Um etwas für die Pressefreiheit in der Türkei zu tun, braucht man nur eine Kreditkarte. Das hat uns aus seiner mittlerweile 51-tägigen Haft gestern Deniz Yücel in Erinnerung gerufen, als er über seine Anwälte erneut einen Brief in die Springersche Tageszeitung Die Welt diktierte:
„Ich habe eine Bitte: Eine der ersten Sachen, die ich in diesem Gefängnis gemacht habe, war, die Tageszeitungen ,Cumhuriyet’, ,Birgün’ und ,Evrensel’ zu abonnieren. Ich lade Sie dazu ein, ebenfalls diese Zeitungen oder eine der wenigen verbliebenen und in jeder Hinsicht unter Druck stehenden unabhängigen Medien zu unterstützen.
Um die E-Paper-Ausgabe der ,Cumhuriyet’, ,Birgün’ oder ,Evrensel’ zu abonnieren, muss man nicht in der Türkei leben. Und um für ein paar Euro einen konkreten Beitrag zur Unterstützung der Pressefreiheit in der Türkei zu leisten, muss man nicht einmal Türkisch können.“
Gleiches gilt für den Abschluss eines solchen Abos online - dafür wurde schließlich der Google-Übersetzer erfunden.
Ein Jahr E-Paper- und Archivzugang zur Cumhurriyet gibt es für 48 Euro hier; die Evrensel können Sie über ihre App für 8 Euro im Monat oder 85 im Jahr bekommen, und auch die Birgün ist per App für 46 Euro im Jahr verfügbar. Bequemer kann man eine Demonstration für Pressefreiheit nicht haben. Erprobt wurde das System schon etwa mit der New York Times unter Trump oder Yücels E-Book „Und morgen die ganze Türkei“ (s. Altpapierkorb ganz unten).
Außer seinen Anwälten durfte gestern erstmals auch ein deutscher Diplomat den Welt-Reporter im Gefängnis besuchen. Die dazugehörige Meldung steht fast überall; zitiert sei hier die Version von Zeit Online:
„Generalkonsul Georg Birgelen besuchte den deutschtürkischen Journalisten im Gefängnis Silivri bei Istanbul, zuvor war ein Anwalt des Generalkonsulats bei ihm. ,Es geht Herrn Yücel den Umständen entsprechend gut’, teilte der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth, später in Istanbul mit. Die Einzelhaft werde von dem 43-Jährigen aber als sehr belastend empfunden. (…)
Roth dankte nun den türkischen Behörden. Der Staatsminister fügte aber hinzu, der Besuch bei Yücel könne nicht der Abschluss sein, sondern die konsularische Betreuung müsse vollumfänglich gewährt werden. Dass Yücel ein kritischer Journalist sei, rechtfertige nicht, ihn zu inhaftieren, sagte Roth. Die Bundesregierung werde sich mit seiner Inhaftierung nicht abfinden. Es handele sich hier um ,eine der großen Bewährungsproben in den deutsch-türkischen Beziehungen’. Die deutsche Seite arbeite zudem daran, dass die Einzelhaft beendet werde.“
Warum es so lange gedauert hat, bis die Türkei den Deutschen Zugang zum Doppelstaatler Yücel gewährte, dröselt bei Zeit Online Çi?dem Akyol auseinander.
Die Welt hat derweil den zitierten Staatsminister Roth noch einmal gesondert interviewt, wobei dieser zunächst sehr, nun ja, diplomatisch argumentiert („Dass es gerade in besonders schwierigen Situationen wichtig ist, miteinander zu reden.“ / „Wir sind der türkischen Seite dankbar, dass dieser Besuch möglich wurde“), sich dann aber doch sehr öffentlich Sorgen um die Rechtsstaatlichkeit der Türkei macht:
„Und dazu gehört ein faires, rechtsstaatliches Verfahren. Da wollen wir uns gar nicht einmischen. Nach unserer Auffassung müsste das aber dazu führen, dass Herr Yücel letztlich auf freien Fuß kommt. Er ist weder ein Spion noch ein Terrorist. (…)
Die Regierung pocht gerne darauf, dass die Türkei ein Rechtsstaat sei. Dieses Bekenntnis ist essenziell. Darum sind wir ja so besorgt, wenn der Präsident noch bevor ein Verfahren gegen Herrn Yücel überhaupt begonnen hat, ihn bereits öffentlich als PKK-Terroristen oder deutschen Spion bezeichnet. In einem Rechtsstaat dürfen auch noch so kritische Journalisten nicht wegen ihrer Arbeit verhaftet werden.“
Und wer sich jetzt fragt: Staatsminister Roth? War da nicht von einem Generalkonsul Birgelen als Besucher Yücels die Rede? Ganz recht. Auf der Meinungsseite der SZ erklärt Mike Szymanski, dass Birgelen Yücel schon betreut und „nicht nur mit Zigaretten, sondern auch mit viel Zuspruch“ versorgt habe, als dieser noch in der Sommerresidenz des deutschen Botschafters und nicht im Gefängnis saß.
„Am Dienstag war Birgelen nun der erste Diplomat, der Yücel im Gefängniskomplex von Silivri besuchen durfte, wo er in Einzelhaft sitzt. Wochenlang hatten die türkischen Behörden das Treffen hinausgezögern, obwohl es Bundeskanzlerin Angela Merkel von höchster Stelle zugesagt worden war. Die Freude darüber, dass die türkischen Behörden sich endlich bewegten, war im Außenamt offenbar so groß, dass es nicht einmal Birgelens Rückkehr abwarten wollte, um den Besuch zu bewerten. Michael Roth, Staatsminister im Amt, erklärte Journalisten schon vorher, in welch einer großen Bewährungsprobe sich das deutsch-türkische Verhältnis befinde. Dabei hätte die Presse sicher gerne mehr aus erster Hand von Birgelen erfahren.“
Bei Ausloten aller diplomatischer Spannungen mit der Türkei scheint also noch Zeit zu sein, sich um den besten Platz vor den Mikrophonen zu rangeln. Werten wir das angesichts der Lage einfach mal als gute Nachricht.
[+++] Nächster Halt, natürlich: Fake News. Während man sich bei den neuen Faktenfindern von der Tagesschau (Altpapier gestern) so langsam warmzulaufen scheint und nach einer eher bräsigen „Fake News im Wandel der Zeit“-Konserve gestern sich heute der Fake-News-Überprüf-Einheit des russischen Außenministeriums annimmt
(„Während das Außenministerium in seinen Anmerkungen zu angeblichen Fake News kaum Fakten liefert und sich in vielen Fällen mit Zitaten von Außenminister Sergej Lawrow und Präsident Wladimir Putin begnügt, werden den Medien reichlich Vorwürfe gemacht.“),
hat Michael Borgers für @mediasres noch mehr über Correctivs Engagement bei Facebook herausgefunden. Dank der Spende der Open Society Foundations (AP gestern) ständen nun fünf Mitarbeiter bereit, um falsche Nachrichten zu orten, wird Correctivs Chef David Schraven zitiert.
„Sollte mehr Geld erforderlich sein, wäre dies wohl auch aufzutreiben. Denn: Jedes Problem könne gelöst werden, und aktuell seien die rund 100.000 Euro ausreichend. Schraven kündigte zudem an, dass bis Mitte April die ersten Ergebnisse der Arbeit für Facebook erscheinen würden, also Warnhinweise, die zweifelhafte Beiträge in dem Sozialen Netzwerk markieren sollen.“
Warum etablierte Medienhäuser gerade Facebook besser nicht helfen sollten, sich das Falschmeldungsproblem vom Hals zu halten, argumentiert hingegen bei Meedia Marvin Schade:
„Die Medien müssen dafür sorgen, ihre eigenen Plattformen frei von erfundenen Fakten zu halten. Oft genug versagen derzeit noch die angewandten Kontrollmechanismen, die es zu reparieren gilt. Facebooks Not können sie zudem nutzen, um ihre Stellung als Anlaufstelle für seriöse Informationen zu stärken. Die unübersehbare Hilflosigkeit der Social Media-Plattformbetreiber zahlt prinzipiell ein auf das Image der freien Presse, ,Qualitätsinhalte’ mit hoher Faktenzuverlässigkeit zu verbreiten.“
Was zerlegen Fake News schneller - Facebook oder die Gesellschaft? So lautete das dazugehörige Sozialexperiment, das ich allerdings lieber erst einmal an Amöben als an lebenden Demokratien getestet wissen wollte.
Eine Simulation, was Entstehung und Verbreitung falscher Nachrichten im Netz angeht, gibt es übrigens mittlerweile, nämlich in Form des Online-Spiels „Fake it to make it“, das heute Yannic Hannebohns Thema auf der SZ-Medienseite ist.
„Der Spieleinstieg ist so einfach, wie es einem reale Website-Anbieter gerne versprechen: Mit ein paar Klicks lässt sich eine Website samt Logo erstellen. Angezeigt werden dem Spieler die aktuellen Zahlen, gemessen in Views, Likes und Shares, und wie viel Gewinn durch Anzeigen er bereits gemacht hat. Um den nach oben zu drücken, muss die Website mit möglichst reißerischen Artikeln bestückt werden. Das Spiel bietet dafür eine großzügige Sammlung, Titel wie ,Den Präsidenten JETZT absetzen!’ oder ,Friedliches Demo-Camp von Polizei brutal niedergefackelt’ oder ,Foto beweist: Reicher Unternehmer tut sich mit Regierung zusammen, um Meinungsfreiheit abzuschaffen’. Hat man einen Artikel ausgewählt, postet man ihn in die richtige Gruppe auf einem fiktiven sozialen Netzwerk, das an Facebook erinnert.“
Erfinderin Amanda Warner aus Ohio möchte uns damit vermitteln, was die Haupttriebfeder für viele Falschmelder ist - nämlich nicht Propaganda, sondern der Wunsch, dank vieler Klicks mit Google AdSense reich zu werden. Diesen Geldhahn zuzudrehen wäre vermutlich wesentlich effektiver im Kampf gegen Falschmeldungen als fünf Mitarbeiter von Correctiv es jemals sein werden. Andererseits möchte man auch nicht, dass sagen wir Recep Tayyip Erdo?an festlegt, welche Medien Werbeeinnahmen erzielen dürfen und welche nicht.
Es bleibt also kompliziert. Aber wir als Fachblatt für die Themen Deniz Yücel und Fake News natürlich dran.
+++ Sie leiden unter Liebeskummer, Fresssucht, Sehschwäche? Die - Überraschung! - Computerspielindustrie kennt da ein bewährtes Hausmittel, nämlich Tetris, und weil Zeitungen so etwas aufschreiben, ist das Thema in der aktuellen Bildblog-Kolumne von Altpapier-Kollege Ralf Heimann. +++
+++ Über den Deutschland-Start von Unzensuriert (Altpapier gestern) berichtet nun auch Matthias Meisner im Tagesspiegel. +++
+++ Damit auch der MDR-Rundfunkrat etwas staatsferner wird, als er bisher ist, muss der Staatsvertrag angepasst werden. Doch die Verantwortlichen beraten darüber eher träge vor sich hin, meldet der Flurfunk aus Dresden. +++
+++ „Persönlich sehe ich die Rolle des Journalismus heute als Filter im Informationsüberfluss, der einen möglichst wertfreien Überblick über die Tagesthemen gibt - zusammen mit einer ethischen Interpretation der Ereignisse. Die größte Bedrohung für den Qualitätsjournalismus sind das fehlende Verständnis dieser Aufgabe und der Mangel an Selbstbestimmung.“ Meint im Interview mit Marc Bartl bei kress.de Vasily Gatov, Vorstandsmitglied der World Association of Newspapers and News Publishers (WAN-IFRA). +++
+++ Ende April startet Thomas Gottschalk bei Sat1 mit „Little Big Stars“ - einer Art abendfüllender Kinderwette - mal wieder ein Comeback im deutschen Fernsehen, und weil gestern der Pressetermin dazu war, berichten nun Meedia und der Tagesspiegel. +++
+++ Schon heute im Fernsehen: Der Spielfilm „Tod einer Kadettin“ mit der anschließenden Doku „Der Fall Gorch Fock – Die Geschichte der Jenny Böken“ im Ersten. „,Tod einer Kadettin’ schildert, wie die Macher ausdrücklich betonen, nicht den tatsächlichen Fall der Jenny Böken und nicht die Gorch Fock, bleibt aber so dicht am wirklichen Geschehen, dass schwer zu trennen ist, was nun Fiktion sein soll und was Wirklichkeit. Die Kadettin heißt Lilly Borchert und das Schiff trägt einen anderen Namen. Und doch erzählt das Drama keine eigene Geschichte, sondern Jennys Geschichte mit Mitteln ganz erheblicher künstlerischer Freiheit – die Frage ist nur, wozu eigentlich?“, meint Joachim Käppner auf der Medienseite der SZ. „Die Stärken des Films liegen in der Entwicklung der Gruppendynamik an Bord. Lilly, die Übereifrige, die nervt, dann aber nicht mithalten kann, wird verspottet und gemobbt. Der unterschwellige Druck der Kameradinnen an Bord ist noch viel verletzender als die meist plumpen Sprüche der männlichen Kadetten. (…) Schwächen zeigt der Film aber immer dann, wenn er den „Tod einer Kadettin“ gegen Ende zum simplen Krimi machen will“, urteilt Torsten Wahl in der Berliner Zeitung. Weitere Rezensionen finden sich etwa auf der Medienseite der FAZ (noch nicht frei online) sowie von der dpa im Hamburger Abendblatt. +++
+++ Deutsche Medien entdecken den kleinen Mann von der Straße (und was ihn bewegt) als Thema: Timo Niemeier hat bei DWDL den Überblick, was genau da derzeit produziert wird. +++
+++ Über ein pixeliges Gesamtkunstwerk, das über das Wochenende auf reddit entstand, berichtet in der FAZ Axel Weidemann. +++
+++ Lange nichts mehr von Snapchat gehört? Adrian Lobe berichtet in der Schweizer Medienwoche vom Nachmachgerangel der Plattform mit Facebook. +++
+++ Dass an Peter Kloeppel auch ein Rapper verloren gegangen ist, beweist Übermedien mit einem lustigen Zusammenschnitt aus 25 Jahren „RTL aktuell“-Moderationen. (Na gut, eher ein Rapper für Senioren-Bingo-Nachmittage. Aber immerhin!) +++
+++ „Wir bieten personalisiertes Lean Back Entertainment“ ist eine Überschrift, die mich persönlich jetzt eher nicht motivierte, auch nur eine Sekunde weiterzulesen. Falls es Ihnen anders geht oder Sie sich trotzdem für Quazer - einen Algorithmus-sortierten Streaming-Dienst für Nicht-Fiktionales - interessieren, lesen Sie das DWDL-Interview mit den Gründern. +++
Das nächste Altpapier erscheint am Donnerstag.