Im Bällebad der Republica kurzfristig die desaströsen Bedingungen in der Türkei vergessen? Tja:
„In der Türkei ist offenbar eine Deutsche verhaftet worden, die als Journalistin gearbeitet hat. Die in Baden-Württemberg aufgewachsene Frau mit türkischen Wurzeln befindet sich seit fünf Tagen im Istanbuler Frauengefängnis, hieß es. Die 33-jährige Mesale Tolu sei in der Nacht zum 30. April verhaftet worden, berichteten Freunde. Spezialkräfte der Anti-Terror-Einheit seien gewaltsam in die Istanbuler Wohnung eingedrungen, in der Tolu und ihr zweieinhalbjähriger Sohn schliefen.“
So meldet es sachlich Christian Buttkereit für tagesschau.de aus dem ARD-Studio Istanbul, während Ali Celikkan in der taz die wesentlich plastischere Einbruchsbeschreibung einer Kollegin der Festgenommenen („Sie haben versucht, die Türe mit Gewalt einzutreten, und sie festgenommen. Sie haben ihr nicht mal erlaubt, einen Anwalt anzurufen oder ihre Familie zu bitten, auf ihren Sohn aufzupassen. Sie wurde gezwungen, das Kind bei den Nachbarn abzugeben, die sie nicht mal kennt. Ich habe die Wohnung erst später betreten, sie lag in Trümmern. Sie haben alles verwüstet“) sowie auch die vermeintlichen Gründe für die Verhaftung von Tolu, seit 2007 ausschließlich deutsche Staatsbürgerin, hat:
„Laut Gülhan Kaya, einer der Anwältinnen, die sich den Fall angesehen haben, ist einer der ,Beweise’ gegen sie, dass sie an der Beerdigung von Sirin Öter und Yeliz Erbay teilgenommen hatte – MLKP-Mitgliedern (Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei in der Türkei, von der Regierung als terroristische Vereinigung geführt, Anm. AP), die 2015 von Polizeikräften bei einem Einsatz in Istanbul getötet worden waren. Die Anwältin sagte, dass frühere Ereignisse ähnlich wie dieses unrechtmäßigerweise in Tolus Akte als Beweis aufgeführt seien. ,Bei dieser Beerdigung waren 2.000 Menschen.’“
Tolus Vater ergänzt, sie habe dort als Journalistin teilgenommen.
Das Auswärtige Amt ist wohl involviert, gibt sich aber nach außen zurückhaltend. Da Tolu anders als Deniz Yücel keinen türkischen Pass mehr hat, hätte sie laut taz normalerweise nach Deutschland abgeschoben werden müssen. Aber normal geht es in der Türkei dieser Tage halt nicht zu.
Dazu passend hat sich Ulrike Simon in ihrer RND-Medienkolumne (übrigens die letzte für diesen Auftraggeber, wie sie schreibt) von Menschen wie Thomas Roth, Nikolaus Brender und Dagmar Reim bestätigen lassen, warum es Quatsch ist, Hanns Joachim Friedrichs zu zitieren und sich damit als Journalist aus dem aktiven Einsatz für die Pressefreiheit zu entschuldigen.
Verdammte Axt, wer soll es denn sonst tun, wenn nicht allen voran wir?
#freedeniz #freemesale #freejournalisten,dieintürkischengefängnissennichtszusuchenhaben
Dass auch in Trumpistan aktuell ein Journalist bei Ausübung seines Jobs festgenommen wurde, steht übrigens ebenfalls in der taz.
[+++] Damit zu einem Beispiel, wie man sich als Journalist für Journalisten, ihre Rechte und ihre Unversehrtheit besser nicht engagieren sollte. Schauplatz: Die Website www.zeitung-61.de, ein Projekt der Media-Agentur Havas und der Berliner Zeitung, die mit Porträts an die 61 im vergangenen Jahr bei der Ausübung ihres Jobs ums Leben gekommenen Journalisten erinnern soll.
„Die Pressefreiheit ist eines unserer höchsten Güter. Mit unserer Hommage wollen wir den verstorbenen Journalisten unseren großen Respekt für ihren Einsatz zollen und ihren kritischen Stimmen ein wirksames Echo geben“,
erklärt Berliner-Zeitungs-Chef Jochen Arntz auf der Website. Vier Porträts sind derzeit online - und jetzt kommt das Problem, formuliert ebenfalls von Arntz gegenüber Frank Hauke-Steller bei kress.de:
„Wir als ,Berliner Zeitung’ wollen diese Würdigung vor allem anstoßen. Es wäre schön, wenn Journalisten vieler Medien mitmachen. (…) Einfach eine E-Mail an mich schreiben."
Dazu Havas-Chef Andreas Henke:
„Die Berliner Zeitung mit ihrem Autorennetzwerk sei dabei der ideale Medienpartner.“
Ganz recht: Die Berliner Zeitung möchte gerne ein Mahnmal für die Pressefreiheit errichten, aber nicht das Personal zur Verfügung stellen, 61 nicht übermäßig lange Porträts zu verfassen. Stattdessen steht da jetzt eine zudem auch noch unrund programmierte Rumpfwebsite im Netz, und die getöteten Journalisten mit den Nummern 5 bis 61 dürfen hoffen, dass sich jemand erbarmt und Herrn Arntz seine Arbeit zur Verfügung stellt, damit die Berliner Zeitung sich das Fähnchen Pressefreiheitsengagement aus dem Neubaufenster hängen kann.
Awesome.
Der Absurditätsvollständigkeit halber sei noch Folgendes zitiert:
„Ob er als Chefredakteur einen Mitarbeiter in das Bürgerkriegsland schicken würde, wenn dieser das vorschlage? Jochen Arntz zögert: ,Das kann ich nicht mit Bestimmtheit beantworten.’ Der Kollege müsse sich dort gut auskennen und sehr erfahren sein. ,Reife und Erfahrung sind dafür zentrale Kriterien’, sagt der 52-Jährige.“
Wenn ich vorstellen darf: Herr Arntz, das Konzept Auslandskorrespondent. Das Konzept Auslandskorrespondent, Herr Arntz. Zur Vertiefung dieser neuen Bekanntschaft wird es aber wohl kaum noch kommen.
[+++] Noch 'ne Zeitung, noch ein Engagement, wieder steht „freie Presse“ mit dabei, allerdings mit dem Vor-Satz „Angriff auf die wirtschaftlichen Grundlagen dieser.“ Und damit herzlich willkommen auf Seite 5 der heutigen FAZ, wo die Herausgeber und Geschäftsführer der Zeitung in Anzeigenform (und daher nicht über Blendle verfügbar) an den Bundesrat appellieren, den Entwurf zum neuen Wissenschaftsurheberrecht nicht zuzustimmen, was dort heute auf der Tagesordnung steht.
Als Bedrohung für ihre Existenz sehen sie an, dass die Nutzung einzelner Texte in der Lehre und in Bibliotheken frei sein und der Deutschen Nationalbibliothek das Recht eingeräumt werden soll, einmal frei im Netz verbreitete Artikel selbst auch frei anzubieten. Der Aufruf schließt mit den Worten
„Einer Gefährdung der Zeitung als unabhängiges Medium freier Meinungsbildung in diesem Land werden wir publizistisch entgegentreten“.
Das klingt angesichts der sinkenden Auflage der FAZ zunächst fast niedlich, doch nach der Lektüre dieses Artikels von Netzpolitik.org aus dem April weiß man, wie erfolgreich die Verlage bereits den nun zur Abstimmung stehenden Entwurf zu beeinflussen vermochten.
Trotz der reinlobbyierten Veränderungen kam Leonhard Dobusch damals zu dem Schluss, „dass zahlreiche etablierte Praktiken dadurch aus der Illegalität geholt werden und das Wissenschaftsurheberrecht ein wenig zeitgemäßer gestaltet sein wird“.
Auch wenn ich als Urheberin tendenziell eher nicht für die kostenlose Weiterverbreitung von Inhalten bin, werde ich doch immer skeptisch, wenn Verlage die großen Moralkeulen „Unabhängigkeit“ und „Freiheit“ herausholen, um ihr Geschäftsmodell zu verteidigen.
Wer sich rasch selbst ein Bild machen möchte, findet die 60 Seiten Gesetzesentwurf hier.
[+++] Ebenfalls Urheberrecht, ganz anderes Thema: Der Grünen-Politiker Volker Beck erschien gestern vor dem Bundesgerichtshof, um seiner Klage gegen Spiegel Online Nachdruck zu verleihen. Der Fall: Beck hatte sich 1988 in dem Sammelband „Der pädosexuelle Komplex“ für eine zumindest teilweise Entkriminalisierung von Pädophilie ausgesprochen. Fünf Jahre später distanzierte er sich ausdrücklich von dieser Haltung, doch 2013 tauchten Teile des Textes wieder auf - aus dem Zusammenhang gerissen, argumentierte Beck damals. Dass das so nicht stimmte, belegte Spiegel Online, indem es das Original-Manuskript veröffentlichte. Dagegen klagt Beck nun; sein Urheberrecht werde verletzt.
„Beck wendet sich also gegen die Enteignung vergangener Gedanken zu gegenwärtigen Zwecken. Nach dem Gang der Verhandlung wird man aber skeptisch sein müssen, ob er damit Erfolg hat. Denn das Urheberrecht hat eine Hintertür, die dann geöffnet werden kann, wenn es um Themen von allgemeiner Relevanz geht. Konkret geht es um das sogenannte Zitatrecht, wonach aus einem geschützten Werk zitiert werden darf, wenn dies zur ,geistigen Auseinandersetzung’ erforderlich ist. Für Thomas Winter, Anwalt von Spiegel Online, ist das gar keine Frage. Wenn zwei Texte verglichen werden sollen, um die Behauptung einer Verfälschung zu widerlegen, dann müsse man die Texte nebeneinander stellen dürfen – in diesem Fall ausnahmsweise sogar vollständig, anders lasse sich das nicht überprüfen. ,Das Urheberrecht ist nicht für die postfaktische Selbstdarstellung von Politikern da’“,
berichtet Wolfgang Janisch heute auf der Medienseite der SZ. Christian Rath liefert dazu in der taz noch folgenden Kontext:
„Ein Urteil wird erst nach dem 1. Juni verkündet. An diesem Tag will das oberste deutsche Zivilgericht entscheiden, ob die Bundesregierung die Veröffentlichung von diplomatischen Berichten über Afghanistan auf der Webseite www.derwesten.de verhindern konnte. Auch die Bundesregierung hatte sich dabei auf ihr Urheberrecht berufen. Der BGH sieht offensichtlich Zusammenhänge zwischen beiden Fällen.“
[+++] Das Beste kommt zum Schluss - also dem vorläufigen, vor dem Korb:
„Protagonist des deutschen ,Breaking Bad’ ist eindeutig Hans ,Hansemann’ Beimer, der entdeckt hat, dass er seine Parkinson-Krankheit, unter der er seit 2015 leidet, gut mit Cannabis behandeln kann. Also baut er eine Growbox in seiner Wohnung auf. Und da sich in seiner Therapiegruppe weitere Interessenten für das schmerzlindernde Gras finden, kommt flugs ein schwunghafter Handel in Gang. Seit März dieses Jahres gibt es Cannabis auch auf Rezept - somit könnte Hansemanns gefährliches Geschäft eigentlich entfallen. Doch wie sein Vorbild Walter White erliegt er der der Faszination des Illegalen, dem Rausch des Geldes und der Macht.“
Danke, Michael Ridder, epd medien (leider auch nicht online)! Ich konnte es erst selbst nicht glauben, aber schöne Fotos wie dieses sowie der Trailer für die nächste Folge belegen, dass das tatsächlich stimmt.
+++ „Dies war das Schönste an Joachim Kaiser: das Vergnügen an einem Argument, das seinen Gegenstand traf, an einer knappen, klaren, schönen Formulierung, an einem Funken hellen Verstands. Dass er dieses Vergnügen empfand, rückhaltlos, ohne weitere Absichten, hatte ihn zu einem der wichtigsten Kritiker werden lassen, die es in den vergangenen fünfzig Jahren in Deutschland gab.“ So erinnert Thomas Steinfeld heute auf Seite 3 der SZ an den gestern verstorbenen, langjährigen SZ-Feuilletonchef Joachim Kaiser (unfrei online). Auf der ersten Seite des Feuilletons verabschieden sich Kurt Kister, Martin Walser, Daniel Barenboim und Anne-Sophie Mutter (u.a.); auf der Website des zur Zeitung gehörigen Magazins haben Max Fellmann und Tobias Haberl Kaisers eigene Idee übernommen und ein Interview aus alten Kaiser-Zitaten zusammengestellt. Auch bei sueddeutsche.de gibt es einen Nachruf von Andrian Kreye. Und im Feuilleton der FAZ zelebriert Gerhard Stadelmaier das Feuilletonistische: „Wir trauern jetzt um Joachim Kaiser, einen der letzten großen Hohepriester der Dreieinigkeit von Theater-, Musik- und Literaturkritik. Und setzen uns mit Tränen nieder.“ +++
+++ SWR-Intendant Peter Boudgoust hat die nächste Saison der Rundfunkbeitragshöhendebatte eröffnet. „Im Jahr 2021 geht es darum, ob man uns nach insgesamt zwölf Jahren ohne Beitragserhöhung die Möglichkeit gibt, zumindest in der Größenordnung der allgemeinen Preissteigerungsrate wieder Anschluss an externe Kostenteuerungen zu finden“, zitiert ihn die dpa/Spiegel Online. Einsatz Michael Hanfeld, FAZ-Medienseite: „Was bei solchen Gelegenheiten verschwiegen wird, ist, dass zwar der Beitrag, vormals die Rundfunkgebühr, nicht erhöht wurde, die öffentlich-rechtlichen Anstalten aber allein durch die Umstellung des Systems wesentlich mehr einnehmen denn zuvor.“ +++
+++ Weiteres Thema der FAZ heute: Die neue Amazon-Serie „I love dick“. +++
+++ Die vielen Fallstricke des NetzDG dröselt Medienrechtler Wolfgang Schulz, Direktor des Hans-Bredow-Instituts, in der aktuellen Ausgabe von epd medien (derzeit nicht frei online) auseinander. +++
+++ Beim einstigen Patentanwalt des Instituts für Rundfunktechnik (zuletzt Thema hier Mittwoch im Korb) hat die Staatsanwaltschaft erneut vorbeigeschaut und „Autos, Gemälde und Schmuck“ sichergestellt, berichtet Klaus Ott auf der SZ-Medienseite: „[E]infach alles, was wertvoll ist, soll gegebenenfalls dazu herhalten, das Institut zu entschädigen.“ +++
+++ Mir dreht sich ja bei Sätzen wie „Content-Marketing eröffnet darüber hinaus für Journalisten neue Arbeitsmöglichkeiten mit gut ausgestatteten Budgets und ist deshalb zu einer Oase auch für Edelfedern geworden, die aufgrund der Krise bei den klassischen Medien keine angemessenen Rahmenbedingungen mehr finden“ eher ein wenig der Magen um. Aber im Kern ist das natürlich die Realität, die Manfred Bissinger, früher mal Stern, konkret und Die Woche, heute Agentur Bissinger Plus im Tagesspiegel beschreibt. +++
+++ Während die Leser bei Spiegel Online noch abstimmen können, ob Harald Schmidt eine Kolumne bei Spiegel Daily bekommen soll oder nicht, schreibt Marvin Schade bei Meedia: „Dennoch gilt das Engagement nach MEEDIA-Infos als gesetzt.“ +++
+++ Wie Correctiv einmal herausfand, wie viele Schulstunden in Dortmund ausfallen, darüber berichtet das Nieman Lab. +++
+++ Die Zeitungen haben mal wieder Probleme, die AfD richtig zu zitieren, dokumentiert Stefan Niggemeier bei Übermedien. +++
+++ „Dass Axel Springer, Deutsche Bank & Co. das unter dem Arbeitstitel DIPP laufende Vorhaben jetzt aufsetzen, hat auch rechtliche Hintergründe. Denn demnächst ändern sich wichtige Datenschutzbestimmungen. Sie erschweren hiesigen Konzernen, die Daten der Kunden problemlos für Vermarktungs- und Werbemaßnahmen einzusetzen.“ Schreibt Gregory Lipinski bei Meedia über den fürs nächste Jahr angekündigten Generalschlüssel fürs Netz aus deutschen Landen (Altpapier am Dienstag). +++
+++ Großer Hype, aber gar nicht so viel dahinter bei diesen Instant Articles, meint Christoph Sterz bei @mediasres zwei Jahre nach deren Start. +++
+++ „Resozialisierung als permanentes Scheitern, dazu die Gewalt und die herbe Gossensprache Hottes: Die Komödie ,Die Kleinen und die Bösen’ kommt furchtlos unkorrekt und ungeschönt daher. Auf Strecke ist der Film ein sonderbarer Genre-Mix, der sein Publikum erst mit dem unflätigen Hotte vor den Kopf stößt, dann mit dem Unfall-Tod von Hottes Sohn Dennis eine tragische Wendung nimmt, um schließlich in eine verwickelte Räuberpistole mit versöhnlichem Ende zu münden.“ (Thomas Gehringer im Tagesspiegel über den Arte-Spielfilm für heute, 20.15 Uhr.) An der Unentschiedenheit in Sachen Genre stößt sich auch Tilmann P. Gangloff in seiner Rezension für die HAZ. +++
Das nächste Altpapier erscheint am Montag. Schönes Wochenende!