Die letzte Revolution, die von Kiel ausging, war die Novemberrevolution 1918. Ihr Ausgangspunkt war der Matrosenaufstand in der Ostseestadt. Fast 100 Jahre später könnte von Kiel nun die „Neuausrichtung des Auftrags des öffentlich-rechtlichen Rundfunks“ ausgehen. Das wäre zwar kein im wortwörtlichen Sinne revolutionärer Vorgang, im umgangssprachlichen Sinne aber ganz gewiss. Der Mann, der die „Neuausrichtung“ vorschlägt, heißt Matthias Knothe, er leitet in der schleswig-holsteinischen Staatskanzlei in Kiel die Stabsstelle Medienpolitik. Knothe sitzt also an einer der Schaltstellen der medienpolitischen Macht, als die die Staatskanzleien der Länder gelten. Der Jurist plädiert in einem Diskussionsbeitrag, den die Medienkorrespondenz gerade online gestellt hat, die ARD-Anstalten und das ZDF sollten
„selbst entscheiden, für welche Zielgruppen und für welchen jeweiligen Verbreitungsweg sie ihre inhaltlichen Angebote produzieren“.
Für medien- und senderpolitische Neueinsteiger sollte man vielleicht kurz betonen, dass dies bisher nicht der Fall ist. Um es mit Knothe zu sagen:
„Jede Neubeauftragung oder wesentliche Änderung eines Programms benötigt zu ihrer Umsetzung einer staatsvertraglichen (gesetzlichen) Ermächtigung. Jede Einführung, Änderung oder Abschaffung eines der bundesweit verbreiteten linearen Programme setzt eine entsprechende Einigung aller 16 Länder voraus. Dies hat dazu geführt, dass einmal beauftragte Programme quasi Bestandsschutz genießen. Der Widerruf einer Beauftragung ist angesichts von Standortfragen in den Ländern alles andere als einfach. Wenn entsprechende Beauftragungen revidiert werden, hat dies meist übergeordnete Gründe, wie die Einstellung von Eins Plus und ZDFkultur als Ausgleich für die Einführung von Funk gezeigt hat.“
Gegen diese „sehr starre und unflexible Lösung“ argumentiert Knothe auf zwölf Druckseiten. Hätte sein Modell bereits gegolten, als sich Funk in der Planungsphase befand, hätten sich ARD und ZDF auch dafür entscheiden können, die Spartenkanäle Eins Plus und ZDFkultur am Leben zu lassen - wenn sie bereit gewesen wären, dafür anderswo in ihren großen Apparaten Geld abzuzwacken. Was das Finanzielle angeht, spricht sich Knothe nämlich dafür aus, dass die Sender im Rahmen eines vorgegebenen staatlichen Budgets selbst
„über die Verteilung des Geldes verfügen (können), sie wären nur durch die Höhe ihrer Mittel gebunden (...) Bei der Zuteilung des Budgets sind verschiedene Formen denkbar. Man könnte sowohl jeder einzelnen Anstalt ein Gesamtbudget zuordnen und hierbei den jeweiligen Anteil jeder Anstalt der ARD zum ARD-Gesamtangebot definieren. Weiterhin könnten von staatlicher Seite prozentual Teilbudgets festgelegt werden, zum Beispiel für Personal-, Programm- und Verbreitungskosten, welche sodann einzuhalten wären.“
[+++] Die Debatte um Sophie Hafners und Joachim Schroeders Dokumentarfilm “Auserwählt und ausgegrenzt - Der Hass auf Juden in Europa“ hat schon recht viele unerwartete Wendungen genommen, für die aktuellste ist Arte verantwortlich. Die Weigerung des deutsch-französischen Senders, den Film erstauszustrahlen, hatte die Debatte überhaupt erst ausgelöst. Nach der Entscheidung von WDR und ARD, den Film, flankiert von einer Talkrunde, heute zu zeigen (Altpapier von Montag), haben die Straßburger einen weiteren Argumentationssalto vollbracht:
„Mit Blick auf die öffentliche Diskussion und um einen identischen Kenntnisstand des ARTE-Publikums in Frankreich und Deutschland zu ermöglichen“,
will Arte nun das zeigen, was die ARD auch zeigt, wenngleich zeitversetzt. Eine der Begründungen: „Derzeit kursieren im Internet nur fehlerhaft übersetzte französische Fassungen.“
„Irre, jetzt ist auch Arte wieder dabei“,
lautete zunächst die nicht unbedingt kühne Überschrift im Tagesspiegel dazu. Die Redaktion entschied sich dann aber bald, das wertende erste Wort zu entfernen.
Wer, kurzer Exkurs, was anderes Dokumentarisches sehen möchte heute Abend als “Auserwählt und ausgegrenzt“: Auf Arte läuft vorher unter anderem „Die Diva von Kairo - Oum Kalthoum“, ein „sehr sehenswerter“ (Sonja Zekri, SZ) Film über eine Sängerin, deren „identitätsstiftender Magnetismus und (…) künstlerische Kraft in der arabischen Welt ohne Beispiel (sind)“.
Weitere Urteile über “Auserwählt und ausgegrenzt“, den meistdiskutierten TV-Dokumentarfilm zumindest seit der Existenz dieser Kolumne, sind natürlich eingetrudelt:
„Dieses Werk (…) ist einseitig, unintellektuell und anwaltschaftlich“,
meint NZZ-Auslandsredakteur Ulrich Schmid. Angesichts dessen, dass die Granden der ARD angekündigt haben, dass in der auf den Film folgenden „Maischberger“-Sendung auf „handwerkliche Mängel“ (Volker Herres) bzw. „unsere handwerklichen Fragezeichen“ (Thomas Buhrow) eingegangen werden soll (siehe ebenfalls Altpapier von Montag) - Sender greifen vor der Ausstrahlung eines Films normalerweise nicht dessen Autoren an, daran sollte man in diesem Zusammenhang vielleicht noch einmal erinnern -, geht der mit NZZ-Mann Schmid nicht übereinstimmende Michael Hanfeld in der FAZ auf den „Eindruck“ ein,
„dass es dem WDR zuvörderst darum geht, sein Gesicht zu wahren und die Filmemacher zu desavouieren. Das ist dem Thema, um es vorsichtig zu sagen, nicht angemessen. Der Film ‚Auserwählt und ausgegrenzt‘ ist eine notwendige Provokation. sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk eine solche ‚Provokation‘ nicht nur leisten kann, sondern leisten muss und sich anstrengen sollte, sie journalistisch so abgerundet wie möglich zu formulieren, will er seinem Auftrag gerecht werden. Wir dürfen gespannt sein, ob der WDR erkannt hat, worum es hier geht, und die Gelegenheit nicht nur nutzt, um an unbequemen Filmemachern ein Exempel zu statuieren.“
„Wir stellen im Film die von unseren Steuergeldern finanzierte antizionistische Begleitmusik vor Ort dar. Wenn über Flugzeugunglücke berichtet wird, dann verlangt auch niemand, dass man gleichzeitig die vielen geglückten Landungen erwähnt.“
Des weiteren sagt der Filmemacher:
„Seit sechs Monaten sprechen weder der WDR noch Arte mit uns. Stattdessen verbreitet sich der WDR seit zwei Wochen über angebliche Mängel des Films.“
Diese Kommunikationsstrategie scheint der WDR auch heute Abend in der „Maischberger“-Sendung beherzigen zu wollen: Auf der am Dienstag um 16.38 Uhr veröffentlichen Gästeliste stehen die beiden Autoren des Films jedenfalls nicht. Als Verteidiger des Films ist allerdings Ahmad Mansour eingeladen, der die Autoren Hafner und Schroeder beraten hatte, außerdem ist der Historiker Michael Wolffsohn dabei, einer von sechs Experten, von denen Hafner/Schroeder zu Jahresbeginn Stellungnahmen zu ihrem FIlm eingeholt hatten, in der Hoffnung, die Sender ließen sich von derlei beeindrucken.
Wer nach „Maischberger“ - oder dann erst recht - weiteren Debattenbedarf hat: Am Donnerstag lässt das Grimme-Institut in Bonn ebenfalls diskutieren - Disclosure: Ich bin einer der Podiumsteilnehmer -, der WDR streamt das Ganze und zeigt‘s am Sonntag auch im linearen Fernsehen (siehe u.a. dwdl.de).
[+++] Einen nicht zu unterschätzenden Anteil daran, dass der Dokumentarfilm über Antisemitismus heute in der ARD läuft, hat Götz Aly, denn er brachte am 2. Mai in der Berliner Zeitung die Debatte überhaupt erst in Gang (vgl. Altpapier). Einen Teil der Karmapunkte, die er sich dabei erarbeitet hat, verspielt der Historiker nun aber gleich wieder, indem er ebenfalls in der Berliner Zeitung gegen eine, herrje!, „Meinungspolizei“ anschreibt, und zwar jene, die gegen seinen Historikerkollegen Jörg Baberowski (siehe Altpapier) vorgehe. Konkret:
„Es kommt nicht in Frage, dass sich chronische Rechthaber wie Fischer-Lescano als Meinungspolizei etablieren.“
Wer ist dieser "Rechthaber"? Aly führt aus:
„In der Frankfurter Rundschau erfand der schneidige und weltanschauungsstarke Bremer Juraprofessor Andreas Fischer-Lescano: Bei Baberowski würden tagespolitische Statements und wissenschaftliche Arbeiten 'zu einem Amalgam rechtsradikaler Kritik verschmelzen, das durchsetzt ist von geschichtsrevisionistischen und nationalistischen Motiven.'"
Aus medienkolumnistischer Sicht bzw. für Freunde innerberliner Journalisten-Beefs ist daran interessant:
„Kritik- und distanzlos druckte der Tagesspiegel am 12. Juni 2017 eine Zusammenfassung dieses denunziatorischen Textes“,
kritisiert Aly, der das Konkurrenzblatt auch noch an einer anderen Stelle erwähnt.
[+++] Die Diskussionen, die das rechtsextremes Werk „Finis Germania“ auf einer renommierten Sachbuch-Bestenliste auslöste, waren Anfang der vergangenen Woche Thema im Altpapier. Nun sieht sich taz-Autor Andreas Speit, der als erster darüber geschrieben hatte, Angriffen und Beleidigungen von Seiten rechtsradikaler Autoren ausgesetzt. Darüber hat Speit nun, erneut für die taz, geschrieben. Ein zitierter Kamerad hat eine „Volksfront“ ausgemacht, die von „der taz bis zur FAZ“ reiche, ein anderer, so fasst Speit es zusammen, „ruft dazu auf, dass weitere U-Boote und Infiltratoren im Kulturbetrieb wider dem ‚ethnophoben Extremismus‘ weitere ‚metapolitische Bomben‘ zünden sollten“.
Allgemein lässt sich mit Speit sagen:
„Dass eine libertäre Gesellschaft ‚um tolerant zu sein‘, wie Umberto Eco gerade mit Blick auf die Neue Rechte formulierte, ‚die Grenzen dessen, was nicht tolerierbar ist, festlegen‘ muss, skandalisieren sie als ‚Meinungsdiktatur.‘“
[+++] Am Dienstag konnte das Team der „Football Leaks“-Rechercheure einen weiteren Erfolg verbuchen, insofern war es geschickt von kress.de, an jenem Tag, ein Interview mit Spiegel-Redakteur Rafael Buschmann, eine der zentralen Figuren des Projekt, zu veröffentlichen. Es geht in dem Gespräch indes nicht nur um „Football Leaks“. Zur Situation des Sportjournalismus sagt Buschmann zum Beispiel:
„Oft besteht bei regionalen Tageszeitungen und kleineren Medienhäusern ein enormes Abhängigkeitsverhältnis, weil die es sich nicht leisten können, vom Informationsstrom des Vereins abgeschnitten zu werden. Noch schlimmer steht es um Reporter, die für Zeitungen arbeiten, die gleichzeitig Medienpartner der Klubs sind. Solche Konstruktionen gibt es immer häufiger. Da wird es wirklich sehr schwierig. Die oft unkritische Berichterstattung hat nichts damit zu tun, dass diese Kollegen Fans wären, wie ihnen manchmal vorgeworfen wird. Sie wollen einfach im Job bleiben. Diese Abhängigkeit tut dem Journalismus nicht gut.“
Ein größeres Fass wird in den Interview auch noch aufgemacht:
„Was ist das wahrscheinlichste Szenario für einen Crash im Fußball-Geschäft?
„Wenn die TV-Gelder ausbleiben. Denn trotz aller Werbeeinnahmen ist die Branche in ihrer großen Breite am stärksten von der Vergabe der Verwertungsrechte abhängig. Denken Sie an die Kirch-Pleite (Link von mir - RM). Da ist von einem Tag auf den anderen ein Imperium zusammengebrochen. Wenn die Fernsehsender nicht mehr zahlen können, dann stehen die Vereine vor nahezu unlösbaren Aufgaben. Denn diese müssen die langfristigen und äußerst kostspieligen Verträge weiter erfüllen. Ohne die Einnahmen aus dem TV-Geschäft können sie das aber nicht. Dann kann es zum Crash kommen.
Altpapierkorb
+++ „Dass die Sonne aus Buhrows Gunsthimmel hell auf ihn scheint, darf als Tatsache gewertet werden.“ Geschrieben hat’s Hans Hoff für die SZ, und gemeint ist Helge Fuhst, stellvertretender Programmgeschäftsführer bei Phoenix. Ihm werden nun gute Chancen eingeräumt, ganz nach oben aufzurücken beim Ereignis- und Dokumentationskanal, denn in der zweiköpfigen Programmgeschäftsführung wird ein Posten frei, und das Vorschlagsrecht „liegt beim WDR“, also dessen heute oben schon vorkommenden Intendanten Thomas Buhrow.
+++ Ebenfalls in der SZ: ein Bericht über eine Diskussion in Berlin, die sich, so Markus Mayr, auf „folgende Frage zuspitzen lässt: Ist das deutsche Fernsehen rassistisch? Die Diskussion knüpfte an einen offenen Brief an, den der Bundesverband Casting Anfang Mai an TV-Anstalten verschickt hat. ‚Deutschlands Gesellschaft ist multikulturell und multisexuell‘, heißt es darin. Das könne jeder täglich feststellen. ‚Nur nicht in Film und Fernsehen.‘ Ob nicht auch eine afrikanisch aussehende Schauspielerin ohne Erklärung eine Hochdeutsch sprechende Hauptrolle spielen könne? Oder einer mit asiatischem Hintergrund den Thomas?“ Den Regisseur Friedemann Fromm zitiert Mayr mit den Worten, dass sämtliche Macher gefordert seien, dafür zu sorgen, dass dies möglich werde, sonst drohten die Geschichten zu „verarmen“.
+++ Wie sich die nationalistischen Tendenzen bzw. eine entsprechend geplante Neuformulierung des Mediengesetzes in Polen auf deutsche Verlage auswirken - das zeigt meedia.de. „Besonders betroffen wäre Bauer, obwohl der Verlag hier keine politischen und meinungsstarken Produkte herausgibt. Dennoch ist das norddeutsche Traditionshaus dort einer der führenden Zeitschriftenverlage des Landes. Jedes Jahr verkauft Bauer in Polen mit mehr als 30 Titeln rund 300 Millionen Exemplaren.“
+++ Was die Hetze türkischer Medien gegen das neue Moscheeprojekt der Berliner Anwältin Seyran Ates für Folgen für die Betroffene hat, berichtet Spiegel Online.
+++ In Mexiko hat die Regierung „seit mindestens zwei Jahren mit einer Spähsoftware unter anderem Journalisten ausspioniert“ (epd/taz).
+++ Ebenfalls in der taz: Warum es angebracht ist, mal wieder über die Bedeutung der Zeitschrift Tempo (1986-1996) nachzudenken. In diesem Fall ist eine zweifache Offenlegung angebracht: Der Text stammt von mir, und ich war etwas weniger als zwei Jahre Redakteur bei Tempo.
+++ Die Bundespressekonferenz und der DJV protestieren gegen die kürzlich verabschiedeten neuen „Zugangs- und Verhaltensregeln für den Bereich der Bundestagsliegenschaften“. Das berichtet der Tagesspiegel.
+++ Zu guter Letzt greift der Bildblog die Buzzfeed-Recherchen auf, wonach die Bild-Zeitung 2015 offenbar auf eine Hochstaplerin hereingefallen ist, die behauptet hat, die Geliebte des Germanwings-Piloten Andreas Lubitz zu sein (siehe Altpapierkorb von Dienstag).
Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.