Wir müssen noch einmal über „Auserwählt und ausgegrenzt – Der Hass auf Juden in Europa“ reden - weil alle anderes es auch weiterhin tun. Neben den beiden Grundbedürfnissen, beim Thema Antisemitismus ganz genau hinzuschauen bzw. sich keine Gelegenheit entgehen zu lassen, sich am öffentlich-rechtlichen System abzuarbeiten, liegt das liegt sicher auch daran, dass der Film nach der Veröffentlichung bei bild.de (AP am Dienstag) nun bei Youtube steht und damit für alle zugänglich ist.
Auch wenn die aufklärerische Attitüde des Fachmagazins für Blut und Brüste unerträglich ist (AP am Mittwoch) und es mich sehr verstört hat, eineinhalb Stunden am Stück auf dessen Website verbringen zu müssen: Ein Bild.de hat gemacht, was ein Bild.de eben machen muss. Arte und der WDR haben es versemmelt, selbst dieses Angebot zu schaffen.
Aber was gibt es denn nun für neue Meinungen? Contra zuerst, vertreten durch Gemma Pörzgen, die von 2004 bis 2006 für diverse Zeitungen, unter anderem die FR, Nahost-Korrespondentin war. Im Gespräch mit Peter Kapern beim Deutschlandfunk meinte sie gestern über den Film:
„Er hat einfach eine sehr klare propagandistische Linie und zeigt aus meiner Sicht eben diese ganze Thematik sehr einseitig, indem er sehr gezielt bestimmte Gesprächspartner auswählt, andere weglässt und eben eine ganz klare Zielrichtung hat. Wenn man mit Kollegen spricht, die vor Ort ein bisschen mitbekommen haben, wie diese Dreharbeiten gelaufen sind, bestätigt sich dieser Eindruck. Da kamen Leute, die hatten ganz Festes vor, und das haben sie eben umgesetzt.“
Beispiel gefällig?
„Es gibt zum Beispiel eine Szene, wo die Autoren nach Gaza einreisen, das ist ein Gebiet, in dem ich auch gewesen bin während meiner Tätigkeit im Nahostkonflikt. Ich bin noch nie so einfach da reingekommen, wie die das schildern. Sie zeigen dann eben Hotels, die es natürlich gibt, weil das ist eine sehr widersprüchliche Wirklichkeit dort. Man hat natürlich Luxushotels, es gibt Sushi-Bars, aber es gibt eben auch sehr viel Elend. Und dieses Elend zeigen die überhaupt nicht.“
Gehen wir mal davon aus, dass Pörzgens letzte Tour nach Gaza nicht, wie ihre Korrespondententätigkeit, zehn Jahre her ist: Was möchte sie uns mit diesem Hinweis sagen? Die leichte Einreise (wenn man sie denn so nennen möchte, denn drei Grenzkontrollen und der Verlust mehrerer Flaschen Schnaps sind jetzt auch nicht gerade Schengen) im Film war gestellt? Und was bitte heißt „natürlich“ vor Luxushotels und Sushi-Bars? Während das von ihr vermisste Elend in Gaza in den Medien allerorten präsent ist, sieht man diese eher nicht. Was jetzt wenig subtil meine Meinung zu dem Film einbringt: Ich hatte auch den Eindruck, hier wird einseitig berichtet. Da es die zweite Seite einer Medaille ist, von der man sonst immer nur die erste sieht, fand ich das aber gar nicht so gravierend.
Damit zu Thierry Chervel, der bei Perlentaucher schreibt:
„Manches an dem Film ist tendenziös: Es ist schon bizarr, so merkte Richard Herzinger in seiner Verteidigung des Films zurecht an, ausgerechnet einen israelischen Veteranen versichern zu lassen, dass man 1948 im Krieg gegen die Palästinenser human verfahren sei. (…) Aber mit all dem lässt sich die Ablehnung des Films durch Arte und WDR nicht rechtfertigen. Dass er eine Tendenz hat, ist ihm nicht vorzuwerfen - eine Dokumentation darf subjektiv sein. Es kommt doch auf die Qualität der Argumente an, die man zur Not auch zerpflücken kann.“
Chervel fügt noch hinzu, dass die Debatte über diesen ja von einem deutsch-französischen Sender zu verantwortenden Film in Frankreich noch nicht mal angekommen sei. „Dabei zeigt das Schweigen und jetzt zaghaft einsetzende Reden über den Mord an der französisch-jüdischen Rentnerin Sarah Halimi, dass die Frage nach der Verdrängung des Antisemitismus in Frankreich höchst akut ist.“ Ob das nun historisch zu erklären ist oder damit, dass Frankreich gerade auf ganz anderen Wegen en marche ist: Bei allen langsam einsetzenden Ermüdungserscheinungen ist die Tatsache, dass sich in Deutschland so intensiv damit beschäftigt wird, doch positiv zu sehen.
Diverse Politiker vor allem der Linken, Thees Uhlmann und die Amadeu Antonio Stiftung haben mittlerweile einen offenen Brief unterzeichnet (nachzulesen unter der schönen URL www.zeigtdiedoku.wordpress.com), in dem sie u.a. erklären, sie hielten „die Dokumentation für einen geeigneten Baustein, um den zunehmenden Antisemitismus, seine Normalisierung und Bagatellisierung zu thematisieren und geeignete Formen des Entgegenwirkens zu finden.“ Außerdem noch zu erwähnen ist ein Interview, das Ahmad Mansour, ursprünglich als Ko-Autor vorgesehen, Ayala Goldmann für die Jüdische Allgemeine gegeben hat:
„Und es ist nicht das erste Mal, dass es Schwierigkeiten gibt, wenn wir Islamismus und Antisemitismus im Fernsehen zeigen wollen. Dann kommen immer die Relativierer und Verharmloser und sagen, das sollte man nicht zeigen, weil es ein gefundenes Fressen für die Rechten sei, und weil es den gesellschaftlichen Frieden gefährde. Aber man muss über Probleme berichten, das ist Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. In dieser Frage hat er jetzt total versagt. Er hat einen Film geblockt, der schockiert und klar auf Probleme hinweist, und das darf nicht hingenommen werden. (…) Wenn solche Filme nicht gesendet werden, dann wird es für Journalisten und Produktionsfirmen in Zukunft sehr, sehr schwierig, ein solches Thema zu bearbeiten.“
Weil Letzteres keiner wollen kann, der Vorschlag zur Güte, einfach einen Themenabend anzusetzen. Die umstrittene Doku zeigen, eine historische Doku anhängen, Diskussionsrunde: Es soll ja Sender geben, die solche Angebote im Programm haben.
[+++] Weder in der Arte- noch in der WDR-Mediathek, sondern bei Youtube steht „Auserwählt und Ausgegrenzt“ jetzt - nicht weil einer der Sender oder bild.de, sondern ein Nutzer namens „mpromille“ es so will.
Bei @mediasres informierte gestern Michael Borgers über dessen Freund im Geiste namens „Revo Luzzer“, der die ARD-Doku „Leben außer Kontrolle“ über Gentechnologie und Globalisierung von 2004 hochgeladen hatte. Zwar beschwerten sich die Produzenten bei der Plattform über ihr verletztes Urheberrecht. Weil „Revo Luzzer“ jedoch meinte, als Gebührenzahler auch Rechte zu haben, ließ Youtube den Film online. Das Leipziger Landgericht erklärte das nun für falsch.
„Dass ein derart klarer Fall auf Betreiben von Google überhaupt gerichtsanhängig wurde, hat aus Sicht der AG DOK Methode: offenbar versucht Google mit allen Mitteln, die Grenzen des Urheberrechts zu seinen Gunsten auszuweiten – auch, wenn der Anlass noch so absurd erscheint“,
hieß es schon am Dienstag in einer Pressemeldung des Filmverbands. Nun hat für den Tagesspiegel Kurt Sagatz Dokumentarfilmer Stephan Lamby zum Thema interviewt, der deutlich macht, dass verletztes Urheberrecht zwar ärgerlich und ökonomisch problematisch ist, fehlende Öffentlichkeit aber auch:
„Ich ärgere mich, wenn ein Youtube-Nutzer ohne jedes Recht und ohne Absprache in einen Film Werbung davor- und dazwischenschaltet, um Geld mit unserer Arbeit zu verdienen. Die Budgets gerade bei Fernsehproduktionen stehen nach wie vor unter Druck, die Autoren bekommen häufig ohnehin nicht das, was sie bekommen sollten. Das ist es etwas Anderes, als wenn jemand etwas auf Youtube veröffentlicht, um es nach der TV-Ausstrahlung der Allgemeinheit zugänglich zu machen. Das kann in Einzelfällen eine lässliche Sünde sein, die kommerzielle Nutzung ohne Genehmigung ist es hingegen nicht.“
Weil Lamby weiß, dass Youtube, Facebook und Co. wichtige Plattformen sind, plädiert er dafür, dass Sender und Produzenten selbst dort veröffentlichen. Angesichts von Depublizierungs-Pflichten (so schön, die deutsche Sprache!) dürfte das zwar eine längere Debatte erfordern, aber wir sind ja gerade in Übung.
[+++] Last stop: Lokaljournalismus. Wie dieser in modern aussehen könnte, hat in fünf Thesen bei kress.de Benjamin Piel, Theodor-Wolff-Preisträger und Redaktionsleiter der Elbe-Jeetzel-Zeitung notiert. Für Sie zusammengefasst:
„Sie kuscheln nicht mit Landräten, sind keine Mitglieder von Parteien, sie duzen nicht den Bürgermeister und treiben sich nicht liebend gern in der sonnigen Nähe der Mächtigen herum (….). Journalisten sind keine Pfarrer. Sie stehen nicht auf der Kanzel und predigen leeren Kirchenbänken entgegen. (…) Es hilft, die Frage zu stellen, was ein Thema für die Lebenswirklichkeit der Menschen bedeutet. (…) Ganz ohne Termine geht es nicht, nein. Aber die großen Geschichten entstehen nicht auf Pressekonferenzen (…). Wer gehört werden will, der muss sich auch hörbar ausdrücken, muss herausstechen aus dem Ozean der Wörter.“
Ja! Ja! Ja! Aber: Das ist nicht moderner Lokaljournalismus, sondern die Definition von Journalismus aus dem Jahr 1280 (geschätzt). Aber schön, wenn sich die beiden auf diese Weise mal kennenlernen.
+++ Der Jan Böhmermann mal wieder:
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+++ „Die Staatsanwaltschaft München I geht dem Verdacht nach, ein Patentanwalt habe das IRT [Institut für Rundfunktechnik, aber das wissen AP-Leser natürlich] bei der Vermarktung von wertvollen MPEG-Rechten über Jahre hinweg um 200 Millionen Euro betrogen. MPEG spielt eine wichtige Rolle bei MP3-Playern. Der Patentanwalt, ehedem beim IRT beschäftigt, sitzt in München in Untersuchungshaft. Er wirft dem Institut vor, seine eigenen Erfinder hintergangen zu haben. Eine hässliche Sache. Doch ausgerechnet diese Anschuldigung könnte dem IRT und seinen Betreibern am Ende helfen, die 200 Millionen Euro nachträglich einzutreiben. Klingt absurd, ist aber denkbar in diesem ohnehin grotesken Wirtschaftskrimi.“ (Klaus Ott, SZ-Medienseite) +++
+++ Hubert Burda gibt weitere Teile seines Konzerns an seine Kinder ab, behält aber - vorerst - das Sagen. Das meldet bei Meedia Gregory Lipinski und zieht von dort eine Verbindung zum neuen Chef-Lobbyisten des Verlags, dem einst wegen Korruptionsvorwürfen vor Gericht gelandeten, aber freigesprochenen Christian-Wulff-Sprecher Olaf Glaeseker. Er „soll die Beziehungen des Unternehmens zu politischen Entscheidern vor allem in Brüssel und Berlin aufpolieren sowie die Verbands- und Lobbyarbeit verbessern. Möglicherweise könnte er aber seine Kontakte in die Medienszene nutzen, um mittelfristig den Einzug der nächsten Generation ins Management medial einzufädeln.“ +++
+++ Die neuen Presseratsrügen sind da und treffen unter anderem die Regenbogenpresse in Form der Neuen Post, weil sie, Überraschung, kurz gesagt, über den Familienfrieden bei Joachim Gauck (u.a.) gelogen hat (Pressemitteilung / Meedia). Weil diese Form des Journalismus „Journalismus“ am Wochenende die „Verschlossene Auster“ des Netzwerks Recherche bekam, beschäftigt sich auch Ulrike Simon in ihrer Spiegel-Daily-Kolumne mit ihm. +++
+++ „Walross, Rundfunk & Co. - Tierisches aus Fernsehen und Radio“, diese Sonderausstellung des Rundfunkmuseums in Fürth hat sich für @mediasres Oliver Tubenauer angesehen. +++
+++ Über das neue Zeitungsformat und alte Geldsorgen beim Guardian berichtet in der taz Ralf Sotscheck. +++
+++ Darf Donald Trump Nutzer bei Twitter blocken? Adrian Lobes Thema auf der FAZ-Medienseite (0,45 € bei Blendle). +++
+++ Mit Schillers Don Karlos, John Locke und John Stuart Mill rückt im FAZ-Wirtschaftsteil (S. 8) Daniel Zimmer, Direktor des Instituts für Handels- und Wirtschaftsrecht der Uni Bonn, dem Maasschen NetzDG zu Leibe (ebenfalls 0,45 € bei Blendle, aber viel mehr Text fürs Geld). +++
+++ Die 30-jährige Geschichte des Gifs gibt es bei Heise Online. +++
+++ Die großen Horst-Lichter-Festspiele gehen weiter, weil, wie gestern schändlicherweise unterschlagen wurde, „Bares für Rares“ nun zweimal um 20.15 Uhr im ZDF läuft (gestern war es so weit und am 13. Juli noch mal). „Man kann sich diesen Erfolg eigentlich nur damit erklären, dass die Zuschauer auch alle einen Speicher voller Gerümpel haben und langsam nicht mehr wissen, wohin damit“ (Klaus Raab, Zeit Online). Fürs Hamburger Abendblatt berichtet Andreas Böhme („,Nein’, sagt Lichter noch, bevor man ihn danach fragen kann, ,im Leben hätte ich nicht geglaubt, dass diese Sendung ein solcher Erfolg wird’“). Ich habe gestern kurz reingezappt und glaube angesichts der allgemeinen Begeisterung für das gleichwie langwierige wie langweilige Verscherbeln von Fischtellern jetzt nicht mehr an die Menschheit. +++
+++ Puh, so ein Glück: Manche dieser neuen Streaming-Serien sind auch nicht viel besser als „Sturm der Liebe“. Zu diesem Schluss über die Sky-Serie „Riviera“ („Es geht vor allem um die atemberaubenden Ausblicke vom Land aufs Meer, vom Meer aufs Land, vom Himmel auf beide und auf die Serpentinen, die einst schon Grace Kelly befuhr, bevor sie dann Fürstin von Monaco wurde“) kommt zumindest Hans Hoff bei DWDL. +++
+++ Ein Jugendlicher, der über Nacht nicht nach Hause kommt - weil er sich dringend taufen lassen musste. Und Mutti ist nicht zufrieden. „Was für ein Drehbuchcoup der bekannten Drehbuchautorin Beate Langmaack (Schweriner ,Polizeirufe’). Nicht die Religion muss ihre Existenz vor der Gesellschaft rechtfertigen, es ist umgekehrt“, meint Nikolaus von Festenberg im Tagesspiegel zu „Die Konfirmation“ (Das Erste, heute Abend um 20.15 Uhr). David Denk porträtiert in der SZ Hauptdarstellerin Ulrike C. Tscharre. +++
Neues Altpapier gibt es wieder am Montag. Schönes Wochenende!