anderen) und eine neue Härte (von Google und anderen gegenüber neuen Nazis).

Wenn das Altpapier nach einer nach dem 18. August beginnenden Pause auf einer neuen Plattform erscheinen wird (zur Frage, ob, wie und wann es weitergeht, siehe unter anderem die Kolumne von Montag), werden wir, das scheint leider sicher zu sein, über die Situation der in der Türkei inhaftierten Journalisten weiterhin so schreiben müssen wie bisher. 

Gestern fand hier ein Brief Mesale Tolus Erwähnung, der erst mit mehreren Tagen Verspätung ihre Adressaten erreicht hatte. Ihre derzeitige Situation schildert Tolu auch in einem Briefinterview, das Kevin Hoffmann für die Dienstags-Ausgabe des Neuen Deutschland (€) geführt hat. Über ihren Zugang zu Informationen sagt sie:

„Ab und zu bekomme ich Artikel aus deutschen Medien über meine Situation und Informationen über die Solidaritätsaktionen, die in Deutschland für meine Freilassung organisiert werden. Dafür möchte ich mich herzlich bedanken.“ 

Sowie: 

„Ich bekomme durch die Mitarbeiterinnen des Konsulats zum Beispiel deutschsprachige Zeitschriften und einige Kinderbücher für meinen Sohn.

Die verstörendsten Passagen betreffen ihren Kontakt zur Außenwelt („Kontakt zu meinem Mann habe ich nur per Brief. Telefonieren darf ich mit ihm nicht“) und die Situation, in der sich einige der 23 Frauen befinden, mit deinen Tolu in einer Gemeinschaftszelle untergebracht ist:

„Vier von ihnen wurden zu lebenslanger Haft verurteilt, die übrigen mindestens zu 6,5 Jahren Haft. Unter ihnen ist Hatice Duman. Sie ist ebenfalls Journalistin und gilt als die am längsten eingesperrte Journalistin der Welt. Seit 14 Jahren sitzt sie für ihre Arbeit bereits im türkischen Gefängnis.“

Ausführlicher über Hatice Duman hat kürzlich die Frankfurter Rundschau geschrieben.

Zum Thema passend: in der Arte-Reportage-Reihe “Re:“ ist am Donnerstag der Film „Erdogans Geiseln. Mutige Frauen von Gefangenen“ zu sehen, für den die SWR-Autorin Lourdes Picareta die Frauen von drei Männern begleitet hat, die in türkischen Gefängnissen sitzen, darunter ein Journalist und ein Karikaturist.

[+++] Ein Porträt eines Mannes, der anderswo auf andere Weise gefangen ist, gehört zu den empfehlenswerten Longreads dieser Tage. Die Rede ist von einem Julian-Assange-Porträt, das im New Yorker erschienen ist. Dass ich es komplett gelesen habe, möchte ich hier allerdings nicht vorgaukeln. In der PDF-Version umfasst es 48 Seiten. Am Ende schreibt Autor Raffi Khatchadourian:

„Leaving Assange in the Embassy was always a vexed experience. Sometimes he abruptly ended our conversation, ran to his bedroom, and closed the door, and I let myself out. Sometimes he walked me to the lobby. Once, I stopped halfway to the exit, realizing that I had forgotten my passport, and said, ‚Oh, I can’t leave without that!‘ He was silent for a moment, and then began, At least you— (...) In his face, his slouching physique, he seemed the saddest I had ever seen him.

During my last visit to London, I stayed with Assange until midnight. As I got ready to leave, he stood to see me to the door, but before taking a step he stopped and became lost in thought. He whispered something I could not fully hear. Then, speaking as if he were observing the fall of Rome, he explained that he thought America’s empire might finally be collapsing. With a long gaze and a faint smile, he again whispered what he had said: 'This could be the beginning.'” 

[+++] Bereits ein paar Tage alt, aber einen Befund liefernd, über den es sich auch durchaus noch ein paar Tage nachzudenken lohnt: ein NZZ-Artikel Stefan Betschons zur Entwicklung und Lage des Technikjournalismus:

„Es herrscht im Internet kein Mangel an Informationen zu technischen Themen. Es gibt Tausende von News-Outlets, die sich der Technik-Berichterstattung widmen. Im Minutentakt jagen einander Kurzmeldungen über neueste Gags und Gadgets. Und doch fühlt man sich als Technik-interessierter Medienkonsument manchmal wie ein Schiffbrüchiger, der mitten im Wasser, auf dem Meer treibend, verdurstet.“

Denn: Jenseits der hechelnden Verbreitung von Quasi-PR fehlt es aber an substanzieller Auseinandersetzung mit Computertechnik. Betschon fragt:

„Es ist vorstellbar, dass Computertechnik ohne Computerjournalismus gedeiht. Ist es auch wünschbar? Soll man die Technik den Technikern überlassen? Und die User sich selbst? Wer eine Technik will, die möglichst vielen Menschen nützlich ist, sollte auch möglichst viele Menschen an der Weiterentwicklung dieser Technik beteiligen. Um das Gespräch zwischen den Usern und den Technik-Experten im Fluss zu halten, braucht es Technikjournalisten. Technikjournalismus soll Lust machen, die Gehäusedeckel aufzuschrauben, Technik respektlos zu zerlegen, infrage zu stellen.“

[+++] Was fehlt derzeit noch, neben der Respektlosigkeit im eben beschriebenen Sinne? Die destruktive Kritik. Was es mit dieser pauschalen Aussage auf sich hat? Genaueres ist in einem Interview zu erfahren, das das Deutschlandfunk-Kultur-Magazin „Corso“ mit Roger Behrens, Mitherausgeber einer neuen Ausgabe der Zeitschrift Testcard, geführt hat. „Kritik“ lautet scheinbar schlicht das Thema der Ausgabe, und zwar deshalb:

Kritik scheint sich um 1984 verabschiedet zu haben, seither herrscht Gelaber, ‚die Postmoderne‘, ‚Marketing‘. Ist ja eh schon alles Pop! Zu diesem Eindrucksgemisch, dessen Bestandteile jeweils eine gewisse Stichhaltigkeit beanspruchen können, muss sich die testcard irgendwie verhalten.“

Im Gespräch mit "Corso" sagt Behrens nun unter anderem:

In der Gesellschaft des Spektakels ist Kritik unspektakulär geworden.

Und: Man komme

„in der Skandalisierung von kritischen Themen gar nicht mehr hinterher. Also man kann überhaupt nichts Kulturelles oder wie auch immer, Gesellschaftliches setzen, was in irgendeiner Weise auch irritierend ist, was vorgegebene Meinungen oder vielleicht auch neue Meinungen irgendwie durcheinanderbringt oder überhaupt bricht, einbricht, durchbricht.

[+++] Außer in der Urlaubszeit, in der das deutsche Fernsehen auf die Erstausstrahlung eigener Fiction-Produktionen verzichtet, nur selten möglich: dass die meisten Fernsehkritiken des Tages einem Dokumentarfilm gelten. Heute profitiert davon Alon Schwarz, der israelische Regisseur von „Aidas Geheimnisse“. Er erzählt „eine unglaubliche Geschichte“ (dpa/Sächsische Zeitung), und zwar von einer „Art Familienzusammenführung“ (Thomas Gehringer, Tagesspiegel). Hans Hoff schreibt in der SZ:

„Eine verworrene Familiengeschichte so zu erzählen, dass der Zuschauer 90 Minuten dabei bleibt und durchgehend versteht, worum es geht, ist sehr, sehr schwer. Erst recht, wenn sich die Geschichte über 70 Jahre und drei Kontinente erstreckt und ihr handelndes Personal Schwierigkeiten hat, die eigene Position zu begreifen. Umso größer fällt die Überraschung aus, wenn es einer Dokumentation gelingt, trotzdem so faszinierend zu erzählen, dass man streckenweise meint, einen Spielfilm zu sehen.“

Im Mittelpunkt stehen „zwei Brüder, die als Kleinkinder getrennt wurden und die lange Zeit nicht voneinander wussten. Beide wurden in Deutschland geboren, in Bergen-Belsen kurz nach dem Krieg“ (Gehringer again). Der Regisseur Schwarz ist wiederum der Neffe eines der beiden hier geborenen Männer. Oliver Jungen (FAZ) bemerkt:

„Die zersprengte Familie (hat sich) von der Vergangenheit nicht unterkriegen lassen, sich sogar einen freundlichen Humor bewahrt. Das verleiht dieser sehr persönlich gehaltenen Reise in die Vergangenheit einen warmherzigen, hoffnungsvollen Glanz, der auch auf der Bildebene wiederzufinden ist: Vertrauliche, aber nie indiskrete Gesprächssituationen, bei denen viel umarmt wird, wechseln sich ab mit kurios-amüsanten Einstellungen.“

[+++] Harter Schnitt, fürs Altpapier bekanntermaßen nicht völlig untypisch: 

„Erinnern Sie sich noch an Reiner Pfeiffer?“ 

So beginnt ein Kommentar des Horizont-Chefredakteurs Uwe Vorkötter, und die Frage richtet sich nicht zuletzt an jene, denen bisher der Name Stefan Schabirosky nicht geläufig war, der seit dem Wochenende (siehe auch Altpapierkorb gestern) auf recht hallodrihaftige und in der Tat zumindest teilweise an den 2015 verstorbenen „Medienreferenten“ Pfeiffer erinnernde Art den Eindruck zu erwecken versucht, dass er vor Jahren eine Art Spin Doctor hinter der kritischen Berichterstattung über Carsten Maschmeyer und seine frühere Firma AWD gewesen sei bzw. er „Herrn Maschmeyer und dem AWD den Blattschuss verpasst“ habe, wie er es im Interview mit dem Handelsblatt (Remix beim Schwestermedium meedia.de) formulierte, das wiederum vorher Auszüge aus einem heute auf den Markt kommenden Büchlein Schabiroskys publiziert hat.

„Man muss Maschmeyer nicht mögen, aber auch in seinem Fall war einst ein Herdentrieb zu beobachten. Manche Kollegen gerieten bei dem Versuch, ihm das Drücker-Handwerk zu legen, in eine Art Blutrausch“, 

meint Thomas Tuma, stellvertretender Chefredakteur der eben genannten Zeitung ebd. (bzw. frei online bei meedia.de). Niklas Hoyer (Wirtschaftswoche) vertritt eine andere Position: 

„Die Medien laufen Gefahr, diesmal wirklich auf Schabirosky reinzufallen. Denn dessen angebliche Infos an Journalisten waren auf keinen Fall der einzige Grund für massive Kritik am AWD.“

Letzteres kann der geneigte Interessent zumindest teilweise selbst nachprüfen, wenn er sich zum Beispiel die 2011 in Sachen Maschmeyer gesendeten Filme „Der Drückerkönig und die Politik“ ("ARD exklusiv", Das Erste) und „Neues vom Drückerkönig“ („Panorama - die Reporter“, NDR Fernsehen) anschaut.

Eine Art Synthese aus den beiden zitierten Positionen formuliert der bereits erwähnte Uwe Vorkötter. Einerseits bemängelt er die fehlende „Selbstkritik“ jener Medien, die in der Vergangenheit mit umfangreichen Recherchen in Sachen Maschmeyer aufgewartet hatten, andererseits macht ihn das weitgehende Wohlwollen, das andere Medien nun gegenüber Schabirosky an den Tag legen, „fassungslos“:

„Stefan Schabirosky, der Mann, dem Journalisten in der Vergangenheit glaubten und dem Journalisten heute wieder die Bühne bereiten, ist ein notorischer Lügner. Ein charakterloser Rufmörder. Übrigens auch ein wegen versuchter Erpressung verurteilter Straftäter. Einer, der jetzt angeblich reinen Tisch machen will – und der ganz nebenbei sein Buch promotet.“


Altpapierkorb

+++ Nach Charlottesville (1) Die US-amerikanische Nazi-Website Daily Stormer, deren Nutzer sich über den Mord an der Demonstrantin Heather Heyer lustig gemacht hatten, ist in den vergangenen Tagen zunächst bei ihrem bisherigen Domain-Provider rausgeflogen und scheiterte dann daran, bei Google unterzukommen. Das berichtet die NZZ. „Nachdem sich Daily Stormer bei Google angemeldet hatte, stellte der Suchmaschinenriese fest, dass die Website seine Richtlinien nicht erfüllt. Diese verbieten Inhalte, die zu Gewalt aufrufen. Auch der Youtube-Kanal von Daily Stormer ist von Google gesperrt worden“, schreibt David Torcasso, der noch weitere Beispiele dafür nennt, dass sich die Haltung der „Tech-Giganten“ gegen Rechtsextreme nach dem Mord an Heyer geändert habe. Der Tagesspiegel behandelt dieses Thema ebenfalls („Google und Facebook zeigen Härte gegen rechte Hetzer im Internet“).

+++ Nach Charlottesville (II): "Here's a compilation of liberal protesters getting pushed out of the way by cars and trucks. Study the technique; it may prove useful (…) None of these clips are new, but that doesn't mean they're not still fresh.“ Diese Anleitung für Mord und Totschlag, verbreitet von der Rechtsaußen-Plattform The Daily Caller, fand sich seit Januar im Web-Angebot von Fox News. Angesichts des Mords an Heather Heyer hat der Sender das Video nun von seiner Webseite entfernt. CNN berichtet. „Wir bereuen, es gepostet zu haben“, sagte Noah Kotch, Chefredakteur von Fox News Digital, laut einer AFP-Meldung (Die Welt).

+++ „Im Saarland gibt es viele Kinder und Jugendliche, die muttersprachliche Kompetenzen, zum Beispiel in Türkisch, Italienisch, Russisch und auch in Arabisch mitbringen. ‚An ausgewählten Schulstandorten werden wir dann diese Sprachen als Unterrichtsfach mit ausgebildeten Lehrkräften anbieten‘, sagt Bildungsminister Commerçon“ - wie die AfD und andere übliche Verdächtige diese Ankündigung des saarländischen Kultusministeriums dank einer, tja, Zuspitzung der Bild-Zeitung verdrehten, hat Stefan Niggemeier für Übermedien aufgeschrieben.

+++ In den Potsdamer Neuesten Nachrichten beschäftigt sich Alexander Fröhlich mit Arne Raue, Bürgermeister im brandenburgischen Jüterbog. Gegen den von einem in dem Text zitieren Grünen so genannten „Abklatsch eines Kleinstadt-Trump“ „läuft bereits ein Disziplinarverfahren wegen eines Boykotts der örtlichen Presse“ (siehe Altpapier), und ein weiteres ist nun in Gang gekommen, weil Raue eine Facebook-Seite mit dem behördliche Sachlichkeit vortäuschenden Titel „Bürgermeister Stadt Jüterbog“ nutzte, um allerlei Aluhut-Positionen zu verbreiten.

+++ Das DLF-Magazin „@mediasres“ befasst sich damit, was „Faktencheck-Initiativen“ „tatsächlich bewirken“ können.

[+++] Dietz Schwiesau, trimedialer Nachrichtenchef bei MDR Sachsen-Anhalt, sagt in einem Interview mit dem Schweizer Portal persoenlich.com, in Deutschland sähen „leider viele“ Radiostationen, „vor allem beim Privatfunk, in den Nachrichten nur noch ein notwendiges Übel (…) Ich beobachte seit Jahren einen starken Trend zur De-Professionalisierung in unserem Geschäft. Nachrichtenmachen? Das kann irgendwie jeder – zumindest aus der Sicht vieler Chefs.“

+++ Mehr in Sachen Hörfunk: Ein „Prototyp für ein kluges Großstadtradio“ sei Radioeins, schreibt Jens Schneider in der SZ anlässlich des 20-jährigen Bestehens des RBB-Programms. „Alles, was Radioeins ausmacht“ fehle dem RBB Fernsehen, so Schneider weiter. „Dort werden gerade Reformen vorbereitet, nicht zufällig sind Köpfe von Radioeins vorn dabei.“

+++ Das Altpapier im Spiegel der Medien: Die Medienkorrespondenz schreibt über unsere Suche nach neuen Finanzierungspartnern (siehe Altpapier von Montag bzw. heute ganz oben). Damit das Altpapier nach dem bevorstehenden Weggang von evangelisch.de noch besser wird: Verbesserungsvorschläge können im Rahmen dieser Umfrage gemacht werden.

+++ Ebenfalls nun online bei der Medienkorrespondenz: ein Leitartikel des Medienrechtsexperten Karl-Heinz Ladeur (siehe unter anderem dieses Altpapier) zum Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG): „Sicher ist (…), dass das Gesetz nicht funktionieren wird. Insofern ist die sachwidrige und unsinnige amtliche Kurzbezeichnung ‚Netzwerkdurchsetzungsgesetz‘ vielleicht doch ein vielsagender Lapsus linguae: Netzwerke lassen sich nicht durchsetzen, sie entfalten sich nach einer eigenen azentrischen Rationalität, der das Gesetz nicht gerecht werden kann (…) Es handelt sich beim NetzDG um ein wichtiges und richtiges Gesetzesprojekt, das jedoch in seiner Durchführung den Herausforderungen der Regulierung der Netzwerkgesellschaft in keiner Weise gerecht wird.“ 

+++ Und in der zuletzt in diesem Altpapier erwähnten Reihe „Der Wahlkampf auf Instagram“, einem Gemeinschaftsprojekt von pop-zeitschrift.de und des Blogs Ideenfreiheit, ist mittlerweile die siebte Folge erschienen.

Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.