Nicht eigentlich falsch
... heißt noch lange nicht richtig. Das deutsche "Eurovision Song Contest"-Problem ist eines des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Muss am Ende Jan Böhmermann helfen? Außerdem: "Europas fatale Abhängigkeit von Microsoft" reloaded - und was der Software-Gigant völlig indirekt mit dem Hit "Perfect Life" zu tun hat. Sowie: welcher ARD-ZDF-Fortsetzungs-Krimi nun auch auf den Schauplatz Italien ausgreift.

Schon wieder ein Super-Wahl-Wochenende! Einerseits war im Bundesland Nordrhein-Westfalen Landtagswahl (die abgefahrensten "Schulzzug"-Scherze aggregiert meedia.de ... ), außerdem hatten allerhand Millionen Europäer im Rahmen einer genauso traditionsreichen Veranstaltung wieder den Schlager des Jahres gewählt.

Das Ergebnis des "Eurovision Song Contest" beschäftigt die deutschen Rezensenten, die ja schon durch die lange Veranstaltungsdauer strapaziert sind, so sehr, wie es eine siegesgewisse Volkspartei beschäftigen würde, die dritte Wahl in Folge doch nicht gewonnen zu haben.

Natürlich kaum, weil am Veranstaltungsort kurz vor der Show "Luftlinie von Kiew 650 Kilometer entfernt, zwei ukrainische Soldaten getötet und sechs verwundet" worden waren (evangelisch.de unter der freundlichen Überschrift "ESC 2017: den Pulsschlag Europas spüren"), oder weil in der Nacht der Show selbst dann "vier Ukrainer bei einem massiven Beschuss der Stadt Awdiiwka durch prorussische Truppen" starben (Cathrin Kahlweit, SZ-Medienseite, €). Sondern weil der sorgfältig ausgewählte deutsche Beitrag zum dritten Mal in Folge vor-/ letzter wurde.

Die Frage, ob "Deutschland vielleicht erst einmal aussteigen" sollte, setzte Springers Welt auf die Agenda, von der Madsack-RNDs Imre Grimm sie streng betriebswirtschaftlich ("Der ESC ist billiger als jede Quizshow am Donnerstagabend. Der ESC kostet die ARD weniger als 500.000 Euro pro Jahr. Soviel kosten 30 Minuten eines 'Tatorts'") gleich wieder absetzen möchte. Konsequenzen aus dem "Debakel für die deutsche Delegation, die in unendlicher Arroganz mal wieder alles falsch gemacht hat", in Form von Rücktritten forderte Hans Hoff in der sueddeutsche.de-Nachtkritik.

Die Angesprochenen wehren sich mit bewährten Methoden:

"Thomas Schreiber, der ARD-Unterhaltungskoordinator, will von solchen Überlegungen nichts wissen. Das Ergebnis sei für Levina und unser Team eine herbe Enttäuschung. In Europa habe das Lied die Herzen der Menschen nicht erreicht. Dennoch solle Deutschland weiter am ESC teilnehmen, sagte er und ergänzte 'bitte Lena nicht vergessen'" (Tagesspiegel).

Und "der legendäre ESC-Kommentator Peter Urban (69) vom Norddeutschen Rundfunk (NDR) sagte: 'Ich weiß auch  nicht, woran es liegt.'" (DPA/ Dumont-Medien). Noch genauer hat dieses Zitat der ansonsten leider unentschlossen zwischen Helene Fischer und Austeritätspolitik herumkolumnierende SPON-Autor Arno Frank notiert:

"'Ich weiß auch nicht, woran es liegt', grübelte Peter Urban. '69 Prozent des deutschen Fernsehpublikums haben diesen Song gewählt, also für Levina. Wir haben eigentlich nichts falsch gemacht, also die Verantwortlichen'".

Tatsächlich hatten im Februar anrufende Zuschauer der deutschen Vorauswahl-Show genau solche "gut kalkulierte Wegwerfware" (Kahlweit, SZ unter großem Lob für die "ganz und gar uneuovisionsartige Ballade", mit der Portugal gewann), solch "üblichen Kommerzpop" (Jens Balzer, zeit.de, unter noch größerem für den "großartigen Jazzsänger Salvador Sobral") ausgewählt, wie ihn die ARD-Dudelwellen auch senden und wie er in den letzten Jahren beim ESC noch gefunzt hat, bloß in diesem plötzlich nicht mehr ("Europa bevorzugte eben am stärksten die Anmutung von Natürlichkeit ...", Jan Feddersen/ TAZ).

Das Problem des von der Künsterlin Levina vorgetragenen deutschen Lieds "Perfect Life" arbeitet am pointiertesten Sebastian Eder bei faz.net heraus (bevor er anregt, wenn schon nicht mehr Stefan Raab und Xavier Naidoo, dann Jan Böhmermann mit der Auswegsuche zu beauftragen – vermutlich eher scherzhaft, aber solche Grenzen fließen ja ...):

"Auf eurovision.de heißt es über Levinas Songschreiber Dave Basset stolz, dass 'Stücke aus seiner Feder' bereits in Werbespots von Toyota, T-Mobile, Nissan, Victoria's Secret, Google und Microsoft zu hören gewesen seien. Schön für ihn, für Originalität spricht das nicht  unbedingt."

Ja, dieser Text auf eurovision.de über den Mann, der seine Songschreiber-Karriere einst als bankangestellter U2-Fan begann, ist sogar noch erheblich ausführlicher:

"Bassett liegt es nicht nur daran, mit ohnehin schon etablierten Musikern zusammenzuarbeiten. Er stellt sich auch gerne der Herausforderung, diejenigen Künstler aufzubauen, die bisher noch keinen Namen im Musikgeschäft haben. Nur Hits zu schreiben, ist dabei nicht unbedingt sein Ziel. Es ist die Zusammenarbeit mit vielversprechenden Künstlern, die eine Vision haben, die ihn mehr erfüllt, als Charterfolge an sich ...",

heißt es da etwa in einem Tonfall, für den sich selbst die Waschzettel-Schreiber der ehemaligen Schallplattenindustrie geschämt hätten. Dieses eurovision.de ist natürlich ein beitragsfinanziertes Internetangebot des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. So leicht es ist, gegen diesen anzupolemisieren, so sehr scheint das Schlager-Grand Prix-Problem ein öffentlich-rechtliches zu sein. Welt-Redakteur Holger Kreitling im schon zitierten Artikel:

"So wie beim Fußball noch der letzte Grottenkick zum Jahrhundertspiel 'hochsterilisiert' wird, weil das wertvolle Sende-Gut geschützt werden muss, wusste in der ARD niemand, was bei Deutschland diesmal nicht  stimmte. Kommentator Peter Urban rief mehrfach: 'Wir haben nichts falsch gemacht.' Barbara Schöneberger meinte ... ...".

Verfangen in den zumindest teilweise vermeintlichen Zwängen des Geschäfts, steigert sich die ARD (wie in anderen Fällen, etwa beim Fußball, das ZDF) immer weiter in zirkuläre Argumentationen hinein und hinab. Gewiss haben die im täglichen Vergleich mit dem immer fragmentierteren nationalen Wettbewerb immer noch leidlich zahlreichen Zuschauer der Vorentscheid-Show Levinas Lied ausgewählt.

Aber ausgewählt haben sie ja nur aus dem, was die ARD-Unterhaltungsabteilung ihnen vorgesetzt hatte. Und am Einschaltquoten-/ Marktanteile-Wettbewerb nehmen ernsthaft nur noch das ZDF teil, das vor allem solche Shows und Krimis sendet, die die ARD auch senden könnte, und die deutschen Privatsender, die seit Stefan Raabs Abschied überhaupt keine eigenen Ideen mehr haben, sondern nurmehr internationales Lizenzfernsehen abnudeln (das aber immerhin weiter junge Leute animiert, sich vor Dieter Bohlen und Epigonen immer wieder in unterschiedlicher Kleidung die Seele aus dem Leib zu singen, zur Not auch in NDR-ARD-Shows ...).

Dass aus einer eng beschränkten Vorauswahl an Bekanntem relativ viele Zuschauer immer wieder irgendetwas tatsächlich auswählen, sichert ARD und ZDF zwar mittelfristig noch ihre Existenzberechtigung. Doch darüber, wie gut (und international konkurrenzfähig) die ausgewählten Sendungen (und Songs) sind, sagt es längst wenig aus – egal, wie oft die Anstalten "Qualität und Quote" (PDF) beschwören.

[+++] Der US-amerikanische Konzern Microsoft, der als Auftraggeber ein Scherflein zur fantastischen Karriere des selber Talente fördernden "Perfect Life"-Komponisten beitrug (s.o.), kam gerade auch wesentlich weiter oben in den Schlagzeilen vor: im Rahmen eines "globalen Cyber-Angriffs" (siehe z.B. hier nebenan).

Diese Sache wirft riesengroße Anschlussfragen auf, wie:

"War es überhaupt vernünftig, sich darauf einzulassen, dass nahezu die gesamte moderne Welt auf vernetzten Computern basiert, die in rasender Geschwindigkeit Daten austauschen? Und ist es dann vernünftig, diese Vernetzung noch erheblich weiter zu treiben, ein Internet der Dinge zu schaffen?",

wobei Helmut Martin-Jung (SZ-Meinungsseite) diese natürlich bloß rein rhetorisch stellt.

Rein technisch nötigt er Bewunderung ab: Er spielte in der

"Königsklasse der Hacking-Angriffe: Sie erlaubt es, ein verwundbares System aus der Ferne ohne  weitere Interaktion mit dem Nutzer zu übernehmen",

wie Linus Neumann vom Chaos Computer Club bei Spiegel Online analysiert (wo er vor allem aber Ratschläge für Nutzer gibt). Allerdings

"halten IT-Sicherheitsexperten die Täter nicht unbedingt für Genies. Dass das Schadprogramm sich so rasant verbreitet hat, lag wohl vor allem an der ausgezeichneten Vorarbeit des US-Geheimdienstes NSA. Die hatte die Lücke in dem Microsoft-Code entdeckt. Zwar warnte der Geheimdienst das Unternehmen, programmierte aber gleichzeitig wohl auch das Werkzeug (mit dem NSA-Codenamen Eternalblue), das die Lücke ausnutzt. Die NSA wollte es offenbar für ihre Zwecke einsetzen" (Kai Biermann, zeit.de).

Das heißt, das von noch unbekannten Kriminellen ausgenutzte Sicherheitsproblem, das in Deutschland nur die Anzeigetafeln der Deutschen Bahn betraf, in Großbritannien aber auch Krankenhäuser, entstand im Zusammenwirken von notwendig auftauchenden, im Regelfall immer erkannten und behobenen technischen Problemen beim Quasi-Monopolisten für Betriebssysteme nichtmobiler Computer einer- und eines US-amerikanischen Geheimdiensts andererseits:

"Spätestens seit August 2016 wusste die NSA, dass ihre Waffen in den Händen Dritter waren. Spätestens zu  diesem Zeitpunkt hätte sie die Hersteller der betroffenen Systeme informieren und ihnen helfen müssen,  die Lücken zu schließen. Den Preis zahlen nun die Krankenhäuser, Patienten und Unternehmen, mit deren Sicherheit die NSA leichtfertig gespielt hat" (Neumann, SPON).

Die Folgen dieses Angriffs und die Konsequenzen, die tatsächlich daraus gezogen werden können, sind natürlich eine hochkomplexe Materie. Marktanteile und damit Machtverhältnisse zu verschieben ist im globalen Softwaregeschäft mindestens millionenfach schwieriger als in dem mit Fernsehsendungen.

Aber schön wäre schon, wenn die Europäer, die jedes Jahr zusammenkommen, um sich an mittelmäßigen Popliedern zu erfreuen, ebenfalls ernsthaft zusammentun würden, um solche Abhängigkeiten zu reduzieren. Nicht allein die von der NSA, deren Wohlwollen selbst eng verbündeten europäischen Staaten gegenüber ja schon zu Barack Obamas Zeiten zweifelhaft war und seither nicht größer geworden sein dürfte.

"Europas fatale Abhängigkeit von Microsoft" hatte das frisch gegründete Investigativteam "Investigate Europe" vor wenigen Wochen im Tagesspiegel als Debüt-Investigation veröffentlicht. Der (inzwischen vollständig frei online verfügbare) Artikel verdient ganz aktuell noch mal, gelesen zu werden.
 


Altpapierkorb

+++ Donna Leon, Commissario Brunetti, Vice-Questore Patta usw. hätten ihre Freude: Der Fortsetzungs-Krimi um das Institut für Rundfunktechnik (IRT), das vor allem ARD und ZDF gehört und seit 2003 rund 200 Millionen Euro eingenommen hätte, von denen die krimiversessenen Anstalten aber nichts bemerkt hatten (siehe zuletzt hier im Altpapier-Korb), greift nun auch auf den Schauplatz Italien aus: Die Hälfte der Summe möchten die Verantwortlichen nun, irgendwie, vom Patentvermarkter Sisvel aus Turin zurückholen, berichtet Klaus Ott in der SZ. +++

+++ Nach dem großen Erfolg auf Twitter bereits jetzt frei online: Michael Ridders am Freitag hier erwähntes epd medien-Tagebuch über die Lindenstraße als deutsches "Breaking Bad" oder zumindest einen ihrer Alteingesessenen als deutschen Walter White. +++

+++ "Zeitungsstadt Berlin": Ist das glorreiche Vergangenheit oder auch noch Gegenwart? Das gleichnamige Buch von Peter de Mendelssohn ist neu erschienen bei Ullstein, "um aktuelle Kapitel erweitert von Lutz Hachmeister und dem Institut für Medien- und Kommunkationspolitik". +++ Dazu brachte der Tagesspiegel einen Auszug unter der Überschrift "Aufstieg und Fall der Zeitungsstadt Berlin". Und berichtete von der Buchpremiere inkl. dramatischer Podiumsdiskussion mit Ex-BLZ-Chefin Brigitte Fehrle, Berliner Morgenpost-Chefredakteur Carsten Erdmann und seinem Herausgeber Sebastian Turner: "'Wären wir Verleger nicht Kommunisten geworden, wären wir heute viel schlechter dran', erwiderte Turner auf Fehrles Frage, warum die Verleger vor 20 Jahren entschieden haben, alle Inhalte umsonst ins  Internet zu stellen. Hätten das die Zeitungsverleger nicht getan, hätten es andere – zum Beispiel die  TV-Unternehmen – gemacht, und man hätte heute diesen Zugang zum Leser gar nicht mehr, sagte Turner. Gratiskultur oder Bedeutungslosigkeit, die moderne Form von 'Sozialismus oder Tod'." Auch wenn seiner Einschätzung "Sie finden keine Schnitzel von Edeka im Internet" natürlich noch Disruptionen in die Quere kommen könnten, zeigte sich Turner mit Zukunftsstregien wie "Hyperspezialisierung auf ausgewählte Themenfelder" bemerkenswert selbstbewusst. +++

+++ Am gestrigen Sonntag saß Deniz Yücel "90 Tage in Einzelhaft - ohne Anklage", und was sich zum täglichen #FreeDeniz (in dem Fall: Tsp.) gesellt, ist leider: #FreeMesale (Welt-Titelseite vom Samstag, siehe auch AP vom Freitag). +++ "Das ist eine tragische Empfehlung, aber im Moment ist es wohl ratsamer, wenn deutsche Journalisten  ohne türkischen Migrationshintergrund die Berichterstattung aus der Türkei machen. Bei ihnen halten  sich die Behörden mit Repressionen noch eher zurück" (der deutsche Reporter ohne Grenzen-Chef Christian Mihr im TAZ-Interview). +++

+++ Praktisch für Leser, schlecht für digitale Refinanzierung ist es, wenn der Spiegel selbst ganz Kurzinterviews (z.B. mit Bertram Gugel, "Berater und Webvideo-Experte, über Facebooks  Fernsehpläne und die Krise von YouTube"), die nicht frei online stehen, gratis vertwittert. +++

+++ Jenseits des Cybermobbings eröffnen Geräte wie Amazons Echo nun auch Möglichkeiten für Nichtcyber-Belästigung im Wohnzimmer (Standard fasst The Verge zusammen). +++

+++ "In Wahrheit ist das Interesse an begründeten Erwägungen und dem Expertenblick auf geplante Gesetze gering. Eilig in Auftrag gegebenen Meinungsumfragen wird mehr Beachtung geschenkt. Die jeweils  amtierenden Politiker linsen wie besessen auf die Mehrheitsmeinung der Bürger – als sei Demokratie eine  reine Meinungsmaschine", beschweren sich Constanze Kurz und Stefan Ullrich im FAZ-Feuilleton namens der vom Bundestag eigentlich zum NetzDG angefragten "Gesellschaft für Informatik". +++

+++ Aufschlussreiches Geschäftszahlen-Detail: "Ende von 'American Idol' lässt RTL-Umsatz schrumpfen", weil die Lizenz der britischen Showidee "Pop Idol" via FremantleMedia von der Bertelsmann-Tochter vermarktet wird (Standard). +++

+++ Und kommt da zusammen, was in mittlerer Zukunft datenträgergenerationengemäß zusammengehören wird? Über "gleich drei Zeitschriften" "über Vinyl-Schallpatten" berichtet jedenfalls Andreas Hartmann im Tagesspiegel. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Dienstag.