Zu den völlig unterschätzten Möglichkeiten des Journalismus auch in diesem ihrem hier nun gerade genutzten Internet gehört, einfach mal mit einem Thema aufmachen zu können, das andernorts als Agenturmeldung bzw. Meldungsseitenaufsetzer durchläuft.
„Der Ausnahmezustand in der Türkei dauert an (…). Nun haben die Behörden Haftbefehle gegen 35 Journalisten ausgestellt. Sie werden der Mitgliedschaft in der verbotenen Gülen-Bewegung verdächtigt. Wie die amtliche Nachrichtenagentur Anadolu meldet, wurden bereits neun Journalisten bei Razzien festgenommen. Unter ihnen soll sich auch der Chefredakteur der Oppositionszeitung ,Birgün’ befinden.“ (Spiegel Online)
„Hintergrund der Festnahmen ist laut Anadolu der Vorwurf, die Journalisten würden Verbindungen zur Bewegung um den in den USA-lebenden Prediger Fethullah Gülen halten. (…) Sie würden beschuldigt, den Messenger-Dienst ByLock benutzt zu haben. Über den Dienst sollen Gülen-Anhänger unter anderem über die Vorbereitung des Putschversuchs verschlüsselt kommuniziert haben.“ (Zeit Online)
„Hamza Yalcin hatte ein paar Tage Urlaub in Spanien gemacht. Danach wollte der türkische Journalist von Barcelona nach London weiterfliegen. Stattdessen landete er in einem spanischen Gefängnis. Dort muss er nun möglicherweise mehrere Wochen bleiben: Die türkischen Behörden gehen nicht mehr nur zu Hause, sondern auch im Ausland gegen regimekritische Pressevertreter vor. Bei der Ausweiskontrolle am El-Prat-Flughafen in Barcelona stellten die Beamten fest, dass gegen den 59 Jahre alten Journalisten und Autor ein von Interpol übermitteltes internationales Fahndungsersuchen aus der Türkei vorlag. (…) Laut Presseberichten werfen türkische Behörden Yalcin vor, er habe Präsident Recep Tayyip Erdogan verunglimpft und ,terroristische Propaganda’ betrieben.“ (Hans-Christian Rößler, FAZ S. 2)
„Unter den derzeit 50 inhaftierten Journalisten befinden sich noch immer der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel und die deutsche Übersetzerin und Journalistin Mesale Tolu.“ (tagesschau.de)
[+++] Und damit zu dem, was die Medienseiten zuletzt wirklich bewegte, nämlich die neugewonnene Freiheit Mehmet Scholls (schon vor- und gestern Thema, jeweils im Korb), auch bekannt als Bestverdiener unserer aller Gebührengelder und Verweigerer einer Debatte über Doping zu Gelegenheiten, die ihm nicht genehm erscheinen, wozu auch die Vorberichterstattung des Confed-Cup-Halbfinales Portugal gegen Chile in Russland vor ein paar Wochen gehörte. Doch die Programmhoheit gehört auch bei Fußballberichterstattung immer noch der ARD, und was etwa vor zwei Jahren die Bildzensurauswahlabteilung der UEFA lernen musste, die lieber keine Randale im Stadion zeigen wollte, weiß nun auch Mehmet Scholl.
„Die ARD konnte gar nicht anders, als sich von Mehmet Scholl zu trennen, der öffentlich und fortgesetzt ihre Programmhoheit in Frage gestellt hatte“,
meint Torsten Wahl in der Berliner Zeitung, und ähnlich argumentieren auch Joachim Huber im Tagesspiegel
(„Nun ist das Thema Doping im Fußball sehr wohl Meinungssache, was Nutzen und Dimension angeht. Keine Meinungssache ist, dass es ein Thema ist. Und damit in den Arbeitsbereich des Fußballexperten Mehmet Scholl gehört“)
sowie Alexander Krei bei DWDL
(„Mag sein, dass Scholl diese Prioritätensetzung als Majestätsbeleidigung erachtete, doch Scholl war letztlich über all die Jahre hinweg keineswegs die Majestät, sondern bloß eine Art Hofnarr – gut für Sprüche und Schlagzeilen. Die ARD wolle ihn so wie er ist, sagte er einmal in einem Interview. Und: ,Mein Vorteil ist, dass mich im Fernsehen kein Ehrgeiz treibt. Ich will da nichts werden, ich muss mich nicht anpassen.’ Wahrscheinlich hatte Scholl da schon verlernt, dass nicht nur Fußball ein Teamsport ist, sondern auch Fernsehen“).
Auf der Medienseite der SZ dreht Ralf Wiegand das Thema noch weiter und fragt sich, ob Experten an sich überhaupt für mehr Expertise in der Fußballberichterstattung sorgen (Spoiler: eher nicht: „Fußball ist so teuer geworden, dass die Sender den Rechte-Erwerb durch die Übertragung des schnöden Spiels allein nicht mehr refinanzieren können. Die Sendezeit eines RTL-Länderspiel-Abends (Experte Jens Lehmann) überschreitet locker die Dauer von ,Wetten, dass..?' – Experten dienen als Zeitfüller“), um dann die Frage zu diskutieren, ob ehemalige Fußballer mit zu viel Tagesfreizeit überhaupt die Richtigen für den Job sind:
„Die Zuschauer allerdings sollten sich auch was fragen: Welche Art von Erkenntnissen haben sie zu erwarten von jemandem, der all das, was er jetzt kritisieren soll, vor Kurzem selbst betrieben hat oder noch selbst betreibt? (…) Zwischen TV-Sportjournalismus und den auf Samstagabend-Show-Länge ausdehnten Sportübertragungen gibt es einen Interessenkonflikt.“
Doch genau hier halten diejenigen dagegen, die sich zum Team Scholl bekennen, weil dieser eben nicht in die weichgespülte Kommentatorenschublade gepasst habe, und zu denen Matthias Halbig vom Redaktionsnetzwerk Deutschland (hier: HAZ) („Scholl ist ein Publikumsliebling. Und es gibt ja noch andere Sender mit Bedarf an unangepassten, wortgewandten Fußballexperten“), Ingo Rentz von Horizont („Aber werden ARD und ZDF nicht regelmäßig dafür kritisiert, dass ihre Fußball-Moderatoren und -Reporter zu handzahm sind? Immer gefangen im Spannungsfeld zwischen Fansein und der journalistischen Distanz? Scholl war hierbei eine angenehme Ausnahme“) und Michael Hanfeld von der FAZ gehören, der heute auf seiner Medienseite schreibt:
„Man muss es nicht für sinnvoll halten, dass Mehmet Scholl das Thema Doping in Russland aussparen wollte. Man musste sich auch nicht mit jeder seiner häufig eher krachledernen Einlassungen anfreunden (…). Gleichwohl ist die Frage, ob man die Smoothie-Zeiten des Fußballs in der ARD, mit Gerhard Delling und Günter Netzer als Frotzel-Stoffel-Kommentatoren im Muppet-Modus, zurückhaben oder Experten einstellen will, von denen keine unangenehmen Überraschungen zu erwarten sind.“
Woran ich gerne die Fragen anschließen würde, ob Hanfeld Smoothie in seiner Argumentation als gesunde Mischung oder als elendes Hipster-Zeug anführt, dem aufgrund seines Kücheneintrittsdatums Jahrzehnte nach dem Toast Hawaii mit Skepsis zu begegnen ist? Doch das ist nur sekundär, ebenso wie die Rolle Scholls, denn im Kern geht es doch um die Frage, was öffentlich-rechtliche Fußballberichterstattung leisten sollte.
Auftritt Oliver Fritsch bei Zeit Online, der erst das Themenfeld Fußball neu definiert
(„Doch der Fußball ist nicht mehr nur schön. Eigentlich war er das noch nie, im Moment ist er aber besonders unschön. Man denke an die Skandale der Fifa, des DFB, den vulgärkapitalistischen Neymar-Transfer, die Vereinnahmung dieses Sports durch Neureiche und Autokraten. Man denke natürlich auch an Doping. (…) Wenn das keine Relevanz in einer Fußballsendung hat, was dann?“),
dann über Scholls Abgang, Gründe und Folgen spekuliert
(„Wie die Entscheidung letztlich zustande kam, ob es Druck von höherer Stelle gab, weiß man nicht. Aber sie ist ein gutes Zeichen, sie wäre vor zehn Jahren noch nicht möglich gewesen, die ARD hat das Thema Doping aufgewertet. Sie könnte Scholls eingespartes Honorar der Dopingredaktion oder dem Investigativteam zur Verfügung stellen“)
und zum Abschluss die Erkenntnis formuliert:
„Die ARD hat erkannt: Es ist nicht mehr die Zeit für lustige Sprüche, es ist Zeit für Journalismus.“
Womit nun der Zeitpunkt gekommen ist, auf die Wortwahl zu schalten, zu der sich die ARD entschieden hat, um den Abgang Scholls zu verkünden:
„Mehmet Scholl sagte zu der Einigung: ,Ich bedanke mich für tolle und ereignisreiche Jahre als Experte bei der ARD, es hat mir immer sehr viel Spaß gemacht.’
Für die ARD äußerte sich Sportkoordinator Axel Balkausky: ,Wir bedanken uns bei Mehmet Scholl für die großartige Zeit mit einem meinungsstarken, streitbaren und originellen Experten, der unsere Sendungen extrem bereichert hat. Er hat den Zuschauern einen tiefen Einblick in den Fußball ermöglicht und sie bestens unterhalten.’“
So steht es in der offiziellen Pressemitteilung und wortgleich, als Meldung getarnt, auf der Internet-Präsenz der „Sportschau“.
Schöner hätte die PR-Abeitung von VW es ihnen auch nicht in die Blöcke diktieren können. So klingt das also, wenn ein journalistisches Medium seine Programmhoheit zurückerobert.
+++ Damit hinterher niemand sagen kann, es hätte hier nicht gestanden: Leo Fischer hat gestern als Gast-Twitter-Heini des Zeit-Magazins erst für Unruhe und dann für den Einsatz eines Löschkommandos gesorgt, was Fischer bei Twitter u.a. so kommentierte:
###extern|twitter|leogfischer/status/895583480675004416###
Was wiederum für viel Nachberichterstattung sorgte. „Einfach wäre es nun, mit dem Finger auf die Kollegen zu zeigen und zu krähen: ,Was fragt ihr denn auch den Fischer, selberschuldwiekannmannursodoof sein.’ Nein, das machen wir nicht. Wir bedanken uns aber für die kleine Einführung in den Kurs ,Digitaler Kontrollverlust selbst gemacht'“, meint Christian Meier in Springers Welt, während Marvin Schade es bei Meedia übernimmt, das in Zusammenhang mit Satire immer zu nennende „Mit seine Fake-News-Attacke hat Fischer gezeigt, wo die Grenzen der Satire liegen – zumindest für den Zeit Verlag“ zu zitieren, dem nur noch hinzuzufügen wäre, dass Satire natürlich alles darf, aber vor allem halt lustig sein, und das war die Verkündung von Mehmet Scholls Tod einfach nicht. +++
+++ Die Journalisten, denen die Akkreditierung zum G20-Gipfel entzogen wurde (zuletzt gestern im Korb), haben nun Klage eingereicht, meldet die taz. +++
+++ Podcasts sind ja schon seit Monaten der heißeste Scheiß, und daher drängt sich die Frage auf, warum Christian Meier und Stefan Winterbauer bei Der Welt erst jetzt einen wöchentlichen zu Medienthemen anbieten? +++
+++ Sportgroßereignisse retten ARD und ZDF über den Sommer die Quote - oder? Ulrike Simon hat für ihre Spiegel-Daily-Kolumne mal nachgerechnet: „2016 war mit Fußball-EM und Olympischen Spielen ein Jahr der Sportereignisse. Das Erste kam unterm Strich auf einen Marktanteil von 12,1 Prozent. Ohne den Zeitraum, in dem die Olympischen Spiele stattfanden, hätte der Wert 11,9 Prozent betragen, ohne den Zeitraum der Fußball-EM 11,6 Prozent. (…) Ähnlich sieht es beim ZDF aus.“ Was das über das Geld aussagt, das man statt für Fernsehrechte nur zum Beispiel für investigative Dopingreportagen ausgeben könnte, dürfen Sie sich nun selbst denken. +++
+++ Bevor Willi Steul am 31. August seinen letzten Arbeitstag als Deutschlandradio-Intendant absolviert, hat er ausführlich mit Ludwig Ring-Eifel für die Medienkorrespondenz gesprochen, u.a. über die neuen Namen der Sender („Ich bin mir sicher, dass das richtig war. Der Absender ist jetzt immer klar“), Zukunftsprognosen („Ich persönlich bin davon überzeugt, dass es die lineare Ausspielung, so wie wir sie kennen, weiterhin geben wird. Aber zunehmen wird die zeitunabhängige Nutzung, also dass man sich in Mediatheken nach den eigenen inhaltlichen und zeitlichen Vorstellungen bedient“) und die Ignoranz von Journalismus gegenüber der Provinz („Die Hälfte der Menschen in der Bundesrepublik Deutschland lebt nicht in großen Städten, sie leben in kleinen Städten oder auf dem Land. Und das sind andere Blickwinkel. Hier sehe ich ein Versäumnis, hier sehe ich die Notwendigkeit, dass uns dieses viel, viel bewusster wird"). +++
+++ Des Weiteren in der Medienkorrespondenz: Sat1 im ewiger Kampf gegen Drittsendezeiten, aktuell gekrönt von einem neuen Gerichtsentscheid. Volker Nünning: „Entscheidend für die Ermittlung dieses Marktanteils sei nicht der Zeitraum von Oktober 2014 bis September 2015 gewesen, so das Gericht, sondern der von November 2014 bis Oktober 2015. Im letzteren Zeitraum erreichten die Pro-Sieben-Sat-1-Sendegruppe – so ist es in dem Gerichtsbeschluss angeführt – einen Gesamtmarktanteil in Höhe von 19,99386480273 Prozent, so dass der Schwellenwert von 20 Prozent nicht überschritten gewesen sei.“ Man kann es sich nicht ausdenken. +++
+++ Warum es dem US-amerikanischen Journalismus nicht geholfen haben könnte, dass die New York Times einen Klimabericht als Exklusiv-Meldung verkaufte, der seit Monaten frei im Netz steht, thematisiert Patrick Illinger auf der Medienseite der SZ. +++
+++ Google goes Bundestagswahl, schreibt Anna Gyapjas auf der Medienseite der FAZ (Blendle, 0,45 €): „Von Ende August an sollen Nutzer nach Eingabe ihrer Postleitzahl angezeigt bekommen, zu welchem Wahlkreis sie gehören, wer kandidiert und welcher Partei diese Person angehört. Neu sei, dass Google allen zugelassenen Kandidaten die Möglichkeit gibt, kurz und prägnant ihre politi- schen Standpunkte kundzutun. (…) Auch Google-Tochter Youtube steuert einiges an Werkzeug bei – allerdings, indem sie zielgruppenspezifische Formate anbietet. Vier Youtuber werden in die Fußstapfen des Video-Blogger LeFloid treten und, nachdem sie unter dem Hashtag #DeineWahl Fragen gesammelt haben, am 16. August die Kanzlerin interviewen.“ +++
+++ Facebook macht jetzt auch was mit Serien, verkündete das Unternehmen am Mittwochabend per Blogpost. Warum das aus Sicht des Netzwerks viel Sinn macht, erklärt bei Zeit Online Eike Kühl. Warum das Projekt, das nun erstmal in den USA startet, es in Deutschland schwer haben könnte, beschreibt Kurt Sagatz im Tagesspiegel: „Ein Hindernis für Facebook Watch könnte in Deutschland sein, dass die Landesmedienanstalten inzwischen verstärkt darauf drängen, dass auch private Internetsendungen eine Zulassung benötigen, wenn sie rundfunkähnliche Angebote betreiben.“ +++
+++ Gremien-Gremlins II: „Der Rundfunkstaatsvertrag ist von gestern, wir brauchen für das Heute eine trimediale Medienordnung.“ Fordert in der aktuellen Ausgabe epd medien Dagmar Gräfin Kerssenbrock, Vorsitzende des NDR-Verwaltungsrats. Ihre Idee: „In einem trimedialen System wird das duale System aus öffentlich-rechtlichem und privatem Rundfunk ergänzt und ersetzt durch die öffentlich-rechtlichen Mediendiensteanbieter (MDA), kommerzielle Mediendiensteanbieter und private Mediendiensteanbieter. Presse sind alle zur Verbreitung an die Allgemeinheit bestimmten Druckerzeugnisse. E-Commerce ist die ausschließlich gewerbliche Nutzung von Medien. Der Nachweis der Nicht-Meinungsrelevanz ist positiv im Sinne einer Beweislastumkehr zu erbringen.“ +++
+++ Über den besonderen Wert gedruckter Zeitungen, die im Urlaub am Kiosk erstanden und, wenn auch schon Tage alt, bis zum Impressum studiert werden, kolumniert Matthias Dell bei @mediasres . Wo zudem Stefan Fries nochmal erklärt, dass Umfragen vor Wahlen nicht deren Ausgang vorwegnehmen können. +++
Das nächste Altpapier erscheint am Montag.