Die Urteile im seit Montag in Istanbul laufenden Prozess gegen die 17 Journalisten von Cumhuriyet (Altpapier) werden erst für morgen erwartet. Doch wer heute schon kraftvoll den Kopf gegen die Tischplatte schlagen möchte, weil das doch alles so nicht wahr sein kann, dem sei hiermit das englischsprachige Liveblog des Europäischen Zentrums für Presse- und Meinungsfreiheit empfohlen.
Gestern gab es dort etwa das offenbar vorher zugelieferte Statement des Angeklagten Ahmet ??k nachzulesen, der zum Beispiel sagte:
„I know this government and its judiciary also has some issues with me. Because I am trying to practice journalism.Today, I am practicing journalism depending on the power of the truth, not depending on the power of the government or other power centers as it is broadly practiced in Turkey. Because practicing journalism under the regimes that are not closely associated with democracy and gradually becoming more totalitarian, means crossing the line. And journalism cannot be practiced by toeing the line and you cannot call it journalism if it is done toeing the line.“
Wenn vor Gericht die existenziellen Grundlagen von Journalismus erklärt werden müssen, kann einem nur leicht übel werden.
Andererseits wird dort auch deutlich, dass dieses Proseminar offenbar Früchte trägt:
###extern|twitter|ECPMF/status/890234715252432897###
Antwort:
###extern|twitter|ECPMF/status/890236869912481792###
Generell überwiegt aus journalistischer Sicht jedoch der Gruselfaktor, wie auch der Bericht der österreichischen Presse-Agentur APA zeigt, den der Standard veröffentlicht hat und in dem die beiden Prozessbeobachter Johann Bihr von den Reportern ohne Grenzen sowie Steven Ellis vom International Press Institute zu Wort kommen:
„Bei den Anhörungen hätten sich alle Fragen um die redaktionelle Ausrichtung der Zeitung gedreht, so Bihr. Die Richter hätten etwa die Wahl der Überschriften der Berichte thematisiert. Diese sollen unter dem Diktat der Terrororganisationen wie der Arbeiterpartei Kurdistans PKK, der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen (FETÖ) oder der linksextremen DHKP-C entstanden sein. (…) Nach seinen (Ellis, Anm. AP) Angaben wurde Beweismaterial zudem bewusst manipuliert. Bei einem Beweisstück sei etwa eine Unterseite entfernt worden, in der sich ,Cumhuriyet’ kritisch zur Gülen-Bewegung geäußert hat. Ellis berichtete auch von unangebrachten Fragen der Richter, der die Angeklagten dazu gedrängt haben soll, politische Aussagen zu machen.“
Die Entscheidung, ob man in der Türkei für das Ausüben seinen Berufs über 40 Jahre in den Knast muss oder nicht, wird nach schlanken fünf Verhandlungstagen, wie gesagt, morgen erwartet. Wenn Sie mögen, können Sie derweil die bereits am Dienstag hier erwähnte Petition der Reporter ohne Grenzen („We demand the immediate release of Cumhuriyet’s employees and all the other journalists who have been thrown in prison just for doing their job. And we demand the withdrawal of the absurd charges brought against them“) unterzeichnen, die noch ein paar Unterzeichner gebrauchen kann.
[+++] Hierzulande wird derweil Journalismus an Orten betrieben, die sonst das „Bachelorette“-Finale in 22 Tweets rekapitulieren oder über „23 absolut irre Disney-Fakten“ informieren.
In anderen Worten: Buzzfeed Deutschland sieht man so langsam an, dass es einen neuen Chefredakteur bekommen hat und sich neben dem Buzz auch an News versucht (Offenlegung: als Ähnliches vor zwei Jahren schon mal angedacht wurde, war ich beteiligt).
Nun hat sich Karsten Schmehl den Artikeln angenommen, die in den vergangenen fünf Jahren bei Facebook die meisten Interaktionen erreichten und dabei herausgefunden:
„Unter den zehn erfolgreichsten Artikeln sind sieben Falschnachrichten, die alle aus den Jahren 2015 und 2016 stammen.“
Ups. Das ist aus Sicht von Freunden der Wahrheit schon mal schlecht. Aber es geht noch konkreter:
„Nur drei der zehn erfolgreichsten Artikel stammen von klassischen Medien. Die Recherche zeigt, dass es Fake News auf Facebook vor allem beim Thema Flüchtlinge offenbar sehr viel leichter haben, als die oft wahrheitsgetreue Arbeit traditioneller Medien. Und dass rechte Facebook-Seiten mittlerweile für für eine enorme Verbreitung sorgen können.“
„Drei der meistgeteilten Artikel über Angela Merkel sollen eigentlich Satire sein. (…) Außerdem zeigt eine BuzzFeed News Analyse mit dem Analyse-Tool Crowdtangle, dass dieser Artikel unter anderem von den Facebook-Seiten ,Pro Putin Partei - Gründungsprojekt’ oder ,Bitterfeld-Wolfen wehrt sich - Keine Asylheime in unserer Heimat’ geteilt wurde und es keine Indizien gibt, dass ein Großteil der Leser verstanden hat, dass es sich um Satire handelt.“
„Zwei der zehn erfolgreichsten Beiträge bei Facebook über Angela Merkel sind Meinungsstücke.“
Für alle, die sich gerne mit Rohdaten auseinandersetzen, hat Buzzfeed diese hier veröffentlicht. Womit wir zur Frage kommen können, was sich daraus lernen lässt?
Zum einen, dass Heiko Maas sich vermutlich gerade eine Flasche Sekt öffnen lässt, denn Facebook scheint tatsächlich massiv Fake-News anfällig zu sein. Doch am Ende kann die Technik nichts dafür, wenn die Menschen sie entsprechend antreiben, was zum anderen bedeutet, dass Leute, die Seiten wie ,Pro Putin Partei - Gründungsprojekt’ folgen, entweder sehr dumm, oder die Dekontextualisierung bei der Verbreitung über Facebook ist ein echtes, echtes Problem zu sein scheint („Wir brauchen Medienkompetenz als Unterrichtsfach“, anyone?). Oder beides.
Zu guter Letzt wird das bestätigt, was mazedonischen Teenagern einen Sommer lang das Taschengeld aufbesserte: Die Leute verbreiten jeden Scheiß, wenn die Überschrift nur genug knallt. Was als Prinzip natürlich allen voran auch Buzzfeed verstanden hat, weshalb es den oben verlinkten Artikel auch in einer inhaltlich abgespeckten, dafür knalligeren Version anbietet.
Doch zum bildungsbürgerlichen Dilemma: Vermutlich glauben diese Klicker, Liker und Verbreiter bereits, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen. Dabei sollten sie dringend damit anfangen.
Facebook ist als Datenkrake sicher ein Problem. Aber seine Nutzer sind es ebenso.
[+++] Während Buzzfeed als Medien-Start-up aus den USA munter in alle Richtungen expandiert, tun sich journalistische Neugründungen aus Deutschland eher schwer. Das hat der Kommunikationswissenschaftler Christopher Buschow mit seiner Studie „Die Neuordnung des Journalismus. Eine Studie zur Gründung neuer Medienorganisationen“ herausgefunden, die Fans von Longreads für 60 Euro hier erwerben können. Die Kurzversion für Sparfüchse gibt es beim EJO und lautet:
„Obwohl Unternehmer und Gründer im Journalismus mit viel Optimismus, tatkräftigem Elan und verantwortungsbewussten Absichten starten, tragen sie – zumindest im deutschsprachigen Raum – kaum zu seiner Erneuerung bei. (…)
Neue Medienunternehmen entstehen vorwiegend aus einer ,Macher-Perspektive’, die seltener als erwartet auf Innovationen setzt, vielmehr journalistische Berufsstandards in digitale Medienumgebungen übertragen will. Gründer konzentrieren sich auf die Produktion von qualitätsvollen Inhalten, wie sie sie in den von Kostensenkungen gebeutelten Redaktionen zunehmend seltener vorfinden. Gewinnerzielungsabsichten, Wachstumsambitionen oder eine ertragreiche Unternehmensveräußerung spielen – im Gegensatz zu anderen Online-Branchen – im Journalismus eine nur nachgeordnete Rolle. (…)
Die Studie zeigt: Je mehr sich die Berichterstattung eines Medien-Start-ups an die Gesamtgesellschaft richtet, desto schwerer fällt das Geldverdienen.“
Ganz recht, für Freunde des hehren Journalismus ist heute kein guter Nachrichtentag...
[+++] … weshalb es jetzt auch nicht mehr darauf ankommt und wir uns die volle Dröhnung geben können, in Form der gestern veröffentlichten, aktuellen Media-Analyse für Tageszeitungen und Zeitschriften und dem Realitätsabgleich, der dazu vorzunehmen ist.
Zunächst die Zahlen (David Hein, horizont.net):
„Nach Daten der Arbeitsgemeinschaft Media-Analyse (Agma) können sich vor allem das ,Handelsblatt’, die ,Süddeutsche Zeitung’ und die ,Frankfurter Allgemeine’ über mehr Leser freuen: Der Wirtschaftszeitung aus Düsseldorf bescheinigt die aktuelle MA ein Reichweitenplus um 18 Prozent auf 450.000 Leser - bei einer weitgehend stabilen Auflage zumindest ein erstaunlicher Wert. ,Süddeutsche Zeitung’ (1,24 Mio.) und ,FAZ’ (760.000) gewinnen laut Agma jeweils rund 10 Prozent - trotz rückläufiger Auflagen.“
Jens Schröder kommentiert das bei Meedia mit
„Letztlich deuten die Zahlen wieder einmal darauf hin, dass die MA eher die Markenbekanntheit und -beliebtheit ausweist – und nicht exakte Leserzahlen“.
Noch deutlicher wird er in einem weiteren Artikel über die Zeitschriften-MA:
„Unser Lieblings-Beispiel in Sachen MA-Kritik, die Computer Bild Spiele, büßte 4,9% Reichweite ein, kommt laut MA aber immer noch auf sensationelle 1,55 Mio. Leser pro Ausgabe. ,Sensationell’ deswegen, weil die verkaufte Auflage des Magazins inzwischen auf 36.514 Exemplare geschrumpft ist. Jedes verkaufte Heft müssten demnach mehr als 42 Leute lesen.“
Whatever you need to tell yourself. Wobei ich die Computer Bild Spiele übrigens nur kaufe, damit das nächste Heft von 84 Personen gelesen werden muss.
+++ Stephan Holthoff-Pförtner wird ja nicht nur umstrittener Medienminister in NRW (zuletzt dieses Altpapier), sondern verlässt damit auch seinen Posten als Chef des VDZ. „Vor diesem Hintergrund ist der abrupte Ausstieg des gerade erst gewählten Präsidenten beinahe ein Glücksfall, weil er den Weg frei macht, Fehler in der internen Kommunikation zu korrigieren“, glaubt Georg Altrogge und analysiert dazu bei Meedia ein wenig. Seinen Job als Funke-Manager hat Holthoff-Pförtner nun übrigens auch abgegeben (Quelle: Rheinische Post). +++
+++ Die Wahlprogramm-Pläne für CDU/CSU und SPD ins Sachen Netzpolitik klingen „im Großen und Ganzen nicht allzu schlecht“, meint Sascha Lobo in seiner Spiegel-Online-Kolumne. Nur wer hat die Parteien in den vergangenen vier Jahren abgehalten, das nun Geforderte längst umzusetzen? +++
+++ Um seltsam nach Zensur riechende Sperrungen von Youtube-Videos in Russland geht es auf der SZ-Medienseite. +++
+++ Finis Germania, und immer noch kein Ende: Bei Übermedien zeigt sich Stefan Niggemeier geradezu verstört darob der Unfähigkeit des Spiegels, eigene Fehler einzugestehen bzw. souverän auf Kritik zu reagieren. „Der ganze Artikel ist ein Dokument der Angst“, schreibt er über diese bei Spiegel Online veröffentlichte Erklärung der stellvertretenden Spiegel-Chefredakteurin Susanne Beyer. Und weiter: „Er veröffentlicht einen Artikel, der kein ,Spiegel’-Artikel ist, sondern ein Stück trauriger PR-Verdruckstheit, das sich nicht einmal traut, die heiklen Fragen zur Kenntnis zu nehmen.“ +++
+++ Während in Villarriba munter Binge-Watch-Angebote gemacht werden, depubliziert Villabajo immer noch, als wäre es 2007. Ob das noch zeitgemäß ist, haben sich für den Tagesspiegel Joachim Huber und Kurt Sagatz vom in dieser Sache völlig unabhängigen Eckart Gaddum, Leiter der Hauptredaktion Neue Medien beim ZDF, erklären lassen. +++
+++ „Die Frage ist, ob man Rezipienten mit Leseschwächen erreicht, indem man Nachrichten künstlich boulevardisiert und im vermeintlichen Kinderbuch-Stil erzählt. Gibt es eine Grenze für Komplexitätsreduktion? Ist dem Zielpublikum gedient, wenn man Inhalte über Gebühr simplifiziert? Wäre es nicht besser, die Lesekompetenz zu stärken, statt komplexe Texte zu demontieren?“ (Adrian Lobe auf der Medienseite der FAZ über den Einsatz leichter Sprache, 0,45 € bei Blendle). +++
+++ „Warum ab 17 Uhr für etwas bezahlen, was es gefühlt den ganzen Tag kostenlos gibt? Dem Angebot ist ein Fehler unterlaufen, der normalerweise tödlich und nicht mehr korrigierbar ist: Es hat keinen USP definiert, es kann die Frage nach dem ,Warum?’ nicht wirklich beantworten.“ Christian Jakubetz hat in seinem Blog vorsichtshalber schon mal einen Abgesang auf Spiegel Daily formuliert. +++
+++ Digitaler, moderner und investigativer Lokaljournalismus ist möglich - wenn er nicht durch Anzeigen, sondern durch eine Stiftung finanziert wird, hat Heike Wipperfürth für @mediasres in den USA herausgefunden. +++
+++ „In der Tat sind der seit 2003 regierende aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew und sein korrupter Klan im Umgang mit ihren Gegnern nicht zimperlich. Dabei waren im Frühjahr 2016 noch mehrere politische Gefangene freigekommen. Das hatte Hoffnungen genährt, dass sich das autoritäre Regime zumindest ein wenig öffnen würde. Ein Trugschluss, wie sich jetzt zeigt. Besonders Journalisten sind in den vergangenen Monaten wieder einmal verstärkt Repressalien ausgesetzt. Dabei ist es eine gängige Methode, unbequemen Medienmachern Drogen unterzuschieben“ (Barbara Oertel in der taz). +++
+++ Das ZDF hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, für die Liveübertragung der Olympischen Spiele 2018 Gebührengelder ausgeben zu können, erklärt ZDF-Sportchef Thomas Fuhrmann in der Zeit (Vorabmeldung). +++
+++ Wie sie der NZZ das Bewegtbild (Video von den funky Onlinern unter uns genannt) nahebrachte, hat Sara Maria Manzo für kress.de Anna von Garmissen erklärt. +++
+++ Willkommenskultur als WG-Experiment, das zeigt „Club Europa“ heute um 23 Uhr im ZDF. „Die Zahl der dramatischen Wendungen ist übersichtlich, dafür überzeugt dieser ,kleine’ Film durch authentische Sprache und Darstellung sowie durch eine sinnlich-intime Atmosphäre“, meint Thomas Gehringer im Tagesspiegel. Auf der Medienseite der FAZ bemängelt Matthias Hannemann hingegen, der Film rege weder an noch auf (0.45 € bei Blendle) +++
+++ Der österreichische Standard holt mit Martin Kotynek seinen zukünftigen Chefredakteur von Zeit Online und stellt ihn selbst vor. +++
Frisches Altpapier gibt es wieder am Freitag.