Das Lagerfeuer wird noch schwächer
Ist „Auserwählt und ausgegrenzt“ „unausgewogen im besten Sinne“ oder schwächt der Film mit “seinen Unschärfen seine eigene Haltung“? Unterschiedliche Einschätzungen gibt es auch dazu, dass ab 2018 nicht mehr 18 von 125 Champions-League-Spielen im Free TV laufen, sondern gar keine. Außerdem steht die Frage im Raum, ob es dem Journalismus möglicherweise gut täte, wenn Redaktionen künftig weniger Journalistenschüler einstellten.

Die Bild-Zeitung - daran kann man aus aktuellem Anlass durchaus mal erinnern - gehört zu den wirkmächtigsten Gegnern des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, ihr Einfluss auf die mittlerweile weit verbreitete anti-öffentlich-rechtliche Stimmung im Lande kann man gar nicht überschätzen. Dass sich nun am Dienstag der Online-Ableger der Bild-Zeitung als Akteur der Aufklärung profilieren konnte (siehe Altpapier), indem man dort den von Arte und dem WDR bisher zurückgehaltenen Dokumentarfilm „Auserwählt und ausgegrenzt – Der Hass auf Juden in Europa“ streamte - das muss man den beiden Sendern besonders übel nehmen. 

Ich habe zu dem Treppenwitz, dass Julian Reichelts Leute nun plötzlich öffentlich-rechtlicher als die Öffentlich-Rechtlichen dastehen, etwas für die taz geschrieben - und in einem Interview, das der Deutschlandfunk mit mir geführt hat, geht es ebenfalls unter anderem darum. Leo Fischer hat sich auch kurz dazu geäußert.

Der WDR will im übrigen „Mitte, spätestens Ende nächster Woche entscheiden, ob und wann der Beitrag veröffentlicht wird“, schreibt der Tagesspiegel. Hm, da bietet es sich doch an, darauf zu verweisen, was Deidre Berger, Direktorin des American Jewish Committee Berlin, laut FAZ (derzeit nicht frei online) gesagt hat:

„Es sei (…) unverständlich, dass ein halbes Jahr nach Fertigstellung des Films die Sachverhalte erst geprüft werden müssten. ‚In diesem Zeitraum hätte der Film bereits mehrfach neu geschnitten und beurteilt werden können, sofern ein wirkliches Interesse daran bestanden hätte.‘“

Bei Facebook-Kontakten und Kontakten von Kontakten habe ich zahlreiche Besprechungen von „Auserwählt und ausgegrenzt“ gefunden, ein nachvollziehbarer Kritikpunkt findet sich bei Gideon Böss (der den Film grundsätzlich lobt):

„Die Dokumentation verliert sich zu sehr darin, die Korruption und Bigotterie der internationalen Hilfsorganisationen und der in Reichtum lebende Hamas-Elite aufzuzeigen.“

In den traditionellen Medien dagegen: nach meinem Eindruck eher wenig ausführliche Auseinandersetzungen mit dem Film, statt dessen agenturmateriallastige Texte zur bild.de-Aktion und den Reaktionen. Eine Ausnahme: Christian Bommarius (Berliner Zeitung). Die Dokumentation, schreibt er, sei 

unausgewogen im besten Sinne. Sie ist unausgewogen, weil sie entschieden gegen den Antisemitismus Partei ergreift. Sie ist unausgewogen im besten Sinne, weil sie linke und rechte, arabische und europäische Antisemiten zu Wort kommen lässt, die sich damit selbst als Antisemiten überführen. Die Dokumentation ist ein anspruchsvoller, wichtiger Beitrag zur Aufklärung über den grassierenden Antisemitismus. Umso verstörender ist die Zensur des Arte-Programmdirektors, der die Ausstrahlung verhindert, und umso verdienstvoller die Entscheidung der Bild-Zeitung, ihn der Öffentlichkeit nun doch noch zugänglich zu machen.“

Eine weitere Ausnahme: Arno Frank (Spiegel Online). Sein Urteil fällt bestenfalls ambivalent aus. Er hat „handwerkliche Mängel“ ausgemacht. Außerdem schreibt er:

„So tadellos manche Aspekte recherchiert sind, so leichtfertig werden andere Aspekte abgehandelt.“

Franks Fazit:

„Seine Unschärfen sind es, mit denen der Film im Eifer des Gefechts seine eigene Haltung schwächt.“ 

[+++] Dass ab 2018 zumindest drei Jahre lang gar keine Champions-League-Übertragungen mehr im frei empfangbaren Fernsehen laufen werden (siehe zuletzt Altpapierkorb von Montag, aber auch dieses knapp einen Monat alte Altpapier) - darüber herrscht jetzt endlich Gewissheit. 18 Spiele - wohlgemerkt: von 125 - darf das ZDF in der Saison 17/18 noch zeigen, dann ist es erst einmal vorbei.

„Jetzt, da das ZDF im Bieterverfahren unberücksichtigt blieb, dürften aus der Perspektive des Gebühren- wie Steuerzahlers Fragen gestellt werden. Warum soll der Bau von Stadien öffentlich subventioniert werden, wenn der Ball allein für den live zu sehen ist, der teure Tickets kauft? (…) Der Fußball wird global und digital, aber er kappt seinen Heimatmarkt. Reibungslos geht die Rechnung nicht auf“,

kommentiert Klaus Hoeltzenbein auf der SZ-Meinungsseite. Auch Jörg Heinrich (Spiegel Daily) äußert sich pessimistisch:

„Welche Kids beim Straßenfußball wollen noch Thomas Müller oder Julian Draxler sein – wenn Müller oder Draxler im normalen Fernsehen kaum mehr auftauchen? Wenn der Spitzensport nur noch für Betuchte im Pay-TV läuft, verliert er an Bedeutung, es fehlen die Vorbilder, es fehlt irgendwann der Nachwuchs. Der große Reibach, die große Gier, werden für Verbände und Klubs zum großen Risiko. Sie werden ihr womöglich noch nachtrauern, dieser guten alten Zeit, die da 2017 zu Ende ging.“

Zudem hat Heinrich ausgerechnet:

„Wer ab 2018 alle wichtigen Sportereignisse sehen will, muss mindestens 76 Euro pro Monat dafür bezahlen.“

Michael Horeni (FAZ) meint:

„Ein Verlust an Gemeinsamkeit und Gemeinschaftlichkeit ist es natürlich (…), wenn das Beste, was der Fußball zwischen Welt- und Europameisterschaften zu bieten hat, in kostenpflichtigen Nischen verschwindet.“

Das gern gewählte Bild vom Fernsehen als Lagerfeuer verwendet Horeni nicht, aber anknüpfend an seine Argumentation ließe sich durchaus sagen, dass dieses Lagerfeuer immer schwächer flackert.

 Christian Spiller kommentiert bei Zeit Online das Aus fürs ZDF vor dem Hintergrund, dass „in diesen Monaten ein seltsames Unbehagen zu spüren" sei "ob der Auswüchse des Geschäftes“, und zwar nicht nur unter „Fußballromantikern“. Spiller weiter:

„Es klingt platt, aber die Fans haben es in der Hand. Sie sind die Konsumenten, sie haben die Macht. Sie können ihre Ablehnung an der Stadionkasse artikulieren, und nun eben auch vor dem Fernseher. Indem sie ein Abo fürs Bezahlfernsehen abschließen oder eben nicht. Beim ZDF, das sich durch Gebühren finanziert, hatte der Zuschauer keinen Einfluss (…) Fans (…) entscheiden nun, ob sie das ultimative Hochglanzprodukt Champions League noch glänzender machen. Sie entscheiden, ob sie das Gehalt von Fußballern wie Cristiano Ronaldo mitfinanzieren wollen, der es dann wiederum mit allerlei Tricks versucht am Fiskus vorbeizuschmuggeln.“

Dies ist natürlich eine Anspielung auf die aktuellen, von journalistischen Recherchen mindestens beförderten, wenn nicht ausgelösten Ermittlungen gegen den mutmaßlichen Steuerhinterzieher Cristiano Ronaldo - siehe unter anderem Spiegel Online (in auch eigener Sache) und Deutschlandfunk. Das ZDF, schreibt Spiller des weiteren, könnte 

„mit den nun frei gewordenen Mitteln ein anderes, besseres Programm machen, womöglich gar guten Journalismus“.

[+++] Der aktuell instruktivste Mediendebattenbeitrag stammt von Guardian-Autor George Monbiot. 

The election’s biggest losers? Not the Tories but the media, who missed the story“,

lautet die Überschrift seines Artikels, in dem er, von diesem Versagen ausgehend, sich mit den grundsätzlichen Schwächen der Zeitungs-Redaktionen im Lande befasst. Wobei das, was er schreibt, nicht nur für Großbritannien gilt:

„What many people (…) now perceive is a solid bloc of affluent, middle-aged journalists instructing young people mired in rent and debt to abandon their hopes of a better world. Why has it come to this, even in the media that’s not owned by billionaires? It is partly because this industry, in which people without a degree could once work their way up from the floor, now tends to select its entrants from a small, highly educated pool (…) Wherever they come from, journalists, on average, end up better paid than most people. Whatever their professed beliefs, they tend to be drawn towards their class interests.“ 

Dazu passt, was Klaus Bittermann in der taz gerade in einer Rezension über das Buch „Hundert Zeilen Hass“, eine Sammlung von Maxim-Biller-Kolumnen, die vor allem zwischen 1987 bis 1996 in Tempo erschienen sind, geschrieben hat:

„Dieses Buch sollte man in der Henri-von-Nannen-Schule zur Pflichtlektüre machen. Vielleicht würde man dann wieder lieber zu einer der Zeitungen greifen, die die so vollkommen mainstreamgebürsteten Absolventen solcher Ausbildungsstätten durch ihre forsche und selbstbewusste Ahnungslosigkeit immer unlesbarer machen.“

Das größte Problem, so nun wiederum Monbiot, sei allerdings:

„We spend too much time in each other’s company, a tendency that is fatal in an industry that is meant to reflect the world.“

Mit anderen Worten: In einer sehr stabilen Filterblase leben jene, die gern darüber klagen, dass andere in Filterblasen leben. Nochmals Monbiot:

„If we are to reclaim some relevance in these times of flux and crisis, we urgently need to broaden the pool of contributors and perspectives. We should actively recruit people from poorer backgrounds, and diversify our expertise.“

Zu dem Thema hat sich Anne Fromm bereits im Dezember 2016 in der taz geäußert: 

„Der Journalismus verändert sich erst, wenn sich seine MacherInnen verändern (…) In den Redaktionen müssen mehr Leute mit Migrationshintergrund sitzen, schreiben und berichten, mehr Behinderte, mehr Menschen mit verzweigten Biografien.“

Ein im März erschienener Essay aus Kaput, dem „Magazin für Insolvenz und Pop“, sei in dem Zusammenhang auch noch empfohlen

[+++] Kommen wir zu den medienökonomischen Problemen der Branche. Warum Online-Kioske, bei denen man einzelne Artikel oder komplette Ausgaben kaufen kann, „bisher nicht funktionieren“ - darum geht es in einem Beitrag in der Stuttgarter Zeitung. Jan Georg Plevac schreibt dort:

„Immer wieder heißt es in Branchenkreisen, dass man den Nutzen und Komfort der Angebote zwar erkenne – sie aber kaum relevante Erlöse abwürfen (…) Doch die Probleme müssen nicht zwingend an den Nutzerzahlen liegen – zumindest aus Sicht der Verlage ist das Geschäftsmodell von zweifelhaftem Wert. Vom Preis, den der Endkunde zahlt, behalten die Plattformen um die zehn Prozent als Vermittlungsprovision; liest der Kunde den Text auf seinem Mobilgerät, wird obendrauf ein Anteil für Apple oder Google fällig. Die Verlage erstellen die Inhalte also weiterhin selbst und tragen den Großteil der Kosten – erhalten aber nur etwas mehr als die Hälfte dessen, was sie über die eigene Website oder Aboabteilung erlösen können. Wenn sich daran nichts ändert, haben langfristig auch die Leser nichts von den digitalen Kiosken oder Flatrates. Redaktionen kosten schließlich auch im digitalen Zeitalter Geld, und journalistische Inhalte werden in der gewohnten Qualität nur erstellt, wenn sie Erlöse abwerfen.“ 

Die Überschrift „Warum ‚Spotify für Nachrichten‘ bisher nicht funktioniert“ ist allerdings irreführend. Ein „Spotify für Nachrichten“ wird niemals funktionieren, weil man mit „Nachrichten“ online niemals mehr Geld wird verdienen können. Dass ein Spotify für Essays, andere Longreads und vergleichsweise Zeitloses irgendwann „funktionieren“ wird, zumindest auf einem niedrigen Level - das ist zumindest nicht ausgeschlossen. 

Apropos Medienökonomie: Die SZ geht heute darauf ein, dass Medienhäuser über die Facebook-Funktion Instant Articles bald möglicherweise digitale Abos verkaufen können. Das dürfte die massiven Probleme der Branche aber auch nur geringfügig lindern.


Altpapierkorb

+++ Martin Erdmann, der deutsche Botschafter in der Türkei, hat am Dienstag erstmals Deniz Yücel im Gefängnis besuchen können. Darüber berichtet u.a. der Tagesspiegel.

+++ Die nächste Free-Deniz-Gala findet am morgigen Donnerstag in Hamburg statt. Mit dabei: Unter anderem Ingo Zamperoni (als Moderator) und Slime - das Spektrum der sich Solidarisierenden bleibt also heterogen. Das dürfte im übrigen die erste Erwähnung von Slime in der Geschichte des Altpapiers gewesen sein, die indirekten Folgen von Erdogans Politik sind wahrlich mannigfaltig.

+++ Was gibt es zum Fall des gewesenen NDR/SZ-Börsenblatt-Sachbuch-Jurors Johannes Saltzwedel (siehe Altpapier) noch nachzutragen? „Aufgefallen“, schreibt Christian Schröder im Tagesspiegel, sei der Spiegel-Redakteur „schon im März 2016, als er im Rahmen der Bestenliste eine ‚besondere Empfehlung‘ für den Band ‚Massendemokratie‘ von Peter Furth aussprach, der vor einem Endkampf zwischen ‚Aufstandsmassen und Unterhaltungsmassen‘ warnt. Publiziert hat das Werk ein anderer rechtsradikaler Kleinverlag, der Landtverlag, ein Imprint des Manuskriptum Verlags, der auch Akif Pirinçcis Beschimpfungsorgie ‚Deutschland von Sinnen‘ herausbrachte“.

+++ „Die unheimliche Sorge der Rechten um ‚unsere Frauen‘“ ist Thema einer Analyse bei Übermedien (€). Laura Lucas erwähnt diverse Beispiele dafür, dass „tagtäglich in Sozialen Netzwerken das Narrativ vom notgeilen Ausländer perpetuiert wird“. Was ihr auch aufgefallen ist: „In denselben Facebook-Gruppen, in denen mit Fotos kulleräugiger, blonder Frauen vor den Gefahren durch ‚Merkels Bereicherer‘ gewarnt wird, kursieren auch Bilder von linken Aktivistinnen. Tragen diese T-Shirts mit Aufschriften wie ‚Kein Sex für Nazis‘ und besitzen dann auch noch die Frechheit, nicht den vermeintlich gängigen Schönheitsidealen zu entsprechen, werden sie mit Kommentaren wie ‚Keine Sorge, Schätzchen, dich fasst eh keiner an‘ oder ‚Die können wir den Flüchtlingen auch schenken‘ verunglimpft.“

+++ Ebenfalls bei Übermedien (€): Oliver Gehrs kritisiert den „laxen“ bzw. tendenziell sinnverfälschenden „Umgang“ auch vieler Qualitätsmedien mit dem Merkelschen „Wir schaffen das“: „Diese drei Worte wurden laut Archiv in deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften seitdem etwa 5.000 mal zitiert (…) Der gesamte Kontext im Jahr 2016 ein einziges Mal, in der Frankfurter Rundschau.“ 

+++ Noch ein Nachtrag zu Oliver Stones „The Putin Interviews“ (siehe zuletzt Altpapier von Dienstag). Stone gerate hier „zur Karikatur seiner selbst“, meint Nina Rehfeld (FAZ-Medienseite, derzeit nicht frei online).

+++ Einen „der größten Medienskandale der Bundesrepublik“ rekapituliert die Sächsische Zeitung. Es geht um die Berichterstattung über den Tod des sechsjährigen Joseph in einem Schwimmbad in Sebnitz vor 20 Jahren.

+++ Am Donnerstag läuft in der ARD „Der Meisterreporter - Sigmar Seelenbrecht wird 81“, Olli Dittrichs neuestes mediensatirisches Werk. Der in Sachen Dittrich stets gern in die Tasten hauende SZ-Redakteur Holger Gertz empfiehlt die Sendung auf der Medienseite seiner Zeitung sehr.

+++ Ebenfalls auf der SZ-Medienseite empfohlen: das neue Vierteljahresheft taz.Futurzwei. Es handelt sich hierbei um eine Weiterentwicklung von zeo zwei, gemeinsam konzipiert von der taz und Harald Welzers Stiftung Futurzwei (siehe dazu taz neulich in eigener Sache). „Ein anspruchsvolles Heft, das klare Kante zeigt, keine schnellen Lösungen heuchelt“, schreibt Bernd Graff heute über das Magazin, das laut Editorial u.a. “neuen politischen Journalismus“ bieten will. Ich hatte noch keine Gelegenheit, das erste Heft ausführlich zu lesen. Der Vorspann dieses Harald-Welzer-Textes klingt aber zumindest anregend: „Globale Gerechtigkeit ist der Kern einer zeitgemäßen Bewegung. Es gibt auch schon eine, die 65 Millionen Menschen umfasst: die Flüchtlingsbewegung.“

Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.