Das erleben die arg gebeutelten Leitmedien ja auch nicht mehr alle Tage: Dass an sie in ihrer Gesamtheit ein Offener Brief gerichtet wird. „An den Hamburger Senat und die Leitmedien“ ist jedenfalls das besagte Schreiben des Instituts Solidarische Moderne gerichtet.
„Nur wenige Medienschaffende machen sich (…) die Mühe die Ursache der Krawalle und deren Komplexität darzustellen“,
heißt es in dem Offenen Brief unter anderem. Woraus die Verfasser Folgendes ableiten:
„Wir fordern die Verantwortlichen in Politik und Medien dazu auf, endlich ihrer Verantwortung gerecht zu werden und personelle wie politische Konsequenzen aus dem Scheitern der Sicherheitsstrategie bei G20-Gipfel zu ziehen – anstatt Demokratie und Grundrechte auf dem Altar konservativer Beißreflexe und innerer Sicherheit zu opfern.“
Da wird’s dann also leider a bisserl ungenau, denn die Medien können (und müssen) nur fordern, dass besagte „Konsequenzen“ gezogen werden, selbst ziehen können sie sie eher nicht. Und dass sich von jenen rund 50 Einzelpersonen unter den Erstunterzeichnern, die (mindestens) einen Doktor- und/oder Professorentitel auf ihrer Visitenkarte stehen haben, offenbar niemand an der megaschiefen Metapher „auf dem Altar konservativer Beißreflexe“ gestört hat, bestürzt mich dann doch ein bisschen.
„Die Debatte über Gewalt, wie sie seit dem G20-Gipfel in Hamburg geführt wird, hat einen blinden Fleck. Sie spart nämlich die Frage der Wahrnehmung aus: Für wen ist was wann Gewalt? (…) Framing, eigentlich ein Begriff der Medienwissenschaft, prägt unsere Sicht von Gewalt: Wir blicken durch einen zu kleinen Rahmen. In diesem Ausschnitt wirkt, wer sich gegen das große institutionalisierte Unrecht auflehnt, immer falsch, weil der eigentliche Gegner nicht sichtbar ist. Unter westeuropäischen Bedingungen leidet oppositionelle Gewalt dann an einer doppelten Unangemessenheit: Sie ist einerseits zu klein, weil sie den Agenten der institutionellen Gewalt nicht weh tut. Und andererseits zu groß, weil sie die Falschen trifft, die bloßen Statthalter, die Unbeteiligten.“
Nicht zuletzt:
"Die westlichen Nationen haben eine lange Geschichte der gewaltförmigen Einflussnahme, über die regelmäßig mit Jahrzehnten Verspätung berichtet wird, und dann in einem Tonfall, als sei derartiges in der Gegenwart ganz und gar unmöglich. Schmutzige Gewalt war immer gestern. Ob ein Akteur als Oppositioneller, Krawallmacher, Gewalttäter oder Terrorist bezeichnet wird, hängt davon ab, wie seine Motive bewertet werden, zumal durch die Medien."
Für jene, die des Themas G20 noch lange nicht überdrüssig sind und sich am Donnerstagabend in Hamburg aufhalten: Unter anderem die Zeitschrift konkret und der Blog Dissident Garden laden zur Diskussionsveranstaltung „Riot on an empty street“. Um die Rolle der Medien geht es auch („Woher kommen Hysterie und Hetze gegen die eigentlich zahnlose radikale Linke?“), und auf dem Podium sitzt mit Jutta Ditfurth unter anderem jene Frau, die einen gewissen Beitrag zur Entstehung des Memes #bosbachleavingthings geleistet hat.
[+++] Da wir ganz oben einen Offenen Brief erwähnt haben: Ein weiterer, der derzeit kursiert, ist an Wolfgang Bergmann und Markus Nievelstein gerichtet, die Geschäftsführer von Arte Deutschland - und das, obwohl es in dem Schreiben des Jüdisches Forums für Demokratie und gegen Antisemitismus um eine Reportage geht, für die die beiden Adressaten gar nicht zuständig sind, da sie aus Frankreich stammt. Wie auch immer: Es handelt sich um den Film „Gaza: Ist das ein Leben?“, und die Verfasser des Offenen Briefs werfen den Machern vor, dass sie „den Zuschauerinnen und Zuschauern entscheidende Informationen vorenthalten“. Dass der unselige „Faktencheck“ des WDR zu „Auserwählt und ausgegrenzt“ (Altpapier) zur Folge haben würde, dass die Israel-Berichterstattung der Öffentlich-Rechtlichen künftig besonders geprüft wird, war abzusehen. Eine beispielhafte Passage des Offenen Briefes lautet:
„Im weiteren Verlauf der Dokumentation wird analysiert: ‚Die Belagerung lähmt die Wirtschaft, 80 % der Leute hier überleben nur durch Hilfe von außen.‘ [02:40]. Erneut unterlässt die Dokumentation eine Kontextualisierung, die verdeutlicht, dass die Regierung der Hamas durch Korruption, Arbeitsplatzvergabe nach politischer Gesinnung und Veruntreuung von internationalen Hilfsgeldern zu militärischen Zwecken die missliche wirtschaftliche Lage in Gaza maßgeblich mitbedingt.“
Eine Stellungnahme von Arte ist in den Updates unter dem Beitrag bereits eingearbeitet. Auch Josef Schuster, Präsident des Zentralrats des Juden, hat sich mittlerweile geäußert: Der Film beinhaltet nach seiner Ansicht „‚Falschinformationen‘. Er fordert, dass Arte die Reportage ‚in dieser Form nicht mehr zeigt‘ und überarbeiten lässt“ (epd/Jüdische Allgemeine). Bei dwdl.de und faz.net gibt es Zusammenfassungen.
[+++] Ein geeignetes Anschauungsobjekt für die TV-Experten des Jüdischen Forums für Demokratie und gegen Antisemitismus ist möglicherweise auch die fiktionale Geschichts-Serie „Payitaht Abdülhamid“, die derzeit beim türkischen Staatssender TRT zu sehen ist. Selim Aydin zeigt auf der SZ-Medienseite, unter Hinzuziehung des Historikers Emre Can Da?l?o?lu, u.a. anhand dieser Serie auf, wie im Bereich der Fiktion und der Unterhaltung die Ideologie und Propaganda Erdogans zum Tragen kommen (siehe auch Altpapierkorb gestern). Aydin schreibt:
„(…) Da?l?o?lu, der sich intensiv mit der Serie auseinandergesetzt hat, stellt fest, dass der Sultan als Protagonist der Serie die Juden als Volk definiert, das seinen Propheten ermordet hat. Dieser Rassismus ist das Hauptproblem der Serie: Die inneren Feinde und Verräter sind die jüdische und armenische Minderheit. Theodor Herzl, Vordenker des Zionismus, ist Abdülhamids Gegenspieler. Er will Palästina vom Reich abspalten und den Staat Israel gründen. Die Autoren gehen dabei so weit, dass alle Juden des Landesverrats verdächtigt werden (…) Über die 17 Folgen werden Juden immer als potenzielle Verräter gezeigt. Da?l?o?lu sieht darin eine Hasstirade, die eigentlich bestraft werden müsste. Ein Staatssender sollte "das friedliche Zusammenleben der gesamten Bevölkerung berücksichtigen“.
[+++] Dass Roger Köppel im Altpapier zuletzt im Dezember 2016 erwähnt wurde, ist auf den ersten Blick vielleicht überraschend, könnte aber auch daran liegen, dass es langweilig ist, immer wieder das zu schreiben, was man schon mehrmals geschrieben hat. Oliver Gehrs hat sich für seine "Über Print"-Kolumne bei Übermedien die aktuelle Ausgabe von Köppels superrechter Weltwoche vorgenommen, und er beweist in seinem Text, dass es im Zusammenhang mit Köppel und seinem Wochenblatt durchaus noch Berichtenswertes gibt. Zum Beispiel, dass Frauen in der Weltwoche
„vor allem dann vor(kommen), wenn sie Models oder ehemalige Missen sind, in der Redaktion selbst sitzen sie fast ausschließlich im Korrektorat und Sekretariat“.
Auf die „schiere Arbeitswut“ Köppels geht Gehrs auch ein:
„Allein die aktuelle Ausgabe hat er gefühlt zu einem Drittel vollgeschrieben, die großen Interviews hat er alle selbst geführt – darunter ein siebenseitiges Gespräch mit Günter Netzer, bei dem einem schon beim Lesen langweilig wird. Wie muss es erst beim Abtippen des Bandes gewesen sein, das Köppel möglicherweise im Schweizer Parlament erledigt, schließlich ist er ja auch noch als SVP-Politiker Mitglied des Nationalrats. Und manche Journalisten von der Pressetribüne schwören Stein und Bein, dass er im Hohen Haus pausenlos tippt.“
Als etwas im weiteren Sinne Positives vermerkt Gehrs:
„Nein, so einen emsigen Blattmacher gibt es im deutschsprachigen Raum weit und breit nicht – und auch niemanden, der sich so bereitwillig mit anderen Meinungen konfrontiert. So hat Köppel für die aktuelle Ausgabe nicht nur ein Interview mit dem österreichischen SPÖ-Kanzler Christian Kern geführt, der sich standhaft weigert, auf Köppels Anti-Solidaritätskurs zu schwenken, sondern auch mit einem Historiker, der recht zwingend die ganzen Nationalmythen der Schweiz auseinandernimmt (…) und für die Gegenwart mehr Nähe zu Europa anmahnt (…)“
Das Resümee:
„Dass Köppel sein SVP-Parteiblatt für all diese Positionen öffnet, das hat dann doch wieder was, das ist streckenweise sogar lesenswert.“
[+++] Auf der FAZ-Seite „Forschung und Lehre“ setzt sich Thomas Thiel heute mit „Googles Geschäft mit der Wissenschaft“ bzw. dem „systematisch betriebenen Lobbyismus“ des Konzerns auseinander:
„Besonders eng ist der Kontakt zur George Mason University (GMU), die 2016 mit 762000 Dollar von Google gefördert wurde. In diesem Jahr richtete diese Universität eine Monopol-Konferenz aus. Google hatte im Vorfeld darauf hingewirkt, dass von ihm geförderte Redner – am Ende waren es vier von fünf – eingeladen wurden. Geoffrey Manne, der gastgebende Direktor des von Google gegründeten International Center for Law and Economics an der GMU, nahm Google auf der Konferenz gegen die Anti-Trust-Pläne der Federal Trade Commission und der Europäischen Kommission in Schutz, die er schädlich und aggressiv nannte. In einer Reihe von Publikationen warnte Manne unter anderem vor einer Abkehr der FTC von ihrem weichen Kurs im Monopolrecht. Nur in vier von zehn Studien legte er seinen Finanzgeber offen. Manne hat auf Nachfragen dieser Zeitung nicht geantwortet.
(...) Dass Unternehmen Wissenschaftler für Studien anwerben, ist kein Einzelfall. Einzigartig scheinen aber Systematik und Zielstrebigkeit, mit der Google Wissenschaftler für seine Geschäftsziele einspannt. Laut Wall Street Journal stellen Google-Offizielle Wunschlisten für akademische Publikationen zusammen, die Arbeitstitel, Abstracts und Budgets für jede vorgeschlagene Publikation enthielten. So kommt es, dass Google zu jedem brisanten politischen Thema gleich mehrere Studien vorlegen kann, die seine Geschäftsziele verteidigen.“
Für 45 Cent ist der Text bei Blendle zu haben, einen fast siebenminütigen Audio-Beitrag des erwähnten Wall Street Journals zum Thema gibt es kostenfrei.
Altpapierkorb
+++ Eine launige Chronologie der „kurzen Amtszeit“ von Donald Trumps Kommunikationschef Anthony „I sometimes use colorful language“ Scaramucci hat Axel Weidemann für die FAZ-Medienseite zusammengestellt.
+++ Die Stuttgarter Zeitung beschäftigt sich mit der Aussagekraft und Verlässlichkeit von Bestsellerlisten, natürlich anlässlich all der Verwicklungen rund um ein braunes Büchlein und einen chefredaktionellen Eingriff in die Spiegel-Bestsellerliste (siehe, um nur zwei Beispiele zu nennen, dieses und dieses Altpapier). Stefan Kister hat mit Christoph Ostermann vom Buchreport gesprochen, der anhand der von Media Control gelieferten Daten die Spiegel-Listen erstellt: „Wohl seien die Spiegel-Listen kuratiert, gerade darauf beruhe ihre Beliebtheit. Aber die Kriterien, welche Bücher nicht berücksichtigt werden, sind transparent und auf der Homepage von Buchreport einsehbar: Nachschlagewerke, Schulbücher findet man in den Charts so wenig wie Kinder- und Jugendbücher. Es komme vor, dass man sich bei einzelnen Titeln abstimme, ob sie in die ein oder andere dieser Gruppen fallen, sagt Ostermann. Bei Sieferles anstößigen Notaten freilich dürfte wohl kaum ihre Verwechselbarkeit mit Kochbüchern, Fitnessratgebern oder dem BGB ausschlaggebend gewesen sein, Gattungen, die ebenfalls nicht berücksichtigt werden.“
+++ Details dazu, warum sich Verdi, der DJV und die Deutsche Welle in Sachen Altersversorgung der Beschäftigten nicht einig sind, und warum dies wiederum dazu führen könnte, dass die im Raum stehende Rentenreform bei den Öffentlich-Rechtlichen nicht zustande kommt (siehe gestriger Altpapierkorb unten), stehen in der taz. Disclosure: Der Artikel ist von mir.
+++ Nachdem vor wenigen Tagen bereits die SZ die von Qualitätsmedien aus Berlin erzählte Geschichte "Antifa macht israelischen Buchladen kaputt" dekonstruiert hat (sehr kurz kam das auch vor einer Woche an dieser Stelle vor), geht nun auch der Dramatiker Juri Sternburg in der „Lügenleser“-Kolumne der taz auf die - um es nachsichtig zu formulieren - gängige Falschinterpretation der Ereignisse ein. Besondere Berücksichtigung findet dabei dieser Welt-Artikel.
+++ Möglicherweise neben der Kappe war kürzlich Sabine Rau aus dem ARD-Hauptstadtstudio. Darauf, dass sie während einer Schalte in einer „Tagesschau“-Sendung eine „deutsch-ungarische Grenze“ herbeifantasierte und Slowenien mit der Slowakei verwechselte, geht der Blog Tapfer im Nirgendwo ein.
+++ „Why the ‘digital native’ is a myth“ - entsprechende Aufklärung liefert der Guardian.
+++ Dass das „Unbehagen“ bei Mitarbeitern der seit 2016 nur noch online erscheinenden britischen Zeitung The Independent „wächst“, berichtet die SZ. Der Grund: Der neue Investor Muhammad Abuljadayel „ist saudi-arabischer Staatsbürger und kommt somit aus einem Land, dessen Politik den vom Independent propagierten Werten diametral entgegensteht“.
+++ Verrisse im Musikjournalismus? Gibt es kaum noch. Beziehungsweise: Sie scheinen „a relic of the print music press of the 80s and 90s“ zu sein. Das Crack Magazine befasst sich mit diesem Thema.
+++ Die Reaktionen auf einen sonderbaren Brief der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien (BLM) an die Privatsender des Bundeslandes fasst Diemut Roether für epd medien zusammen. Die Aufsichtsbehörde hatte die Sender kürzlich aufgefordert, "außerhalb der aktuellen Berichterstattung über Flüchtlinge einen Beitrag zur Vermittlung der deutschen Sprache und Leitkultur zu leisten“ bzw. diese „Anforderung bei Ihrer zukünftigen Programmplanung zu berücksichtigen“.
+++ dpa-Texte zur geplanten „Serienoffensive“ von ZDFneo sind bei meedia.de und im Hamburger Abendblatt zu finden. „Countdown Copenhagen“ (Start: 6. Oktober) merken wir uns schon mal vor, denn „in der Serie geht es um eine Geiselnahme in der Kopenhagener U-Bahn, bei der eine Journalistin zwischen Geiselnehmern und Polizei vermittelt“.
Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.