Countdown zur Entschleunigung
Endlich erblickt eine der gespanntest erwarteten Ideen des deutschen Onlinejournalismus das Licht der Displays. Heute zum Nachmittags-Tee geht's los. Haben die Leute vom Spiegel das Internet neu erfunden? Außerdem: ein kleiner Überblick über die meistkritisierten Gesetze zur digitalen Sphäre. Schauen "Machthaber in aller Welt" auf Heiko Maas' Netz-DG? Sowie: der eher unbekannte "Garant für die Sicherung der Meinungsvielfalt in Deutschland"; verschwindet die Champions League aus dem frei empfangbaren Fernsehen? "Verheizt" die ARD singende junge Leute?

Schritt für Schritt rückt die Zukunft näher. Aktuell ruft das ein neuer Countdown auf spiegeldaily.de sowie daily.spiegel.de ins Gedächtnis. Raffiniert schlicht schürt er Spannung auf eines der am gespanntesten erwarteten Projekte des deutschen Onlinejournalismus (in dem allerdings nicht seehr viel sehr gespannt erwartet wird): Spiegel Daily halt.

Am allergespanntesten sind die Leute vom Spiegel-Verlag selbst, wie gerade eine Fülle von teils reichhaltig illustrierten (11-Foto-Fotostrecke!), teils luzide nutzwertig ("Das heißt, Sie müssen sich das Geschehen nicht mehr mühsam zusammensuchen, so sparen Sie Zeit und gewinnen Lesespaß. Der Entertainer Harald Schmidt ist einer der Kolumnisten ...", Dirk Kurbjuweit im "Lage"-"Morning Briefing"), teils dann doch verdächtig redundant ("... mit News-Explainern und neuen journalistischen Formaten viele Angebote, die sich unterscheiden von dem, was Spiegel und Spiegel Online bisher offerieren, es ist eine echte publizistische Bereicherung ...", Gemeinschaftstext der Chefs Klaus Brinkbäumer und Barbara Hans) formulierten Ankündigungen andeutet.

Hintergrund: Anders als die meisten anderen Dinge in diesem Internet soll das neue digitale Dings etwas kosten, wie SPON im vierten, wiederum identisch illustrierten Text aufschlüsselt:

"Zum Start von SPIEGEL DAILY können die Leser zwischen zwei Bezahl-Modellen wählen: einem Monatspass und einem Wochenpass. Der Monatspass startet mit einem kostenlosen Probemonat. Anschließend werden 6,99 Euro pro Monat berechnet. Der Wochenpass kostet 2,49 Euro und endet automatisch nach einer Woche. Abonnenten des digitalen SPIEGEL erhalten DAILY kostenlos, Print-Abonnenten bekommen für 0,50 Euro über ein Digital-Upgrade Zugriff auf die digitale Abendzeitung".

"Digitale Abendzeitung" zählt neben "smarte Abendzeitung", "Entschleunigung, Einordnung und Orientierung" (jeweils ebd.) sowie "digitale Tageszeitung" und "Einmal am Tag die Welt anhalten" (aus dem Brinkbäumer-/ Hans-Text) zu den allerwichtigsten, äh, Claims, mit denen die Marketingfüchse von der Ericusspitze arbeiten.

Wobei: Angst, dass ausgerechnet dann, wenn einmal am Tag die Welt angehalten wird, keine "Longreads, Animationen, Filme und Dokumentation aus dem SPIEGEL und von SPIEGEL TV" zur Verfügung stünden, um sich die Zeit zu vertreiben (oder sie zu nutzen), muss auch niemand haben. Und Rezepte gibt's ebenfalls doch nicht mehr.

Womöglich hat Spiegel Online also das ganze Internet neu erfunden und endlich auch auf sog. Smartphones verfügbar gemacht. Womöglich liegen die Nerven blank, und die Bonus-Anpreisungen weiter hinten machen den Effekt zunichte, den die Premium-Anpreisungen weiter vorn vielleicht haben könnten.

Jedenfalls wabert dieses Spiegel Daily im Projektstatus "eigentlich schon sehr lange", nämlich "seit Herbst 2013" im Spiegel-Verlag herum. Daran erinnern heute die SZ-Medienseite. Als Geschäftsidee haben Katharina Riehl und Claudia Tieschky die Uhrzeit identifiziert, auf die der Countdown zuläuft:

"... 17 Uhr, sozusagen zur Tea-Time. Das ist ein paar Takte früher als die Digitalausgaben der Tageszeitungen, die ihre Leser inzwischen ja ebenfalls am Abend mit dem Angebot bedienen, das am nächsten Tag in der gedruckten Zeitung steht. Insofern sind die Digitalausgaben der Zeitungen eigentlich heute das, was früher Abendzeitung hieß. ... Dazu passt auch, dass die redaktionelle Leitung der 17-Uhr-Neuheit bei Oliver Trenkamp und Timo Lokoschat liegt, früher der stellvertretende Chefredakteur der Münchner Abendzeitung - nur dass es die nach Insolvenz und Sanierung gar nicht mehr abends zu kaufen gibt, aber das ist ein anderes Thema. Lokoschat war jedenfalls schon bei dem Blatt, als das noch sozusagen druckwarm abends in die Verkaufskästen kam. Der Reiz des frühen Zugriffs ist immer groß, und nach diesem Prinzip soll sich wohl auch Spiegel Daily verkaufen."

Früher sollen den Zeitungsjungen solche Abendzeitungen ja geradezu aus den Händen gerissen worden sein. In manchen Schwarzweißfilmen ist so etwas jedenfalls zu sehen ...

Falls Sie unschlüssig sind und selbst die Verpflichtung des Ex-Focus-Kolumnisten Harald Schmidt Sie noch nicht überzeugt hat – für Medienmedien-Freunde hat dieses Daily ein attraktiveres Angebot: Ulrike Simon wird dort "einmal pro Woche über die neuesten Entwicklungen  aus der Verlagswelt berichten – angereichert mit Branchen-Knatsch" (meedia.de).

Das könnte spannend werden, schon weil Simon  vor gar nicht langer Zeit (vgl. AP aus dem Dezember) über "Knatsch" im Spiegel-Verlag nicht nur berichtet, sondern ihn angefeuert hat. Womöglich hat sie damals dazu beigetragen, dass der damalige SPON-Chefredakteur nicht mehr im Amt ist; womöglich hatte sie schon 2014 (vgl. kress.de) dazu beigetragen, dass der damalige Spiegel-Chefredakteur Wolfgang Büchner erst recht nicht mehr im Amt ist. Unter diesem, den Riehl/ Tieschky heute in der SZ "unglückselig" nennen, war die Daily-Idee einst entstanden. (Und dass Büchner derzeit das Amt eines "Chief Content Officer" bei jener Madsack-Mediengruppe bekleidet, für die Simon nun nicht mehr schreibt, wäre ein weiterer Beleg dafür, in welch Kreisen sich die Dinge drehen ...).

[+++] Bei aller Entschleunigung: Beschleunigt wurden und werden seit gut einem Jahr eine Menge von Gesetzesvorhaben zur digitalen Sphäre. Längst beschlossen ist die "Speicherpflicht und Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten", die unter dem nur leicht verkürzten Namen Vorratsdatenspeicherung etwas bekannter ist.

Ab 1. Juli tritt sie in Kraft. Nachdem gerade ein viel beachteter Cyberangriff (AP gestern) gezeigt hat, dass viele Daten zu speichern, nicht ausschließlich eine Freude ist, sondern aufwändig und teuer, lenkt Constanze Kurz bei netzpolitik.org Aufmerksamkeit auf die
"zwangsweise gesammelten Datenhaufen", die in Kürze enstehen.

Ziemlich viel sei noch unklar, darunter zum Beispiel, ob das Gesetz überhaupt zur Rechtsprechung des EuGH passen, also lange in Kraft bleiben wird. Bemerkenswert klar ist immerhin die Regierungs-Strategie, was künftige Cyberattacken auf die neuen "Datenberge" betrifft:

"Wenn es zu IT-Sicherheitsschwankungen bei den Vorratsdaten kommen sollte, werden wir es aber wohl nicht erfahren. Denn die Bundesregierung hat eine ausgesprochen kurze Antwort auf die Frage, ob sie eine  Unterrichtung des Parlaments über IT-Sicherheitsvorkommnisse bei dem zwangsweise gesammelten Datenhaufen plane: Nein."

Das passt zu Innenminister de Maizières  Bevölkerung-nicht-verunsichern-Strategie. Was zur VDS verpflichtete Unternehmen sagen, und welche Maßnahmen die Regierung getroffen hat, damit die neue Speicherpflicht wirtschaftlich auf diese keine "erdrosselnde Wirkung" hat, steht in einem weiteren netzpolitik.org-Artikel.

[+++] Auch nicht viele Freunde hat das Netzwerkdurchsetzungsgesetz, das vermutlich dennoch vor der Wahl ebenfalls beschlossen werden wird.

"Verbände, die sonst selten zusammenstehen, haben vor diesem Hintergrund das Gesetzesvorhaben scharf kritisiert, so Reporter ohne Grenzen, der Bitkom und Verlegerverbände. Da sich hierzulande aber offenbar bislang fast alle Entscheidungsträger einig sind, das Gesetz vor der Wahl zu verabschieden, kann wohl nur die EU-Kommission es noch aufhalten. Es wäre das erste Mal, dass die Europäische Union Deutschland an die Bedeutung der Kommunikationsfreiheiten erinnern muss. Machthaber in aller Welt schauen bereits interessiert auf das Modell aus Deutschland",

schreibt Wolfgang Schulz, Direktor des Hamburger Hans-Bredow-Instituts, in der aktuellen epd medien-Ausgabe (nicht frei online). Schulz' Hoffnung auf die EU-Kommission kommt nicht von ungefähr. Eine englischsprachige Stellungnahme zum Gesetzesentwurf hat er selbst für sie verfasst und auf seiner Instituts-Webseite auch veröffentlicht.

Die Kommission bekam das Gesetz früher als üblich zum Prüfen zugeschickt, noch während die Bundesregierung deutsche Experten um Einschätzungen gebeten hatte (was die erwähnte Constanze Kurz gestern im FAZ-Feuilleton unter der Überschrift "Nicht einmal mehr die Simulation von Partizipation" kritisiert hatte; diesen Text gibt's inzwischen frei online).

Falls Sie sich fragen, ob denn niemand das NetzDG gut findet: Doch, ein kürzlich erschienenes Lob hat Heiko Hilker (dimbb.de) gefunden: Maram Stern, stellvertretender Geschäftsführer des Jüdischen Weltkongresses, hatte es in der Süddeutschen veröffentlicht.

[+++] Wer gerne und mit Recht neue bzw. aktualisierte Gesetze hätte: der "Garant für die Sicherung der Meinungsvielfalt in Deutschland", zumindest nach eigenen Angaben. Die wenig bekannte, seit dem von ihr initiierten Verbot einer Springer-ProSiebenSat.1-Fusion kaum noch in Erscheinung getretene Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich aka KEK beging gerade ihr 20jähriges Bestehen. Bei diesem Anlass warnte der neue Vorsitzende, Georgios Gounalakis,

"vor denkbaren Umwälzungen im Medienbereich. Sie könnten den für einen demokratischen Meinungsbildungsprozess unabdingbaren Meinungspluralismus beeinträchtigen, wenn nicht gefährden",

sowie davor, "dass das deutsche Medienrecht solche Übernahmen und Zusammenschlüsse gegenwärtig nicht adäquat erfassen kann."

Was z.B. er meinte:

"Derzeit befänden sich Medien- und Telekommunikationsunternehmen sowie Finanzinvestoren auf Shoppingtour: In den USA übernimmt AT&T für 85 Milliarden U.S.-Dollar Time Warner. 21st Century Fox erwirbt die restlichen 61 % der Anteile an Sky für 14 Milliarden U.S.-Dollar. Und in Deutschland wird über eine Megafusion zwischen Vodafone und Liberty spekuliert. Auch große Player im deutschen Fernsehgeschäft wie Pro7Sat.1 und RTL könnten Ziel derartiger Übernahmen werden."

Ums Thema Vodafone/ Liberty war es kürzlich hier schon mal gegangen. Falls Ihnen das zu abstrakt ist ...

[+++] ... Butter bei die Fische gibt das Fußballmedium Kicker. Werden sich alle, die wenn es passt, gerne kritisieren, dass Reporterscharen das ZDF Champions-League-Spiele hochjazzen (wie auch ich), weil ihre Anstalt sie teuer eingekauft hat. bald umorientieren müssen? In gut einem Jahr werde die Champions League "komplett in den Pay-Bereich" verschwinden, schreibt kicker.de:

"Offenkundig hat das ZDF die Rechte verloren. Sky und die Streaming-Plattform DAZN", das selbsternannte Sport-Netflix (AP aus dem letzten August), "sollen über die Champions League berichten. Die Spiele in der Europa League werden ab 2018 voraussichtlich von RTL (derzeit Sport 1) und von Sky gesendet".

Das dürfte einen relativen Aufschrei auch in der Politik erzeugen.


Altpapierkorb

+++ Medienseiten gedruckter Zeitungen melken weiter das Thema ESC (AP gestern). Der Tagesspiegel zitiert das Luxemburger Wort, das sich als einziger Mosaikstein der (allerdings auch deutschsprachigen) Weltpresse mit Levina abgab, und Medienwissenschaftlerin Joan Bleicher: "Ich glaube, selbst wenn die Götter des Musikhimmels im Chor für Deutschland auftreten, würde das nicht  den German Hate (Hass auf Deutschland) beseitigen können." +++ Im Kommentar unter der Überschrift "Die ARD verheizt junge Menschen" läuft Joachim Huber zu großer Form auf: "Die größte Tat des Ersten wäre es, den Eurovision Song Contest 2018 nur zu übertragen. Ansonsten kompletter Rückzug. Es gibt im ARD-Rund null erstklassige Rock- oder Popunterhaltung, es gibt weder Expertise noch Experten. Amateure können nur Amateur, ARD kann nur ARD. Levina darf nicht das  vorletzte, sie muss das letzte Opfer des Größenwahnsinns sein." +++ Hans Hoff melkt auf der SZ-Medienseite nach Kräften mit. +++

+++ Wer beim ESC eine ganz große Öffentlichkeit erreichte und nutzte: die Israeli Broadcasting Authority (IBA), die ankündigte, ihre "Sendungen für immer einstellen" zu müssen. "Anstelle der IBA sendet nun seit Montagnacht die neue Anstalt IBC (Israeli Broadcasting Corporation). Es sind dieselben Gesichter und dieselben Stimmen", zumindest weitgehend. Über die komplexe Lage des öffentlichen Rundfunks in Israel berichten die TAZ und die SZ (€). +++

+++ Weiteres TAZ-Thema: ein Überfall auf sieben Reporter, darunter einen deutschen Fotografen, in Mexiko. +++

+++ Topthema der FAZ-Medienseite: "die wohl innovativste Jugendserie der Welt", die das öffentlich-rechtliche norwegische NRK herstellt: "NRK publiziert im Netz jeweils einzelne Clips von wenigen Minuten Länge, und zwar zu der Tageszeit, in  der die Videos spielen – bei Schulszenen am Morgen, aber auch mal mitten in der Nacht, wenn Noora und  Co. eine Party feiern. Die Nutzer wissen nie, wann genau der nächste Clip erscheint. Chatausschnitte und Instagram-Bilder der Serienfiguren, die zusätzlich hochgeladen werden, überbrücken die Wartezeit.  Sie sind kein schmückendes Beiwerk, sondern erhellen den Handlungsverlauf. Erst freitags zeigt NRK im  Fernsehen dann jeweils die ganze, zusammengeschnittene Folge." In Deutschland ist "Skam" nicht zu sehen, obwohl Beta-Film aus Oberhaching "die Serie international vermarktet". +++ Außerdem lobt die FAZ (sehr) Didi Danquarts Spielfilm "Goster", den die ARD heute um 23.00 Uhr zeigt. +++ Es geht um die weiter in der Türkei eingesperrte Mesale Tolu. +++ Und Michael Hanfeld rät der ARD, die neue Talkshow "Giovanni di Lorenzo" ins Programm zu nehmen. +++

+++ Über Groko-Parteien-Streit zum im September bevorstehenden Kanzlerkandidaten-Fernsehduell berichtete erst der Spiegel, nun legt die SZ nach. +++

+++ Seit 2010 "hatte es kein Magazin gegeben, das sich kritisch-reflektiert mit jüdischer Diversität beschäftigt", aber jetzt gibt's wieder eines. Die TAZ stellt die halbjährlich erscheinende Jalta vor. +++

+++ Und die SZ-Medienseite lobt (online ähnlich) Lorenz Hoffmanns vom MDR produzierte Kurzhörspiel-Serie "Lutherland", der "eine beinahe luthersche Widerborstigkeit ...,  gerichtet gegen Reformations-Jubelei, gegen die Eventisierung von Kirche, gegen den Personenkult" inne wohne. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Mittwoch.