Heute nacht um 0.02 Uhr veröffentlichte Julian Reichelt, der Chefredaktionen-Vorsitzende der Bild-Zeitungs-Medien bzw. dynamische Kraftmeier von bild.de, die Zeilen:
"Deutschland ist ganz sicher nicht das Land, in dem antisemitische Vorurteile beschönigt, verschwiegen, übertüncht werden sollten.
Unsere historische Verantwortung verpflichtet uns, den Unsäglichkeiten entschlossen entgegenzutreten, die diese Dokumentation belegt. Dazu müssen alle wissen, womit wir es zu tun haben. Deswegen zeigt BILD für 24 Stunden online, redaktionell eingeordnet und eingebettet, was im TV nicht gezeigt werden sollte."
Womit der zusehends verbreitete Wunsch, die seit über einem Monat und am meisten gestern diskutierte Doku "Auserwählt und ausgegrenzt – der Hass auf Juden in Europa", die Arte und der WDR nicht zeigen wollen, sehen zu können, plötzlich erfüllt wird: Voraussichtlich bis heute um Mitternacht lässt sich der 90-Minüter bei bild.de streamen.
Einiges von dem, was der Film thematisiert, reißt bild.de im selben Beitrag dann auch in Text- und Foto-Form an. Die "Einordnung" besteht z.B. in Hinweisen, dass manches "in der Doku missverständlich formuliert" sei.
Als Rechthinweis steht unter den illustrierenden Screenshots "Foto: ARTE". Das ist ein wenig grotesk, denn "der Leak der Doku", diese "mutige Aktion" (meedia.de jeweils) scheint rechtlich nicht geklärt zu sein:
"Es ist unklar, ob die Springer-Plattform die Doku ohne Rechtsfolgen ausstrahlen kann. Die Erstausstrahlungsrechte für die Dokumentation liegen eigentlich beim WDR und Arte, die an einer Veröffentlichung (zum jetzigen Zeitpunkt) bekanntlich kein Interesse haben",
schreibt Marvin Schade.
[+++] Damit zur anderen (Auch-)Antisemitismus-Debatte, die Anfang der Woche aus rumorenden Feuilletons in die benachbarten Ressorts übergriff: "Der Fall 'Finis Germania'", wie ihn Spiegel Online "in eigener Sache" nennt.
Ausgegangen war dieser Fall wohl von der TAZ, in der Andreas Speit beklagte, dass "das Sag- und Wählbare ... sich in der Bundesrepublik nach weit rechts verschoben" habe und das mit "Entgrenzungen im Feuilleton" zusammenhinge. Am ausführlichsten drauf eingegangen sind FAZ-Medien (Jan Grossarth in der FAS, Kommentar von Hannes Hintermeier gestern online und heute in der FAZ). Betroffen waren oder sind die Süddeutsche Zeitung und der NDR mit seinem Kulturradio sowie das Börsenblatt des Deutschen Buchhandels, die seit langem gemeinsam die "Bestenliste" bzw. ein Ranking der "Sachbücher des Monats" veröffentlichen.
Diese Liste ist eigentlich eine gute Sache, schließlich hängen in Buchläden meistens die Sachbuch-Verkaufscharts des Spiegel aus, die immer Eckart von Hirschhausen anführt, außer wenn Horst Lichter oder Jamie Oliver was Neues am Start haben. Die aktuelle, die Juli-Ausgabe der "Bestenliste" führen dagegen die Altpapier-bekannten Ulrike Guérot und Georg Seeßlen an.
Allerdings steht auf derselben Liste auf Platz 9 ein "Buch eines rechtsradikalen Verlags" (Lothar Müller, sueddeutsche.de) bzw. "rechtsradikales Buch" (Printüberschrift zum gleichen Text), ein Buch mit "rechtslastigen Ideen und Verschwörungstheorien" (Ulrich Kühn im Namen von NDR Kultur), ein "verschwörungstheoretisches, rechtsextremes Buch" (Grossarth, FAS), ein "rechtsradikaler Hundertseiter" (Hintermeier, FAZ), "rechtes Gedankengut" (Marc Reichwein, welt.de, mit kleiner Chronologie), ein "rechtslastiges Buch" (SPON in eigener Sache).
Nun ist die Aufregung groß, scheint die Sachbuch-Bestenliste an sich in Gefahr und und steht die Methode, nach der die Juroren bisher jurierten, in der Kritik. Und tatsächlich macht der zum Götz-Kubitschek-Imperium gehörende Antaios-Verlag kein Geheimnis daraus, um was es im Buch mit dem in einer nichtgermanischen Sprache grammatikalisch anfechtbaren Titel "Finis Germania" [Achtung, Link führt wirklich zum Antaios-Verlag] geht.
Ausgelöst hatte die Aufregung ein einzelner Juror – Spiegel-Redakteur Johannes Saltzwedel, der Spiegel Daily-Lesern etwa kürzlich einen "Klassik-Tipp" mit der, äh, frechen Überschrift "Sonate, so nah" gegeben hat.
Was Saltzwedel allen, die nun bei ihm anfragten, mailte und auch in der SPON-Erklärung steht:
"Mit der Empfehlung des Buches 'Finis Germania' von Rolf Peter Sieferle habe ich bewusst ein sehr provokantes Buch der Geschichts- und Gegenwartsdeutung zur Diskussion bringen wollen. Sieferles Aufzeichnungen sind die eines final Erbitterten, gewollt riskant formuliert in aphoristischer Zuspitzung. Man möchte über jeden Satz mit dem Autor diskutieren, so dicht und wütend schreibt er ..."
So etwas, Lebenswege von Menschen wie Sieferle, der sich 2016 das Leben nahm und der davor "wie viele Papier-Revolutionäre seiner Generation ... einen langen Marsch von weit links nach extrem rechts hinter sich" hatte (Hintermeier, FAZ), könnten Feuilletonredakteure in ihren Zeitungen oder online ja auch einfach mal so aufschreiben, ganz ohne damit das Buch zu loben. Auch kräftige Verrisse (ders.: "ekelhafte wie stellenweise unverständliche Endzeitdiagnostik, die nicht weiter erwähnenswert wäre ...") können Leser ja mit Erkenntnisgewinn lesen.
Oder ist auch beim Spiegel, der eine Menge gedruckter und digitaler Medien herausgibt, kein Platz mehr dafür, weil das bedruckte Papier und die kostenpflichtige App (konsum-)freundlichere Inhalte erfordern, und der Spiegel-Redakteur musste den obskuren Umweg über ungewöhnliches Abstimm-Verhalten in der Bestenliste-Jury nehmen, um das Buch "zur Diskussion bringen" zu können? Vielleicht ist zumindest ein gutes Zeichen, dass ungefähr erstmals seit Frank Schirrmachers Tod wieder so etwas wie eine Feuilleton-Debatte zu entstehen scheint.
Allerdings äußerte Satzwedel gestern spätabends öffentlich Selbstkritik:
"Ich wollte durch meinen Vorschlag auf keinen Fall das Renommee der Sachbuch-Bestenliste beschädigen und bedaure sehr die Verwerfungen, die sich daraus ergeben haben. Deshalb habe ich mich entschieden, aus der Jury auszutreten",
und sein Chef begrüßte das protokollgemäß:
"'Ich habe nach der Lektüre der wesentlichen Kapitel kein Verständnis dafür, dass der Kollege Saltzwedel dieses Buch empfohlen hat', so SPIEGEL-Chefredakteur Klaus Brinkbäumer, 'und wegen des entstandenen Schadens begrüße ich seinen Rücktritt aus der Jury.'"
[+++] Überhaupt begrüßt Brinkbäumer ja einiges – tagesaktuell auch noch ein frisch aus den Spiegel-Labors bzw. eher wohl der -Anzeigenabteilung für die Öffentlichkeit freigegebenes "neues Lifestyle-Supplement", das "sich journalistisch anspruchsvoll und visuell hochwertig den Themen Mode, Design und Genuss" widmen soll – also Sachbüchern wohl höchstens, wenn Jamie Oliver drauf zu sehen ist.
Eigentlich wäre dieses Heft, das erst ab September nur viermal jährlich erscheinen soll, auch nicht weiter erwähnenswert, wenn nicht Klaus Brinkbäumer in seiner Begrüßung die gerade vom Tagesspiegel (AP gestern) gestellte Frage, wann denn noch mal Spiegel-Tag ist, so elegant beiläufig würde:
"Das 'S-MAGAZIN' wird die schönen Seiten des Lebens suchen. Es wird den am Wochenende erscheinenden SPIEGEL bereichern."
+++ Apropos: Gibt es eine Entscheidung zur Zukunft der nicht unambitionierten Fernsehprogrammzeitschrift, die der Spiegel-Verlag gerade getestet hat (Altpapier)? Zwar riefen erste Unken (meedia.de neulich), doch sei die Frage "noch offen", bekam zumindest horizont.net gesagt. +++ Übrigens steht die Titelstory der zweiten Spiegel Fernsehen-Ausgabe, ein Interview mit dem Schauspieler Wotan Wilke Möhring, inzwischen bei SPON frei online – unter der Überschrift "Der Kampf gegen das Altwerden ist wunderschön". Gedruckt stand "'Kochen, ficken, nähen'" drüber. Könnte das nicht andersrum besser funktioniert haben? +++
+++ Und noch ein Eklat und Jury-Problem wg. etwas Rechtem: beim Alternativen Medienpreis, der gerade in Nürnberg verliehen wurden, aber nicht an alle, die ihn hätten bekommen sollen. Wiederum Andreas Speit berichtet in der TAZ. +++
+++ Bei aller Arte-Kritik: Viele gute Dokumentationen sind dort natürlich zu sehen. Zum Biepsiel heute "Drei Tage im September - Angela Merkels einsame Entscheidung" vom häufig im Altpapier erwähnten Medienkritiker Torsten Körner. Und das sogar um 20.15 Uhr! (Tagesspiegel, Süddeutsche). +++
+++ Nach dem vor lauter proamerikanischer Anti-Oliver-Stone-Verve etwas entglittenen Verriss der SZ (AP gestern) gibt's nun auch eine reflektiertere Kritik von Stones "The Putin Interviews" beim Bezahlsender Sky: "Nähe sucht Nähe, und in dieser Nähe wird die Kritik auf der Tonspur immer leiser. Also abtun als irregeleitete Freundlichkeit eines US-Amerikaners an einen eiskalt kalkulierenden Autokraten? Das wäre Minimum zu kurz gesprungen. 'The Putin-Interviews' sind eine Einladung, eigene Gewissheiten erodieren oder wenigstens überprüfen zu lassen. Das müssen sie nicht, weil Stone selber an Erosion nicht interessiert ist. Also wie jetzt? Putin viel gut, Stone viel naiv, Putin viel böse, Stone noch immer viel naiv. Die Wahrheit liegt zwischen den Polen, in der Mitte liegt sie nicht", schreiben Markus Ehrenberg und Joachim Huber im Tagesspiegel. +++
+++ Alle fliegen auf Emmanuel Macron? Nein. "Die Arroganz der neuen Macht gegenüber den Medien nimmt seltsame Züge an", schreibt mit vielen Beispielen für die Medienpolitik des neuen Präsidenten Jürg Altwegg auf der FAZ-Medienseite (Blendle-Link). So bezichtige Macrons Ministerin Muriel Pénicaud etwa die Zeitung Libération wegen etwas, das hierzulande "Leak" hieße, der "Hehlerei". +++
+++ "Deutsche Beispiele sind die Hamburger Morgenpost oder das Handelsblatt"? Ich habe lange Mopo mehr gesehen, aber früher war ihr Format kleiner als das Handelsblatt heute ist. Instruktiver als der frei online erhältlich SZ-Artikel über die vermutlich bevorstehende Format-Verkleinerung des gedruckten Guardian ist wiederum der der FAZ (Blendle). Dort führt Gina Thomas die Aktion auf Sparzwänge der renommierten, aber trotz großen globalen Onlineerfolgs defizitären Zeitung zurück. +++
+++ Bei Glasfasernetzen ist Deutschland besser als beim Schlager-Grand Prix/ ESC und "rangiert ... auf Platz 30 von 35 Plätzen." Aber es "braucht einen Digitalminister", kommentiert Helmut Martin-Jung (Süddeutsche) anlässlich des in Ludwigshafen laufenden "Digitalgipfels" (DPA/ FR): "Am vernünftigsten wäre es, wenn diese Stelle im Kanzleramt angesiedelt wäre. Dort laufen ohnehin die Fäden aus verschiedenen Ministerien zusammen. Und genau darum müsste es gehen: Den Wirrwarr, das Kompetenzgerangel zu beenden, das bisher das Fortkommen bei der Digitalisierung behindert hat." +++
+++ Was es auch nicht oft gibt: dass sich jemand Amazon widersetzt, statt für jedes bisschen vermeintlicher Kooperation dankbar zu sein. Aber foodwatch.org tut's. Siehe auch meedia.de. +++
+++ Beim NDR wurde warngestreikt von "weit über 200 Beschäftigten" (mmm.verdi.de) bzw. "rund 100 Mitarbeitern" (meedia.de), weshalb mindestens zwei 90-sekündige "NDR aktuell kompakt"-Sendungen ausgefallen seien. +++
+++ Grund zur Sorge wie einst die Google Glasses, die sich zunächst nicht durchsetzten, bietet "die Videobrille Spectacles aus dem Hause der Snapchat-Mutter Snap". Denn sie können "ebenfalls Videos aufnehmen – und so der 'heimlichen Überwachung' dienen. Und die Aufnahmen landen ebenfalls auf den Servern des Unternehmens". Allerdings klingen die redaktionellen Berichte darüber nach "Es wird höchste Zeit!" und "Das Warten hat ein Ende!", wundert sich Dennis Horn im WDR-Blog Digitalistan. Dass es mit Marianne Bullwinkel die ehemalige "Deutschlandchefin" von Facebook ist, die "erst durch ihren Abschied ins Licht der Medienmedien-Öffentlichkeit getreten" war (Altpapier), die nun die deutsche Snapchat-Dependance aufbaut, lässt auch nichts Gutes ahnen. +++
+++ Und um "ein Denkmal für eine Serie, die längst Fernseh-Legende ist", Edgar Reitz' "Heimat 3" (ARD), das längst für sich alleine funktioniert, das Günderodehaus in oder über Oberwesel, geht's im aktuellen epd medien-Tagebuch von Diemut Roether. +++
Neues Altpapier gibt's wieder am Mittwoch.