Neue Grauzone in Sicht
Der G20-Gipfel als "Social-Media-Gipfel" betrachtet. Darf das aufgelaufene Bildmaterial zu Fahndungszwecken dienen, z.B. auf Boulevardzeitungs-Titelseiten? Der alte Witwenschüttler-Kniff des In-den-Mund-Legens ist auch wieder da. Und bei der Huffington Post ist ein "Ponyhof" verschwunden. Außerdem: "Das Wunder von Hamburg"; und die ARD ist Facebooks plumper PR-Strategie auf den Leim gegangen.

Hätten Sie's gewusst? Der offizielle Internetauftritt der nicht nur in Deutschland weltberühmten G20 heißt g20.org und erwartet Besucher mit einem sanft animierten, farbschönen Logo aus Linien, die sich zu einem Symbol verschlingen, das vielleicht sogar Olympia-Assoziationen weckt. Und rundherum auf der vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung gestalteten Seite locken auf schönste Weise konstruktive Text-Schlagzeilen ("Merkel will Signal der Entschlossenheit", "Hamburg wird Zentrum der Weltpolitik" ...) zum Weiterlesen, aber auch solche Überschriften, die beinahe gespannt machen ("G20-Gipfel - Weltbild des 'Berliner Modells'")  ...

Nur falls jemand kurz rekapitulieren wollen sollte, was genau in der Bilder- und ein wenig auch: Schlagzeilen-Schlacht der letzten Zeit untergegangen war (und warum noch mal sie eigentlich stattfinden sollte).

Markus Beckedahl hat für netzpolitik.org die 19-seitige Abschlusserklärung (PDF) und weitere ebd. verfügbare Dokumente gelesen und ist, nicht überraschend, nicht überrascht, aber unzufrieden:

"Bei der Zusammensetzung der G20-Staaten darf dann auch der wichtige Zusatz nicht fehlen:

'Wir bestätigen, dass die Grundsätze des Rechtsstaats online ebenso gelten, wie dies offline der Fall ist.'

Zu den G20-Staaten gehören viele Staaten mit dreistelligen 'Plätzen' auf der Rangliste der Pressefreiheit: Brasilien (103), Indonesien (124), Indien (136), Mexiko (147), Russland (148), Türkei (155), Saudi-Arabien (168) und China (176)".

Genau dieser Hintergrund macht die Hamburger Ereignisse so dramatisch (Altpapier gestern). Wenn es so ein "Berliner Modell" ernsthaft gab, dürfte es nicht sehr überzeugend gewirkt haben.

[+++] Immerhin, die gründliche Nachbereitung der Ereignisse ist in vollem Gange.

"Social-Media-Gipfel" nennt ndr.de den "wahrscheinlich der am besten medial dokumentierte Gipfel der Geschichte". Dann gibt André Kroll einen Überblick, welche sogenannten sozialen Medien am meisten genutzt wurden. In diesem Fall sei Twitter dem eigentlich viel intensiver genutzten Facebook weit voraus gewesen, und

"wer wollte, konnte über Periscope live dabei sein",

das ebenfalls über Twitter verbreitet wird. Bekannt wurde u.a. TAZ-Reporter Martin Kaul, der seine eigenen, nicht schönen Erfahrungen als Live-Bewegtbild-Reporter am vergangenen Freitag in einem fröhlichen Namensreim zusammengefasst hat:

###extern|twitter|martinkaul/status/883449785885130757###

Gestern berichtete er in der Deutschlandfunk-Sendung "@mediasres" davon ("Mir hätte vielleicht noch klarer sein sollen, dass es vielleicht auch ein Risiko ist, da mit der Kamera unterwegs zu sein").

Jenseits der sehr unterschiedlichen Konzepte von Privatsphäre, die zurzeit existieren, freilich auf Großveranstaltungen eingeschränkt sind, zeigt sich auch, dass in der irren Menge aufgelaufenen Bildmaterials viel Fahndungsrelevantes steckt. Topthema der Medienressorts ist der Fahndungsseiten-Charakter der Titelseite der gestrigen Bild-Zeitung (Altpapierkorb).

"Eine Zeitung im Dienst der Ermittlungsbehörden? Neu ist das nicht", schreibt der Tagesspiegel, der dann noch mal zusammenfasst, was es ungefähr Ähnliches schon gab (und Bild-Zeitungs-Ausrisse so zur Vergrößerund´g anbietet, dass tagesspiegel.de-Leser mitfahnden können). Instruktiver gehen Karoline Meta Beisel und Katharina Riehl auf der SZ-Medienseite die Sache an:

"Auf Nachfrage bei der Hamburger Polizei, die ihrerseits öffentlich um die Zusendung von Beweisfotos gebeten hatte, bekommt man am Montag aber die sehr bestimmte Antwort: Wir haben damit nichts zu tun. Auch der Springer-Verlag erklärt, die Bilder ohne Absprache mit der Hamburger Polizei veröffentlicht zu haben, verweist aber auf Twitter: Dort hatte die Berliner Polizeigewerkschaft den Bild-Aufruf weiterverbreitet, was man bei Springer offenbar als eine Art nachträgliche Zustimmung des Rechtsstaats versteht.

Beim Presserat, dem Selbstkontrollorgan der deutschen Medien, heißt es auf Nachfrage, dass ... man die Sache prüfen werde".

Heißt: Es gibt wohl noch gar keine Regeln oder halbswgs auf der Höhe der Digitalära befindliche Gesetze für diese Grauzone. Oder doch eine, und die ist "ziemlich einfach und kurz: Nichts. Absolut nichts hat eine solche populistische Medien-Aktion im Rechtsstaat verloren", wie Stefan Koldehoff wiederum in "@mediasres" meinte? Die Diskussion ist eröffnet ...

Beispiele für Fahndungsaufrufe mit falschen Fotos und sogar nach den Falschen gibt es jedenfalls, auch wochenaktuell aus Hamburg: In einem, bereits hier verlinkten, weiter aktualisierten faktenfinder.tagesschau.de-Artikel etwa geht's unter anderem um einen womöglich nur angeblichen Böller-Werfer, der angeblich sogar einen Polizisten in Gefahr, zu erblinden, gebracht hatte. Diese von der Bild-Zeitung mit Fragezeichen, aber unverpixelten Fotos gebrachte Meldung verbreitete sich erheblich rasanter in den sog. soz. Medien als es später Richtungstellungen und polizeiliche Tweets, diese Internet-Fahndung doch "bitte" zu "beenden!", verbreiteten.

Und auch diese Mechanik wird inzwischen an weiteren Stellen beschrieben, z.B. unter der Überschrift "Die Hilfssheriffs von Hamburg" beim Correctiv, das sich ja wegen seiner weiter laufenden Bewerbung, auf Facebook saubermachen zu dürfen, ja selbst Hilfssheriff"-Vorwürfen ausgesetzt sieht.

[+++] Bei der Bild-Zeitung sind sie in ihrem Element, wannimmer in der zersplitternden Gesellschaft noch Massen emotionalisiert werden. Das erfuhr gestern auch der vor Tatendrang sprühende Heiko Maas, der es für eine gute Idee hielt, in der ausschließlich via Facebook verbreiteten Talkshow der Bild-Zeitung aufzutreten. Wie die ausgefuchsten Moderatoren Nikolaus Blome und  Anna von Bayern dort die Forderung, so wie früher "Rock gegen rechts"-Konzerte stattfanden, nun bitte gegen links zu rocken, dem Bundesjustizminister nach alter Witwenschüttler-Schule in den Mund gelegt haben, beschreiben Stefan Winterbauer bei meedia.de, wo das Video der fast 90-minütigen Sendungen eingebunden ist, und Moritz Tschermak bei bildblog.de.

Genauso aufschlussreich ist die mediale Weiterverbreitung der Kaum-Meldung, die angefeuert von Blome dann auch sowohl von redaktionellen Medien wie auch interessierten Funktionsträgern anderer Parteien übernommen wurde. Dass viele, die algorithmisch vom Trend erfahren haben und ihn gerne befeuern, auch von den Richtigstellungen oder vom "noch einmal Einordnen" der Sache durch Maas' Social-Media-Team auf Facebook erfahren haben, scheint unwahrscheinlich.

[+++] Mehr G20- und G20-Begleiterscheinungen-Nachbereitung im Schnelldurchlauf: "Die Verharmlosung oder Rechtfertigung von Gewalt ist nicht mit einer Mitarbeit beim Störungsmelder vereinbar. Wir werden daher mit beiden Autoren in Zukunft nicht mehr zusammenarbeiten", steht inzwischen in der aktualisierten Fassung der gestern hier verlinkten "In eigener Sache"-Meldung des zeit.de-Blogs Störungsmelder, der sich von zwei "ehrenamtlichen", unbezahlten Mitarbeitern also getrennt hat. Um welche es sich handelt, steht wiederum bei meedia.de. Zu den Gründen gehören u.a. sozusagen auch Fahndungsaufrufe nach "politisch rechten" Bloggern, die einer der Genannten via Twitter lanciert hatte. +++

+++ Der gestern hier genannte faz.net-Blogeintrag Don Alphonsos, der (bzw. dessen Kommentaren) mit zum zeit.de-Entschluss beitrugen, steht heute leicht aktualisiert auf der FAZ-Medienseite. "Auch wenn sich der 'Störungsmelder' vorsichtig von seinen Mitarbeitern distanzierte, zeigt sich, wie weit die Grauzone von gewaltbereiten Autonomen über den Online-Auftritt der 'Zeit' bis zu Veranstaltungen mit dem Justizminister reichen kann", schreibt Rainer Meyer dort mit Blick auf die geläufige Kritik an Heiko Maas. +++

+++ Dass der Blog der Journalistengewerkschaft DJV zur deutschen Huffington Post verlinkt, ereignet sich auch nicht täglich. Aber gestern geschah's. Hendrik Zörner zitiert dort Flo Smith, der über seinem bzw. dem von einem anderen "aufgezeichneten" Huffpo-Beitrag eindrucksvoll dreinschaut – allerdings den bei djv.de zitierten "Ponyhof"-Vergleich ("Ich habe drei Jahre im Irak gearbeitet. Ich war in der Türkei bei den Gezi-Protesten, in Athen, als ... die Stadt brannte. ... Aber all das war ein Ponyhof im Vergleich zu dem, was gerade in Hamburg los ist") aus dem Original inzwischen gelöscht zu haben scheint. Vielleicht sollte in serösen Kontexten auf Links zur Huffpo doch eher verzichtet werden ... Aber die Frage, ob/ warum "Polizisten Berichterstatter wie Steineschmeißer behandelten" (Zörner), ist auch noch offen. +++

+++ Und die Anzahl der anwesenden Reportern vom BKA entzogenen Presse-Akkreditierungen beläuft sich auf neun (TAZ). Siehe dazu ausführlicher auch morgenaktuell tagesschau.de. +++ Und falls Sie Lust auf den hardboiled formulierten Erfahrungsbericht "G20: Schaukelnde Eier und männliche Gewaltmasturbation" der neues deutschland-Reporterin Elsa Koester haben, klicken Sie hier. +++

Dagegen zum versöhnlichen Abschluss (dieses Abschnitts, für heute): "Das Wunder von Hamburg"

###extern|twitter|sefa_nie/status/884316969163468800###

Beachten Sie auch die Fortsetzungen unterm Original-Tweet!

[+++] Gestern erregte bzw. heischte außerdem der WDR Aufmerksamkeit mit der Pressemitteilung:

"Facebook hat zum ersten Mal überhaupt Journalisten Zugang zu seinem streng abgeschirmten Löschzentrum in Berlin gewährt. Die ARD-Journalisten Dennis Horn (WDR) und Justus Kliss (rbb) konnten dort Eindrücke von der Arbeit des Löschteams sammeln und als einziges Kamerateam exklusive Aufnahmen machen."

Das sollte auf "die exklusiven Aufnahmen" gespannt machen, die die ARD dann in den (wegen Sommer oder so auf 22.40 Uhr gelegten) "Tagesthemen" zeigte.

Hat sich gelohnt, darauf zu warten? Eindeutig: nein. Zu sehen sind im Dreiminüter ziemlich oft und gut Dennis Horn, ein Bürogebäude von außen, kurz ein Großraumbüro von innen, allerhand Facebook-Werbebildmaterial, gründlichst anonymisierte Bertelsmann-Arvato-Mitarbeiter, die per "Geprächsprotokoll" ungefähr nichts sagen, ein gut frisierter Facebook-Manager, der Werbung für sein engagiertes Unternehmen macht, sowie Renate Künast, die vor kurzem schon mal unter größerem Medien-Hallo dasselbe "Löschzentrum" hatte besuchen dürfen.

Natürlich kann man mal überfliegen, was Horn in der elektronischen ARD-Presse dazu geschrieben hat, im WDR-Blog Digitalistan. Aber die drei Minuten "Tagesthemen"-Sendezeit hätte die ARD eher irgendeinem ihrer Auslandskorrespondenten spendieren sollen, anstatt Facebooks plumper PR-Strategie auf den Leim zu gehen.


Altpapierkorb

+++ Großes Hallo auch für Klaus Sondergelds epd medien-Beitrag "Über den öffentlich-rechtlichen Telemedienauftrag": Gegen den polemisiert Michael Hanfeld auf der FAZ-Medienseite heute kräftig an: "Nur vor Gerichten haben Presseverlage Einfluss darauf nehmen können, dass ihre Geschäftsmodelle im Netz, von denen ihre Zukunft abhängt, vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk mit dessen scheinbar 'kostenlosen' Angeboten, die von allen zwangsfinanziert werden, nicht an die Wand gedrückt werden. Zuletzt hat deshalb der Zeitungsverlegerverband Bremen Klage gegen das Online-Angebot von Radio Bremen eingereicht. Das kann er nur, solange es im Rundfunkstaatsvertrag den Begriff 'presseähnlich' und damit eine Unterscheidung zwischen Online-Auftritten von Verlagen und öffentlich-rechtlichen Sendern gibt. Die ARD gibt sich auf diesem Feld unnachgiebig und produziert Textmengen, wie man sie beim ZDF nicht findet." +++

+++ "Erst hat ProSiebenSat.1 die Leistungen, die die Sender eigentlich erbringen müssten, aus dem Programm verschwinden lassen, nun möchte der Konzern Geld dafür haben, dass sie wieder auftauchen", meint Diemut Roether in der aktuellen epd medien-Ausgabe zur neulich hier erwähnten neuen "Medienordnungs"-Idee des Unterföhringer Konzerns. +++

+++ Falls Sie denken, die oben erwähnte Bild-Zeitung hätte Ihren Nimbus durch die viele, oft sitzende Kritik verloren: "Bild.de hat sich im Juni im IVW-Online-Ranking die Spitzenposition von Ebay zurückgeholt und ist damit wieder das reichweitenstärkste deutsche Onlineportal. Auch eine weiteres Onlineangebot aus dem Hause Axel Springer war im vergangenen Monat sehr erfolgreich: Die Nachrichten-App Upday hat Spiegel Online überrundet ..." (horizont.nets Reichweiten-Chartsanalyse). +++

+++ Was neues Gedrucktes: "In rund 300 000 Berliner Briefkästen wird an diesem Mittwoch ein neues Printprodukt liegen: der 'Deutschland-Kurier'" des "Vereins zur Erhaltung der Rechtsstaatlichkeit und der bürgerlichen Freiheiten" (rechtundfreiheit.de). Der Tagesspiegel kennt weitere Details zur hier (im Korb) erwähnten AfD-nahen Zeitung. +++

+++ Die neue "Fernsehgeld-Tabelle" der Bundesliga ist raus: bei kicker.de zum Durchklicken, zusammengefasst im Standard: Bayern München 17 Plätze vor Leipzig! +++

+++ Die "eigene Stadt" bzw, der "neue Stadtteil" bzw. das "Dorf", das Facebook sich, also für Mitarbeiter und vielleicht auch für Nicht-Mitarbeiter, die's bezahlen können, in Menlo Park in Kalifornien baut, ist weiteres Thema der FAZ-Medienseite. +++ Das schönste Sommerloch-Thema hat die Süddeutsche identifiziert und schon verbraten: "Drei Jahre nach dem Ende der Show wird wieder einmal über ein mögliches Comeback von 'Wetten, dass ..?' spekuliert." +++

+++ Die Arte-Doku "Exil Deutschland – Abschied von der Türkei" mit, aber auch (u.a.) von Can Dündar, empfiehlt der Tagesspiegel. +++

+++ Und am Sonntagabend in der Anne-Will-Talkshow gab's eine "ungewöhnlich lange Sendestörung" (dwdl.de). +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Mittwoch.