"Ihr könnt revoltieren! Ihr könnt eure Verleger entmachten!"
Eine freie Presse in der Türkei ist nur ohne Erdo?an denkbar. Das Erste finanziert Fake-News-Postillen. Phoenix wird heute 20 Jahre alt. Die Deutsche Welle will "emotionaler" werden.

Gründe, die Öffentlich-Rechtlichen konkret zu kritisieren, finden sich täglich, manche sind auf den ersten Blick profan, und mit einem solchen Fall wollen wir heute mal einsteigen. Das NDR Fernsehen zeigt heute um 20.15 Uhr in seiner Reihe „die nordstory“ eine Reportage unter dem Titel „Lüneburg und die Roten Rosen“, und bevor hier jemand wegdriftet, sei gleich darauf hingewiesen, dass es sich um redaktionell camoufliertes Werbefernsehen handelt. Mit „Rote Rosen“ ist nämlich die in der niedersächsischen Irgendwie-auch-Medienstadt produzierte Telenovela gemeint, die der NDR verantwortet. Die Ankündigung verspricht dann auch „einen Blick hinter die Kulissen der Dreharbeiten zur Telenovela ‚Rote Rosen‘ in Lüneburg und im Studio“. Um es noch einmal deutlich zu formulieren: Zur Prime Time strahlt das NDR Fernsehen eine Sendung aus, die für eine andere Sendung des Hauses Werbung macht.

Da wir gerade bei Werbung sind: Übermedien hat recherchiert, dass das Erste in einem halben Jahr 100.000 Euro ausgegeben hat, um Werbung „in der Regenbogenpresse“ zu schalten. Mats Schönauer führt aus: 

„Einige dieser Anzeigen wurden über den Rundfunkbeitrag finanziert. Anfang des Jahres etwa wurde in verschiedenen Blättern (z.B. Freizeitwoche und Die Aktuelle) ganzseitig für die Sendung Brisant geworben. Und weil Brisant nicht werbefinanziert ist, wurden die Anzeigen dafür aus den Beitragseinnahmen bezahlt.“

In einem der vielen mehr oder weniger historischen Exkurse zum Thema Fake-News hatte die FAZ vor rund zwei Monaten bemerkt:

„Es gibt (…) eine Medienbranche, die die Fake News seit Jahrzehnten schon hingebungsvoll pflegt, ja die sogar ihr gesamtes Geschäftsmodell darauf errichtet hat. Die Rede ist von der niederen Yellow Press, die uns Woche für Woche Neuigkeiten über Schlagerstars und Königsclans verkündet – welche großenteils erfunden sind.“

Die ARD hat also in Hamburg gerade eine „Faktenfinder“-Abteilung eingerichtet, um u.a. sog. Fake News  aufzuspüren (Altpapier), und dennoch finanziert sie jene, deren „gesamtes Geschäftsmodell“ auf der Verbreitung von Falschinformationen älterer Schule basiert. Oder, um mit Schönauer ein Fazit zu ziehen: „Falls Sie sich also fragen, wer die Lügengeschichten (…) eigentlich finanziert: (…) Ob Sie wollen oder nicht – indirekt auch Sie.“

Ein letztes Einzelbeispiel sei noch geliefert (wieder betrifft es die ARD, und gewiss ist es nicht gerecht, dass ich das ZDF diesbezüglich heute übersehe): Weitere Kritik zieht Constantin Schreibers „Moscheereport“ (siehe Altpapier) nach sich. Das Migazin moniert, der Grimme-Preisträger sei in seiner Reportage unterwegs gewesen „mit der Attitüde eines Orientreisenden, der zum ersten Mal seinen Fuß in eine fremde und gefährliche Welt setzt“ bzw. „mit einer Mischung aus gespielter kindlicher Naivität und der Abenteuerlust einer Safari-Expedition“.

Auch quasi hausintern bekam „Zapp“-Moderator Schreiber schon was auf den Deckel. Anfang der Woche erwähnte Yasemin Ergin im „Kulturjournal“ des NDR, dass Kritiker dem Autor Schreiber „methodische Unsauberkeiten“ vorwerfen, und kritisierte selbst, dass „mehr Sorgfalt und Ausgewogenheit bei diesem Thema wichtig gewesen wäre“.

[+++] Es kann einem also beim Stichwort „öffentlich-rechtlich“ ganz aktuell schnell allerlei Kritikwürdiges in den Sinn kommen. Was einem aber eigentlich nicht einfallen kann, sind Sätze à la „(Wir) sind wir auf dem Weg in eine öffentlich-rechtliche Presse. Wir sind auf dem Weg zur Staatspresse, was nicht gesund für die Demokratie ist.“ Mathias Döpfner hat das bekanntlich gestern in einem FAZ-Gespräch gesagt (siehe Altpapier). Die Fragwürdigkeit des Begriffs „Staatspresse“ greift aktuell Daniel Bouhs bei Facebook kurz auf. Und der Sprecher des DJV, Hendrik Zörner, empfiehlt im Blog seines Verbandes: „Besser mal einen Gang runterschalten!“

Die Verwendung des Begriffs „Staatspresse“ lässt jedenfalls darauf schließen, dass Döpfner neben dem Hut des Springer-Vorstandsvorsitzenden, des BDZV-Präsidenten und des MDB Vermögensverwaltung KG-Gesellschafters auch noch einen Aluhut aufhat.

[+++] Wo es wirklich eine Staatspresse gibt und welche Funktion sie gerade erfüllt, schildert anhand eines aktuellen Beispiels Can Dündar in einem Özgürüz-Video. Für Journalisten der Zeitung Cumhüriyet, die seit rund fünf Monaten in Haft sitzen, hat der zuständige Staatsanwalt Haftstrafen bis zu 45 Jahren gefordert, und erfahren haben das die Betroffenen zuerst „aus der regierungsnahen Presse“, beziehungsweise nachdem „die Manipulation der Öffentlichkeit“ schon vonstatten gegangen sei. Das sei eine „neue Gepflogenheit“, sagt Dündar. Den „Justizskandal“ schildert Dündar auch in eigener Sache, denn er ist in seiner Funktion als früherer Cumhüriyet-Chefredakteur einer der Beschuldigten (der allerdings die richtige Entscheidung traf, die Türkei im Sommer 2016 zu verlassen).

Sein Özgürüz-Kollege Hayko Ba?dat bemerkt derweil:

„Um (die) Entwicklung zu stoppen oder gar umzukehren, genügt es nicht, dass Erdo?an das Referendum verliert. Vielmehr ist eine Rückkehr zu einer transparenten, demokratischen Türkei mit einer unabhängigen Justiz und einer freien Presse nur ohne Erdo?an denkbar. Gemeinsam müssen wir darüber sprechen, was all dies für die Europäer bedeutet (…) Denn inzwischen haben in ganz Europa hochqualifizierte politische Flüchtlinge aus der Türkei Unterschlupf gesucht. Allein nach Berlin sind mehr als hundert türkischstämmige Akademiker, Journalisten, Künstler, Politiker und Gezi-Aktivisten geflohen.“

Geschrieben hat er dies in den Blättern für deutsche und internationale Politik.

„Für Deniz Yücel und seine Unterstützer wäre es keine erfreuliche Perspektive, dass er erst aus dem Gefängnis käme, wenn Recep Tayyip Erdogan nicht mehr an der Macht wäre“,

steht wiederum am Ende eines Textes, in dem ich für die Medienkorrespondenz versucht habe, teils nüchtern-chronologisch (aber ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit), teils einordnend aufzubereiten, was seit der Verhaftung Yücels passiert ist. Unter anderem findet Erwähnung, wie vielfältig das Spektrum der Unterstützer ist. Aktuell kommt das in der Ankündigung der Edition Nautilus zum Ausdruck, die am 12. April eine erweiterte Auflage von Yücels Buch „Taksim ist überall“ - siehe dazu auch die Solikampagne zum Kauf der E-Book-Version von Altpapier-Kollege Ralf Heimann - in den Handel bringt. Für die Neuauflage haben die taz-Redakteurin Doris Akrap, Daniel-Dylan Böhmer (Die Welt) und Özlem Topçu (Die Zeit) das Vorwort geschrieben.

„Die Edition Nautilus dankt der Druckerei Beltz Bad Langensalza sowie der Tageszeitung Die Welt für die finanzielle Unterstützung, die diese Neuauflage erst ermöglicht hat“,

heißt es in der Ankündigung, und es hat ja durchaus eine zumindest kleine historische Dimension, dass sich der bedeutendste linke Buchverlag des Landes bei einem Projekt finanziell von Springer unterstützen lässt.

Die gerade erwähnte Doris Akrap, eine der zentralen Figuren der Solidaritätsbewegung, schreibt in der aktuellen Ausgabe des journalist unter dem Titel „Mein Freund Deniz“:

„Auch wenn ich Mitinitiatorin der Kampagne #FreeDeniz bin, ständig zwischen meiner Redaktion, meinem Job und den Aktivisten hin- und herlaufe, auch wenn ich Deniz sehr gut kenne und ein großer Teil dessen, womit ich mit seit Februar beschäftige, ein selbstverständlicher Freundschaftsdienst ist: Ich empfinde es auch als Verpflichtung meinem Beruf gegenüber, nicht nur zu berichten, sondern auch durch Aktionen die Öffentlichkeit zu erreichen.“

Dies richtet sich natürlich an die Fraktion derer, die meint, dass Journalismus und Aktivismus einander ausschließen. Wobei, kurzer Exkurs, jene, die dekretieren, Journalisten dürften keine Aktivisten sein, lustigerweise oft ja selbst die größten Aktivisten sind. Beziehungsweise: Sehr viele, die Hajo Friedrichs' Ausspruch, man dürfe sich nicht mit einer Sache gemein machen, auch nicht mit einer guten, gegen die Intention des Urhebers aus dem Kontext reißen, machen sich fast täglich mit Sachen gemein, allerdings mit schlechten.

Zurück zu #FreeDeniz: Wer sich für Redebeiträge eine Kundgebung in Hamburg interessiert: Hier findet sich ein vierminütiges Video. Und unter anderem die Jungle World, deren Mitherausgeber Yücel ist, ruft im Sinne des Inhaftierten auf:

„Sollten Sie, liebe Leserinnen und Leser, einen Moment Zeit haben, dann schreiben Sie doch Deniz Yücel persönlich einige Zeilen.“

Die Adresse sei hiermit weitergeleitet:

?lker Deniz Yücel

Silivri Kapal? Ceza infaz Kurumu

9 Numaral? Ko?u?

B6/54

Silivri – ?stanbul

Türkei

[+++] Dass Ashwin Raman in Haft gesessen hat, liegt mittlerweile mehr als vier Jahrzehnte zurück. Damals hat er noch für die Times of India gearbeitet. Mittlerweile hat er in Deutschland mehrere Preise dafür bekommen, dass er als Ein-Mann-Filmteam in Kriegsregionen reist, in die sich deutsche Filmemacher und Journalisten sonst nicht trauen, also nach Somalia, Afghanistan oder in den Irak. Zuletzt ist er mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet worden (Altpapier), und das war für das Interviewmagazin Galore Anlass, mit Raman zu sprechen:

"Wie bereiten Sie sich auf eine Reise vor?"

"Ich kenne Kollegen, die entwickeln vorher einen genauen Plan, wo sie hingehen wollen, und schreiben sogar die Fragen auf und die Antworten, die sie darauf erwarten. Das ist nicht meine Art. Ich rede mit den Einheimischen - und diese sagen mir: Geh dorthin, das ist wichtig.“

Dass Raman während seiner Arbeit schon in Lebensgefahr geraten ist, ist ebenfalls Thema: 

„In meinem letzten Film ‚An vorderster Front‘ (…) konnte ich noch nicht einmal meine Kamera auspacken, ich war direkt im Gefecht. Ich habe dann mit dem Handy gefilmt. Ein IS-Kämpfer hat auf mich gezielt. Ich hatte Glück, dass ein Peschmerga dort war und auf ihn schoss.“

In einem im vergangenen Oktober im Altpapier zitierten Interview hat Raman diese Situation auch schon einmal beschrieben. Das Galore-Gespräch steht - natürlich - nicht in Gänze frei online. Die ersten zwei Fragen gibt es aber gratis. 

[+++] Der wichtigste Geburtstag der Woche ist nach Altpapier-Kriterien der zwanzigste, den der von ARD und ZDF betriebene Sender Phoenix heute feiert. Tilmann P. Gangloff (epd medien) schreibt:

„Ulrich Deppendorf, ehemaliger Chefredakteur von ARD-Aktuell und bis zu seiner Pensionierung vor zwei Jahren Leiter des ARD-Hauptstadtstudios, (bezeichnet) Phoenix als ‚beste Erfindung‘, die ARD und ZDF in den späten 90ern gemacht hätten. Vorbild, erinnert sich der frühere WDR-Fernsehdirektor, ‚war C-Span. Fritz Pleitgen hatte das amerikanische Parlamentsfernsehen in seiner Zeit als US-Korrespondent kennengelernt und war der Meinung, wir bräuchten ebenfalls einen Sender, der live aus den Parlamenten und von politischen Veranstaltungen berichtet.‘“  

Gangloff nutzt das Sender-Jubiläum, um die Debatte darüber anzufachen, ob es in Deutschland einen 24-Stunden-News-Kanal braucht:

„20 Jahre später wundert sich Deppendorf, dass Deutschland, ‚immerhin eine der größten und vielfältigsten Fernsehlandschaften der Welt‘, immer noch keinen öffentlich-rechtlichen Nachrichtenkanal habe. Er fordert das schon seit Jahren und hält die Einführung eines 24stündigen Nachrichtenkanals - ‚nennen wir ihn Phoenix 2 oder wie auch immer‘ - für überfällig.“

In der jüngeren Vergangenheit forderte Deppendorf dies unter anderem im vergangenen Sommer - nach dem Terroranschlag von Nizza, dem Putschversuch in der Türkei und dem Neunfachmord von München. Damals war das Thema gerade besonders virulent. Ein paar Argumente, die gegen einen öffentlich-rechtlichen Nachrichtensender sprechen, habe ich seinerzeit in einem Artikel für die Stuttgarter Zeitung aufgeschrieben.

Skeptisch ist auch der aktuell von Gangloff befragte Ex-Grimme-Instituts-Direktor Uwe Kammann:

„Alte CNN-Bedeutung, inklusive starkem Markenzeichen, wäre als deutschsprachiger Nachzügler nicht zu gewinnen.“

Hach, der typische Kammann-Duktus! In anderen Versionen seines Textes (für die Stuttgarter Zeitung sowie für M - Menschen Machen Medien) erwähnt Gangloff noch:

„Vor rund 25 Jahren (hätte es) beinahe mal ein deutsches CNN gegeben: Anfang der Neunzigerjahre, erinnert sich Deppendorf, habe es bei ARD und ZDF Überlegungen gegeben, gemeinsam mit dem 1980 von Ted Turner gegründeten US-Nachrichtenkanal einen ganz ähnlichen Sender für Deutschland zu gründen. Die Amerikaner hätten jedoch nach mehreren Gesprächen die Geduld verloren und seien dann beim kurz zuvor gestarteten n-tv eingestiegen. Der Gedanke, einen solchen Sender in Eigenregie ins Leben zu rufen, wäre womöglich ohnehin am Veto der Politik gescheitert. Deppendorf glaubt zwar, dass sich das mittlerweile geändert haben könnte, aber in den Kreisen der Medienpolitiker denkt man derzeit eher darüber nach, das Angebot von ARD und ZDF zu verkleinern.“

„Wie muss sich Phoenix weiterentwickeln?“ lautet die Frage, die der Tagesspiegel aus Anlass des Jubiläums stellt, und auch hier wird die Nachrichtensender-Ja-oder-Nein-Frage ventiliert. Was der Spaß derzeit kostet, steht im Text auch:

„Der Jahresetat des Senders umfasst 34 Millionen Euro, das sind 0,5 Prozent des monatlichen Rundfunkbeitrags oder umgerechnet neun Cent.“

Um es mit Hans Hoff (SZ) zu sagen:

„Mit dem Geld bespielen sie in großen Häusern gerade mal den Vorabend, bei Phoenix muss es für 92,5 Planstellen und 24 Stunden Programm reichen.“

Das schönste Bild enthält Hoffs Text - in dem das Thema Nachrichtensender übrigens nicht vorkommt - auch:

„Wo andere rasen, hält Phoenix inne. Notgedrungen. ‚Man kann fliegen oder wandern. Wir sind eher die Wanderer‘, sagt Hirz.“ 

Zuerst an die Wanderer von Phoenix denkt man bei der aktuell von der Badischen Zeitung aufgeworfenen Frage, ob „Gerichtsurteile künftig im Fernsehen übertragen werden sollen“. Sollte das irgendwann passieren, kämen nicht zuletzt die Kollegen vom öffentlich-rechtlichen „Ereignis- und Dokumentationskanal“ zum Einsatz. Den Stand der Debatte aus Richtersicht rekapituliert Christian Rath anlässlich einer Veranstaltung beim Richtertag in Weimar: 

„Die Diskussion (…) offenbarte, dass viele Richter ein eher skeptisches Medienbild haben. Boulevardmedien gehe es nur um den Skandal. Regionaljournalisten hätten oft keine Ahnung vom Strafrecht (…) Vor allem machten sich die Richter aber auch Sorgen um sich selbst. ‚Wir wollen nicht gezwungen werden, vor Kameras zu sprechen‘, sagte ein älterer Richter. Auch mit Blick auf die Organisierte Kriminalität sei es eine Zumutung, mit Namen und Gesicht im Fernsehen zu erscheinen, ergänzte eine Kollegin aus Bremen.“

[+++] Dass heute das neue Album von Josh Tillman alias Father John Misty erscheint, ist eine Nachricht, die hier normalerweise keinen Platz hat. Aber: 

„Es ist ja jetzt schon die Songzeile des Jahres, mindestens: ‚Bedding Taylor Swift / Every night inside the Oculus Rift / After mister and the missus finish dinner and the dishes‘. Virtueller Sex mit Taylor Swift. Mehr ist nicht geblieben vom Internet, der großen utopischen Freiheitsmaschine. Wenn es nach Father John Misty geht“,

schreibt Julian Dörr in der Einleitung eines SZ.de-Interviews mit dem Künstler, und damit sind wir ja dann doch mittendrin in einem typischen Altpapier-Thema. Zumal sich noch folgender Wortwechsel entwickelt:

„(Die) Empörungskultur prägt unsere Zeit. Wir Journalisten versuchen, sie zu reflektieren. Aber wir nähren uns auch an ihr, wir befeuern sie. Deshalb frage ich Sie, Mr. Tillman, was kann ich als einzelner Journalist machen, um diesen Kreislauf zu durchbrechen?“

„Ihr könnt revoltieren! Ihr könnt eure Vorgesetzten stürzen. Ihr könnt eure Verleger entmachten. Das ist wirklich alles, was ihr tun könnt. Go murder your editor. Und ironischerweise wird genau das jetzt das Zitat sein, das ihr über dieses Interview schreibt. Ihr Chef wird sagen: ‚Bringt eure Chefs um? Das wird jede Menge Klicks bringen.‘“

Den Gefallen taten ihm die Kollegen in München dann zwar nicht, aber ich als versierter Klickstricher habe mir, wie man ganz oben sieht, zumindest ein anderes Zitat aus der Passage gemopst.

Dass Father John Misty zwecks Promotion des heute erscheinenden Albums zwei bravouröse Fernsehauftritte hingelegt hat - einen mit dem Rundfunktanzorchester Ehrenfeld im „Neo Magazin Royale“, einen in Stephen Colberts „Late Show“ -, sei hiermit auch noch erwähnt.

[+++] „Gehört der virtuellen Realität im Film und im Journalismus die Zukunft?“ lautet die Ausgangsfrage des instruktiven FAZ-Medienseitenaufmachertextes von Ursula Scheer (Blendle, 45 Cent). Es geht um das Für und Wider der Virtual-Reality-Technik unter medienseitenrelevanten Gesichtspunkten: 

„Filmemacher Chris Milk nannte virtuelle Realität die ‚ultimative Empathiemaschine‘ – die Bezeichnung ist zum geflügelten Wort geworden. VR trägt aber auch das Versprechen in sich, dokumentarisch neutral zu sein wie kein Medium zuvor. Bringt es nicht den Betrachter an den Ort des Geschehens statt eines Reporters, hat nicht der Nutzer ungelenkten Rundumblick? Schon. Aber der Ort, die Zeit und die Protagonisten sind für ihn gewählt. Zugleich muss die Bildregie damit kämpfen, dass kein 360-Grad-Bild rundum Interessantes festhält, sondern viel Störendes und Belangloses. Der optische Beifang macht den Mehrwert, den VR verheißt, schnell zunichte. Wenn man den Betrachter schon in eine aktive Rolle drängt – er muss sich umsehen, um etwas mitzukriegen –, muss sich der Aufwand für ihn auch lohnen.“

Scheer wirft u.a. folgende Frage auf: 

Wie sollen Regisseure auf dramatische Momente fokussieren, wenn sie eine Umgebung für zerstreute Blicke schaffen müssen? Die Angst des Regisseurs vor dem Kontrollverlust hat jedenfalls auch Uwe Flade umgetrieben, als er für Arte ein 360-Grad-Video mit dem Entertainer Friedrich Liechtenstein gedreht hat. Der Clip ‚Tankstelle des Glücks‘ ist das Nebenprodukt einer Serie des Senders und zeigt exemplarisch, wie VR funktionieren kann: Als Zuschauer sitzt man scheinbar neben dem singenden und einen direkt antextenden Liechtenstein auf dem Beifahrersitz seines goldenen Mercedes und rollt durch Berlin, vorbei an der Schaubühne und winkenden Cheerleadern. Ein paar Minuten lang wird das Leben noch überzeugender zum Musical, als wenn man mit Musik in den Kopfhörern durchs wahre Leben swingt. Flade zeigte sein Video auf dem Frankfurter Lichter-Filmfest, das auch eine VR-Abteilung hat und die Frage nach dem ‚Storytelling‘ stellte, und sagte, es sei unfassbar nervenaufreibend, all die Menschen zu dirigieren, die potentiell im Blick sind.“

Näheres über den erstmals ausgelobten „Virtual-Reality-Wettbewerb“ bei besagtem Filmfest steht hier.


Altpapierkorb

+++ In die Reihe der Kritiker des Netzwerkdurchsetzungsgesetzentwurfs reiht sich Marina Weisband ein, die am Donnerstag ihre erste Kolumne für das DLF-Magazin „@mediasres“ abgeliefert hat: „Hass und die Verbreitung von Propaganda sind komplexe soziale Phänomene, die nur gemeinsam zwischen Staaten, Netzwerkbetreibern und Nutzern angegangen werden können. Es braucht soziale Mechanismen, wie man eine vernünftige Umgangsatmosphäre online gewährleisten kann (…) Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz ist der Worst Case von technischen Lösungen für soziale Probleme.“

+++ Das nicht überraschende Ergebnis, dass Arbeitgeberverbände in der Berichterstattung über Tarifkonflikte „besser wegkommen“ als die Gewerkschaften, hat eine Otto-Brenner-Stiftungsstudie von Christina Köhler und Pablo Jost erbracht. M - Menschen Machen Medien schreibt dazu: „(Die) Konzentration auf Konflikt, Negativismus und Betroffenheit zeigt sich besonders in der Berichterstattung der untersuchten Boulevardmedien Bild und Berliner Kurier, aber tendenziell auch bei – vor allem konservativen – Qualitätszeitungen, stellen die Forscher_innen nach einem Vergleich verschiedener Presseorgane fest. dpa berichte am ausgewogensten und bewerte die Tarifparteien gleichermaßen (negativ). Obwohl die liberalen Medien (Süddeutsche, Frankfurter Rundschau, tageszeitung) eher aus der Perspektive der Arbeitnehmer_innen und die konservativen Zeitungen (Welt, FAZ, Handelsblatt) eher aus dem Arbeitgeber-Blickwinkel berichten, werden Gewerkschaften in beiden ‚deutlich negativer bewertet‘, konstatieren Köhler und Jost.“

+++ In der Jüdischen Allgemeinen macht sich Michael Wuliger in Form eines imaginierten Dialogs zwischen dem Chefredakteur und einem Politikredakteur einer Regionalzeitung lustig über die mangelnden Kenntnisse deutscher Journalisten in Sachen israelische Siedlungen.

+++ Wie das hiesige Nazi-Milieu auf das von der Jungen Freiheit groß aufgemachte Interview mit Dunja Hayali reagiert hat, steht bei Belltower News

+++ Die von Zeitungsverlagen aus Bremen und um Bremen herum angedrohte Klage gegen Radio Bremen (Altpapier) haben die Verlagshäuser nunmehr auf den Weg gebracht (dpa/Horizont).

+++ Um die im Herbst 2013 als Zielmarke für 2017 ausgegebene Reichweite von „150 Mio wöchentlichen Nutzern (…) auf allen Plattformen“ zu erreichen, will sich die aus Steuergeldern finanzierte Deutsche Welle, deren Förderung die Bundesregierung erhöhen wiill, „in ihren digitalen Angeboten einen stärkeren Fokus auf emotional ansprechenden Content und auf DW-Profilthemen setzen“. Das hat die Medienkorrespondenz erfahren. Vielleicht sollten sich jene Flitzpiepen, die meinen, mit Formulierungen wie „emotional ansprechender Content“ aufwarten zu müssen, noch einmal das Deutsche-Welle-Gesetz vor Augen führen: „Die Angebote der Deutschen Welle sollen Deutschland als europäisch gewachsene Kulturnation und freiheitlich verfassten demokratischen Rechtsstaat verständlich machen. Sie sollen deutschen und anderen Sichtweisen zu wesentlichen Themen vor allem der Politik, Kultur und Wirtschaft sowohl in Europa wie in anderen Kontinenten ein Forum geben mit dem Ziel, das Verständnis und den Austausch der Kulturen und Völker zu fördern.“

+++ „Die Kölner Komikerin Carolin Kebekus versuchte, Berichte über ihr Privatleben mit allen rechtlichen Mitteln zu verhindern. Die 15. Zivilkammer des Oberlandesgerichts Köln setzte ihr nun eine Grenze: Über eine Ehe dürfen Journalisten berichten, da sie Teil der Sozialsphäre und damit weniger streng geschützt sei als die Privatsphäre - darüber berichtet M - Menschen Machen Medien. Auch Legal Tribune Online geht auf das Urteil ein.

+++ Zum Ausklang was Obskures: Der Musikkritiker Virgil Thomson (1896-1989) muss ein ziemlich bunter Vogel gewesen sein, um hier mal kurz ins allzu Saloppe abzukippen. Jedenfalls: „He gave friends positive reviews, enemies negative reviews, and usually made sure his own music was reviewed by a stringer (occasionally he did it himself). He routinely slept through performances he was reviewing, had a penchant for making sweeping and sometimes perplexing generalizations, and dismissed beloved works and composers with little explanation, which made him seem at times like a dyspeptic, irascible crank“, schreibt New York Review of Books. Anlass des Beitrags: Zwei jeweils mehr als 1.100 Seiten umfassende Bücher mit Thomson-Texten sind gerade erschienen.

Neues Altpapier gibt es wieder am Montag.