Nicht offiziell, aber unmoralisch
RT Erdogan beweist einmal mehr, wie wenig er von Rechtsstaatlichkeit versteht, und Deniz Yücel bleibt in Haft. Mit Kindergarten-Weisheiten gegen Hate Speech. Wer dieser Tage wirklich guten Lokaljournalismus macht. Die ARD interessiert sich für Autos, die im Kreis fahren. Ein „1, 2 oder 3“-Spruch spaltet die Generationen. So toll ist nur Sky Arts!

Was bisher nur inoffiziell und für Journalisten und Menschenrechtler galt, gilt jetzt für alle: 

„Personen, die aus privaten oder geschäftlichen Gründen in die Türkei reisen, wird zu erhöhter Vorsicht geraten und empfohlen, sich auch bei kurzzeitigen Aufenthalten in die Krisenvorsorgeliste der Konsulate und der Botschaft einzutragen. Die Auslandsvertretungen werden bei Festnahmen deutscher Staatsangehöriger nicht immer rechtzeitig unterrichtet, der Zugang für die konsularische Betreuung wird nicht in allen Fällen gewährt.“

So steht es seit gestern unter „Aktuelle Hinweise“ bei den Reise- und Sicherheitshinweisen des Auswärtigen Amtes zur Türkei.

„Eine Reisewarnung würde anders klingen: In fetten Lettern wird etwa vor Reisen nach Syrien gewarnt oder gar für mehrere Provinzen des Iraks zur Ausreise aufgerufen“ (Majid Sattar, FAZ S. 2, 0,45€ bei Blendle) (Beweislink), aber immerhin: Wer sich immer noch am liebten an türkischen Stränden in die Sonne legt, muss sich nun zumindest kurz gedanklich damit auseinandersetzen, dass im gleichen Land willkürlich Menschen verhaftet werden, die anderes zu tun haben, als RT Erdogan zu preisen. Und deutsche Medien hatten endlich mal wieder ein Thema, über das sie alle das Gleiche schreiben konnten. 

Verkündet hat die Verschärfung der Reisehinweise gestern Außenminister Sigmar Gabriel auf einer Pressekonferenz, auf der er auch dementierte, was die Bild-Zeitung vorher vermeldet hatte (Robin Alexander, Daniel Friedrich Sturm, welt.de):

„Auf Nachfrage widerspricht Gabriel einem ,Bild’-Bericht, wonach Erdogan angeboten habe, den inhaftierten WELT-Journalisten Deniz Yücel gegen zwei türkische Ex-Generäle auszutauschen. ,Ich kenne kein offizielles Tauschangebot’, sagt Gabriel. Ein entsprechender Schriftverkehr oder Anruf aus den vergangenen Wochen sei ihm nicht bekannt. ,Ich habe das nur in der Zeitung gelesen.’“

Dazu der bearbeitete Agenturbericht bei Spiegel Online

„Gabriel wählte seine Worte aber mit Bedacht. Denn offiziell war das Angebot tatsächlich nicht. Stattdessen soll Erdogan Gabriel den Austausch im persönlichen Gespräch diskret unterbreitet haben.“

Die Ex-Generäle, die in Deutschland Asyl beantragt haben, sind immer noch hier, während Deniz Yücel weiterhin in der Türkei im Knast sitzt, nun schon seit 158 Tagen, denn 

„[a]bgesehen davon, dass Erdo?ans Regierung damit - unabsichtlich? - offenlegt, wie wenig ihr ein Rechtsstaat bedeutet, kann die Bundesregierung derlei nur mit Abscheu von sich weisen. Sie würde selbst schwerste Verbrechen begehen, sollte sie sich auf derlei einlassen.“ (Stefan Braun in einem Kommentar bei sueddeutsche.de

Und was lernen wir als kleine Medienmedienkolumne daraus? Wer dieser Tage als Journalist in die Türkei reist, ist nun auch offiziell davor gewarnt, dass er im Gefängnis ohne Kontakt zum deutschen Konsulat enden könnte. Doch während es sich als Tourist auch an der kroatischen Adria oder auf Ibiza gut am Strand liegen lässt, ist eine unabhängige Türkei-Berichterstattung von diesen Orten so schwer zu bewerkstelligen. 

[+++] Noch gibt es aber auch deutsche Kollegen, die aus und über die Türkei berichten, wie eine Vielzahl an Dokumentationen zeigt, die anlässlich des Jahrestages des Putschversuches in den vergangenen Tagen im Fernsehen liefen. Thomas Gehringer hat sie für die aktuelle Ausgabe epd medien (derzeit nicht online) alle gesehen, und nach der gestern angeschobenen Debatte über das vermeintliche Versagen der Medien in der Flüchtlingskrise, als sich angeblich alle unkritisch hinter Angela Merkels Politik stellten, gehört sich nun zu klären, ob sie es bei Erdogan und seiner Regierung eventuell genau umgekehrt machen. 

Gehringer: 

„Von ,Dämonisieren’ kann zwar keine Rede sein, aber dass Oppositionelle und Kritiker vielfach den Ton angeben, ist nicht zu bestreiten. Daran gibt es auch nichts auszusetzen, denn gerade jenen eine Stimme zu geben, denen das Wort regierungsamtlich abgeschnitten werden soll, ist journalistisch geboten.“

Aber:

„Die Frage, welche Mitverantwortung Europa an der Entwicklung in der Türkei trägt, wurde jedenfalls ziemlich vernachlässigt im Jahrestags-Fernsehen.

Was außerdem fehlte: Reportagen aus dem Alltag, ein Blick in die Normalität der Türkei jenseits des politischen Streits. Erdogan-Anhänger kamen durchaus in einigen Filmen zu Wort. Ihnen ausführliche Beiträge zu widmen, mag zugegebenermaßen nicht sehr erbaulich sein. Dennoch ist es notwendig herauszufinden und abzubilden, was ihre Motive und Ansichten sind. Der gebotenen Solidarität mit Deniz Yücel, Mesale Tolu und den anderen über 160 in der Türkei inhaftierten Journalisten tut das keinen Abbruch.“

Dafür, s. oben, müssen sie aber in die Türkei reisen und vor allem auch wieder ausreisen dürfen.

[+++] Um noch kurz bei All-time-Themen-Favorits zu bleiben: Beim Vorgehen gegen Hate Speech (hat sich Wolf Schneider eigentlich schon zu dem bösen Anglizismus zu Wort gemeldet?) hat Twitter eine ganz erstaunliche Entdeckung gemacht, wie im Blog des Dienstes nachzulesen ist: 

„Communication about problematic Tweets, especially to the people who send them, is key. Accounts that demonstrate abusive behavior are now limited for a time, and told why. Accounts that we put into this period of limited functionality generate 25% fewer abuse reports, and approximately 65% of these accounts are in this state just once.“

Sollten sich die Facebook-Arvatoschen Minions ihr Leben etwa so leicht einfacher machen können: Nicht nur löschen, sondern auch sagen, warum? Das wäre doch fast zu simpel. 

Wer sich derweil lieber mit dem anderen anglophonen Favoriten namens Fake News auseinadersetzen möchte, kann in der Mediathek die Mario-Sixtus-Doku „Im Netz der Lügen - Falschmeldungen im Internet“ nachsehen, die gestern Abend auf ZDF info lief. 

[+++] Das Tagesschau-Blog ist tot (echt jetzt), es leben die Faktenfinder! Was hier am Dienstag erst anklang und am Mittwoch weitergedreht wurde, kann nun als bewiesen gelten: Die Truppe aus dem Hause ARD-aktuell hat gerade einen G-20-Nachbereitungs-Lauf, den wir nicht einfach unkommentiert an uns vorbeiziehen lassen wollen. 

Allein gestern erschienen der vorbildlich als solcher kenntlich gemachte Augenzeugenbericht von einem wohl unbeteiligten Hamburger, der offenbar Opfer von Polizeigewalt wurde

(„Nach seiner Darstellung wird er plötzlich von einem Polizisten am Kragen gepackt und aus dem Hauseingang gezogen. Er nimmt nach eigenen Angaben die Hände hoch, leistet keinerlei Widerstand und ruft den Beamten zu, dass er nur Fotos gemacht habe. Doch F. wird zu Boden gerissen, seine Brille fliegt weg und geht zu Bruch. Anschließend schlagen und treten angeblich mehrere Beamte auf ihn ein“),

die vergebliche Suche nach Beweisen, dass unter den Randalierern Rechtsradikale waren, sowie die Dokumentation einer Recherchereise zu Linksradikal-Touristen nach Spanien

(„Wir finden eine Gruppe, die bei G20 in Hamburg dabei war. Sie wollen uns zu einem Mann führen, der auch auf den geposteten Fotos zu sehen war und versprechen ein Interview - allerdings erst nach ein paar Vorkehrungen: Wir werden zu einem verlassenen Haus geführt, das Interview muss anonym sein. Den Ort aber erkennen wir sofort wieder - hier hat die BAF auch ihr Video-Manifest zum G20 gedreht. Vor gleicher Kulisse soll nun auch unser Interview stattfinden. Sie bestehen darauf, dass auch sie uns während des Interviews filmen“).

Indem es unaufgeregt alle Fäden aufnimmt und auseinanderdröselt, beweist das Team, was dieses Faktenfinden eigentlich ist: Journalismus.

Dass es nun ausgerechnet im Nachgang zum G20-Gipfel zu Höchstform aufläuft, erkläre ich nun einfach mal mit der Tatsache, dass die Redaktion in Hamburg angesiedelt ist und Chaos vor der eigenen Haustür Journalisten besonders zur Arbeit anstachelt. Ganz recht: die Faktenfinder zeigen zudem, wie Lokaljournalismus aussehen kann, wenn er von Profis mit entsprechenden (finanziellen) Möglichkeiten gemacht wird. 

Wäre es schön? Es wäre schön! Der lokalzeitungsjournalistische Alltag bleibt aber weiterhin so


Altpapierkorb

+++ Über die gestern im Altpapier vorgestellte Studie der Otto Brenner Stiftung zum vermeintlichen Medienversagen in Zeiten der Flüchtlingskrise hat für Springers Welt Christian Meier mit deren Autor Michael Haller gesprochen. Wer sich dazu bereit erklärt, „dass die Axel Springer SE mir weitere Medienangebote per E-Mail unterbreitet“ und dazu seine E-Mail-Adresse hinterlässt, kann das Interview sogar kostenlos lesen. +++

+++ Zu Türkei-Werbung in deutschen Medien im Allgemeinen und durch den Springer-Verlag im Speziellen (zuletzt gestern im Korb) kolumniert bei @mediasres Silke Burmester. +++

+++ Versprochen ist versprochen und wird nicht gebrochen, und daher liegt am Grab von Helmut Kohl in Speyer nun ein Kranz des Nachrichtenmagazins Spiegel. Die Rheinpfalz berichtet. +++

+++ Alles Verlierer, außer der Tagesspiegel: Jens Schröder analysiert bei Meedia die aktuellen Auflagenzahlen deutscher Regionalzeitungen. +++

+++ Gute Programmbeschwerde will Weile haben. Diese Erfahrung hat die Initiative Fair Radio gemacht, die nur ein Jahr warten musste, bis die Landesmedienanstalt ihren Verdacht bestätigte, dass FFH Schleichwerbung für eine Carsharing-App gemacht hat (www.fair-radio.net). +++

+++ „Gedruckte Kaufhausreden“ lautet die vielversprechende Überschrift über der aktuellen Spiegel-Daily-Kolumne von Ulrike Simon über die scheue Gattung der Politikerredenschreiber. +++

+++ Der Beitragsservice von ARD und ZDF hat Probleme beim Sparen, auch von Stellen im eigenen Haus, schreibt Volker Nünning in der Medienkorrespondenz, nun auch online. +++

+++ Apropos Geld, Verschwendung und öffentlich-rechtliche Sender: die ARD interessiert sich für die Fernsehrechte an der Formel 1 ab 2018, und die FAZ hat’s (bzw. hatte es) exklusiv. +++ 

+++ „Man kann anhand von 1, 2 oder 3-Elementen prima feststellen, wie alt jemand ist. Fragt man nämlich nach dem Spruch, den der Moderator dabei sagt, gibt es zwei Alternativen. Sagt jemand ,Ob ihr wirklich richtig steht, seht ihr, wenn das Licht angeht’, dann hat er die Sendung ziemlich sicher nach 1985 kennengelernt, als die Moderatoren Biggi Lechtermann, Gregor Steinbrenner, Daniel Fischer oder eben Elton hießen. Lautet die Antwort indes ,Ob ihr recht habt oder nicht, sagt euch gleich das Licht’, dann war er ziemlich sicher schon Fernsehkunde, als Michael Schanze die Show in den späten Siebzigerjahren aus der Taufe hob.“ Nun wird die Sendung 40 Jahre alt, und Hans Hoff nimmt sich auf der SZ-Medienseite ihrer an. +++

+++ „Marty (Jason Bateman) ist Finanzberater in Chicago, seine Frau Wendy (Laura Linney) schläft mit einem anderen, und die beiden Kinder Charlotte (Sofia Hublitz) und Jonah (Skylar Gaertner) sind just in dem Alter, wo nichts langweiliger ist als die eigenen Eltern. 57 Minuten später ist sowohl Martys Firmenpartner als auch Wendys Lover tot und die Familie auf dem Weg in das Hinterland des Bundesstaates Missouri – die titelgebenden Ozark Mountains“ - Nina Rehfeld stellt auf der FAZ-Medienseite den neusten Netflix-Zugang „Ozark“ vor (0,45 €, Blendle). Außerdem präsentiert Ursula Scheer die Ergebnisse der nun schon mehrfach angesprochenen Brenner-Studie (nochmal Blendle). +++

+++ „Heute vor einem Jahr wurden wir als der führende Anbieter für exklusiven Live-Sport, hochqualitative Serien, Filme und Entertainment wahrgenommen. Mit dem Start von Sky Arts haben wir unser Portfolio um Kunst und Kultur erweitert“ ist kein Zitat aus der Pressemitteilung von Sky Arts, sondern die erste Antwort der Programmchefin Elke Walthelm im Interview von Joachim Huber für den Tagesspiegel. Weitere Paradebeispiele der Authentizität gefällig? Bitteschön: „Von Hochkultur bis Subkultur – Sky Arts kennt keine Grenzen, Regeln oder Gebote im Umgang mit seinen Stoffen“ oder „Grundsätzlich sind unsere kuratierten monothematischen Programmspecials – ob linear oder on Demand – ein Angebot, das unsere kulturinteressierten Zuschauer sehr gerne annehmen.“ +++

+++ „Wer morgens das Smartphone in die Hand nimmt, soll nicht zuerst Facebook, Instagram oder die Nachrichtenapp öffnen. Sondern Google. Genauer gesagt die Google App, die auf jedem Android-Smartphone vorinstalliert ist und in den kommenden Wochen ein größeres Update bekommt. Aus Google Now, dem ersten Versuch eines persönlichen Assistenten, wird dabei der neue Google Feed. Die Idee bleibt gleich: Auf Basis der individuellen Suchhistorie und Informationen wie dem aktuellen Standort sollen den Nutzern neue, relevante Informationen präsentiert werden.“ (Eike Kühl, Zeit Online). +++

+++ Quelle: Facebook. „Wenn Leute Medien-Inhalte innerhalb von Social Networks lesen oder diese über die Web-Suche finden, können sich die meisten Leser nicht an die Medien-Marken als Absender erinnern. Die Leser merken sich stattdessen, die Inhalte zum Beispiel ,bei Facebook’ gelesen zu haben“, fasst Stefan Winterbauer bei Meedia die Ergebnisse einer Studie des Reuters Institute for the Study of Journalism der Uni Oxford für Großbritannien zusammen. +++

Neues Altpapier gibt es wieder am Montag. Schönes Wochenende!