Frühstückstisch ruft Stammtisch
Aber Joachim Gaucks Rede zum Presserats-Jubiläum war erheblich weniger langweilig als sie in den Echokammern der Medienmeldungen oft erscheint. Es ging mal wieder um "Lügenpresse!"-Vorwürfe, denen auch die ARD einen "sehr schmerzhaften" Themenabend widmete. Außerdem: wie die Digitalcharta entstand, frische heftige Facebook-Kritik.

Heute schon über "Lügenpresse" diskutiert? Falls Bedarf besteht: Mindestens zwei tagesaktuelle Diskussionsstränge gäbe es.

Erstens beging der Deutsche Presserat als "eine der ältesten Institutionen der Medienselbstkontrolle in Europa" (presserat.de) gestern seinen 60. Geburtstag mit einem Festakt mitten in Berlin in Anwesenheit des Staatsoberhaupts.

Joachim Gaucks Rede wird breit gecovert in den deutschen Medien. "Gauck weist 'Lügenpresse'-Vorwurf zurück" heißt z.B. der Bericht der Berliner Zeitung, "Diskussion statt Denunziation" die tagesschau.de-Meldung, "Gauck wirft Rechtspopulisten Denunziantentum vor" die Agenturmeldung bei tagesspiegel.de. "Gauck: Wer 'Lügenpresse' sagt, denunziert" steht als erste Überschrift ganz oben auf der FAZ, die ihre zweite Seite dann knapp zur Hälfte mit Auszügen aus der Rede füllt. Und falls Sie denken: Der Mann hat gewiss recht, aber lesen würde ich doch lieber etwas anderes, das vielleicht Neuigkeitswert besitzt ... Stopp.

Es lohnt es sich, die Rede (bundespraesident.de; der Presserat spendiert sie sowie die "Festrede Sprecher des Presserats" zum Download als PDF) integral zu lesen. Zwar mangelt es nicht an altbewährten Wortbausteinen, wie zum Beispiel an sprichwörtlichen Tischen.

"Und was die Medien betrifft: Dass es ihre Aufgabe ist, Überbringer auch von unerwünschten Nachrichten zu sein, bringt sie in eine höchst unkomfortable Lage. Die Tageszeitung auf dem Frühstückstisch eröffnet den ersten Blick hinein in die Welt des Politischen, die bei manchem Leser Misstrauen, Widerspruch, ja, Widerwillen erzeugt. Aus dieser Rolle können die Medien sich nicht befreien",

sagte der Bundespräsident erst mal. Na ja, von der Rolle, auf Frühstückstischen auszuliegen, werden viele Tageszeitungen in ziemlich rasantem Tempo befreit. Es hilft ihnen bloß nichts, im Gegenteil. Zurück zu Gauck:

"Zur Überwindung der Vertrauenskrise in unsere demokratischen Institutionen können Journalisten ihren Beitrag leisten. Und zwar, indem sie weiter ihre Arbeit machen, mit Verstand und Scharfsinn, Offenheit und Vorurteilslosigkeit. Es sind dieselben Fähigkeiten und Talente, die sie auch gegen ihre Verächter in der Hand halten: Es sind schließlich dieselben Talente, die den seriösen Medien am Ende ein Überleben gegen die Konkurrenz digitaler Stammtische sichern werden."

Was zwischen den Worthülsen, die viele Medien-Zusammenfassungen der Rede gerne aufgreifen, untergeht: dass Gauck von den Journalisten zum Beispiel auch noch anderes gefordert hat als die Talente, die sie ständig einsetzen, weiterhin einzusetzen:

"Die Selbstbefragung der Zunft stellt gerade heraus, dass Journalisten auch bei uns zuweilen versucht waren und sind, in die Echoräume des politischen Gleichklangs zu fliehen und Meinungen, die ihnen nicht behagen, oder die sie nicht teilen, abzuwerten oder sogar zu ignorieren. Und dass es auch in Deutschland nicht so einfach ist, strikt die Grenze einzuhalten zwischen Berichten, Aufklären und Belehren ..."

Es gibt in allerhand journalistischen Medien Defizite beim Unterscheiden von Bericht und Kommentar, die oft mit Belehren-Wollen zusammenhängen. Aber diesen Absatz berücksichtigen viele Journalisten, die Gaucks Rede zusammenfassen, lieber weniger.
"Gauck: Journalisten sollen Meinungen, die sie nicht teilen, nicht abwerten" wäre auch eine passende Überschrift gewesen - und hätte neugierig gemacht. Die Bundespräsidenten-Rede enthält allerhand gute Gedanken und übrigens auch Wortschöpfungen ("Medien-Verächter", "Kommunikationsflüchtlinge"), über die sich streiten ließe. Aber wie die meisten Medien sie präsentieren, indem sie sich für Überschrift und Vorspann vor allem rausziehen, was ihnen passt oder sie ohnehin erwartet haben, verleidet das Lesen-Wollen. Schon durch ihre Überschriften schaffen sich viele Medien ihre eigenen Echokammern bzw. -räume (wie der Trendbegriff der Stunde ja lautet). Dafür ist die Presserats-Rede des Bundespräsidenten leider ein gutes Beispiel.

Gute Berichte gibt's etwa in Springers Welt und auf der Medienseite der Süddeutschen. Dort kommt auch die Rede des Presserat-Sprechers vor:

"Der Sprecher des Presserats, Manfred Protze, äußerte sich in seiner Rede auch zum 'Lügenpresse'-Vorwurf: 'Niemand von jenen, die das Kampfwort im Munde führen, hat bisher versucht, in einem ordentlich geführten Prüfungsverfahren beim Presserat den Vorwurf der Lüge, also der Falschberichterstattung, mit Tatsachen zu untermauern.'"

Vermutlich werden "Lügenpresse"-Rufer auch jetzt nicht auf das Instrument des Presserats aufmerksam geworden sein.

[+++] Zum zweiten "Lügenpresse"-Diskussionsstrang: Am Mittwochabend  strahlte die ARD im Rahmen einer ihrer häufigen Ereignis-Programmierungen den "Themenabend Journalistische Verantwortung" aus. Im Anschluss an den Fernsehfilm "Die vierte Gewalt" (Altpapierkorb vom Mi.) talkte Sandra Maischberger früher als üblich, bzw. führte sie "die ständige Auseinandersetzung mit dem Fliegenklatschen-Wort 'Lügenpresse'" (Süddeutsche) im Fernsehen weiter.

"Es war ein sehr schmerzhafter Abend in der ARD nicht nur für all jene, die Journalismus selbst betreiben, sondern auch für diejenigen, die an ihn glauben. Die soll es tatsächlich noch geben. Vielleicht sind es ein paar weniger geworden, denn ins Thema eingeführt hatte das Erste mit dem Spielfilm 'Die vierte Gewalt'. Der rechnet, getarnt als Thriller, auf beinahe propagandistische Weise mit dem ganzen Politiker- und Journalistengesocks in Berlin ab und könnte fortan auf jedem AfD-Parteitag in Dauerschleife laufen",

leitet Ralf Wiegand seine SZ-Besprechung des Fernsehabends ein. Die Talkshow bzw. "die quälende Diskussion und die Begleitmusik dazu im Internet, in ungezählten Kommentaren auf Twitter und Facebook im Sekundentakt", scheinen aber doch das noch größere Übel gewesen zu sein:

"Was sollte bei einer von Journalisten vorbereiteten, von einer Journalistin geleiteten, mit Journalisten besetzten Sendung eigentlich für eine allgemein glaubwürdige Antwort herauskommen auf die Frage, ob man Journalisten noch vertrauen kann? Ja? Lustig. Nein? Noch lustiger. Gar nichts? So war's bei 'Maischberger'."

Dass die Talkshow bereits in Near-by-Echtzeit separat besprochen worden ist, bei sueddeutsche.de und an vielen anderen Stellen mit ähnlichem Tenor ("Da gab es keine Einsichten zu gewinnen. Bis auf die eine: lange Rede, gar kein Sinn", schrieb Michael Hanfeld bei faz.net), dass bei der ARD eher die Besprechungen insgesamt sowie die ungezählten Kommentare auf Twitter und Facebook gezählt und Beleg für Erfolg und Relevanz gewertet werden, versteht sich. So läuft es zurzeit in der Medienlandschaft.

Wo bleibt das Positive? Zum einen ist Wiegands Besprechung ein schönes Beispiel für eine sinnvolle Fernsehabend-Kritik, die über die einzelne Sendung hinausgeht und guckt, was bei Zuschauern (die ja selten sendungsgenau ein- und ausschalten) hängen geblieben sein könnte. Zum anderen ist die Medienseite der Süddeutschen, auf der der Text steht, ein schönes Beispiel dafür, was eine Tageszeitung leisten kann.

Dort steht die Fernsehabend-Besprechung schräg unter dem Text über Gaucks Rede. Beide Texte schaffen einen Kontext für den jeweils anderen und zeigen, wie gründlich und teilweise sehr hilflos die "Lügenpresse"-Diskussionsstränge derzeit verlaufen.

[+++] Damit zur europäischen Digitalcharta von Martin Schulz und einer Menge deutscher Prominenter (Altpapier gestern). Zu Zielen und der Entstehung des diffusen Projekts, das noch zu Lebzeiten Frank Schirrmachers entstand und nun zu Schulz' Wechsel aus der EU-Sphäre nach Berlin öffentlich gemacht wurde, gibt's weitere Details.

"Die Initiative ging auch nicht von Martin Schulz aus, sondern von der Zeit-Stiftung. Mir ist schon klar, dass man das gerade im Moment seiner Rückkehr nach Berlin gerne an Schulz festmachen will. Aber nein, der Entwurf wird jetzt in verschiedenen Foren und Ausschüssen im EU-Parlament diskutiert – dort, wo die gemeinsamen Werte der EU entstehen. Noch einmal, diese Charta ist nur der Anfang einer Diskussion",

beteuert der Grüne Mit-Initiator Jan Philipp Albrecht im gruenderszene.de-Interview so, als würde es für die Charta sprechen, dass sie nicht die Idee eines Politikers, sondern einer Stiftung war.

"Vor etwa einem Jahr erreichte mich eine Einladung von Giovanni di Lorenzo in seiner Funktion als Mitglied des Kuratoriums der Zeit-Stiftung. Ein Treffen, ein ganztägiger Dialog sollte stattfinden zu der Frage, ob es eine Menschenrechtscharta für das digitale Zeitalter braucht",

plauderte mit Johnny Häusler ein weiterer Co-Initiator ("zufrieden mit diesem Entwurf, bei dem sich viele Menschen gewissenhaft und mit ihrer eigenen Expertise eingebracht haben") aus dem Nähkästchen. Und FAZ-Redakteur Hendrik Wieduwilt, der wohl als erster drüber schrieb, zitiert dagegen in seinem faz.net-Blog (mit vielen Links darin) aus dem inzwischen womöglich überholten "Fahrplan" des Vorhabens:

"Voraussichtlich am 05.12.2016 wird Martin Schulz eine Abordnung der Initiatoren mit protokollarischen Ehren im EU-Parlament empfangen. Bitte beachten Sie auch die entsprechende Berichterstattung in den Medien

An demselben Tag findet eine Ausschusssitzung des EU Parlaments statt, bei dem die Abordnung der Initiatoren erklärt, warum wir eine Grundrechte-Charta für das digitale Zeitalter wünschen. ..."

Wobei die entsprechende Berichterstattung in den Medien sich noch in engen Grenzen hält. Allein der unermüdliche Michael Hanfeld kommentiert schon mal auf seiner FAZ-Medienseite, dass die Charta "der Stoßrichtung nach nicht falsch, aber im Zweifel so wolkig formuliert wie ein Gummiparagraph" sei, bevor er überlegt, wie er sie fände, falls Martin Schulz damit Wahlkampf machen sollte.


Altpapierkorb

Meanwhile in Österreich: "Facebook zerstört nicht nur das Geschäftsmodell des Qualitätsjournalismus, Facebook zersetzt mit der Verbreitung von Hass und falschen Informationen auch den demokratischen Diskurs", ließ der Vorsitzende der dortigen Initiative Qualität im Journalismus (IQ), Johannes Bruckenberger von der Nachrichtenagentur APA verlauten und unterstrich damit den vom österreichischen Kanzleramtsminister Thomas Drozda noch deutlicher als von deutschen Kollegen geäußerten Wunsch, Facebook "medienrechtliche Verantwortung" zuzuschreiben (Standard). +++

+++ Bei Spiegel Online (siehe Altpapier gestern) haben sich viiele weitere Hamburger Redakteure der Solidaritätserklärung der Berliner Kollege für Chefredakteur Florian Harms angeschlossen (meedia.de). Meldungen aus der gestrigen Gesellschafterversammlung drangen offenbar noch nicht nach außen. +++

+++ Die TAZ erscheint heute als "taz.mit behinderung" (Titelseite, Artikel-Übersicht). +++ In der TAZ: ein Kommentar Peter Weissenburgers, was Satire darf ("... alles. Sie darf auch ganz tief nach unten treten. Ob das der Satire insgesamt aber gut steht, ist zu bezweifeln"). +++

+++ "Schwarzer Humor bleibt einem immer im Hals stecken. Das muss irgendwas mit einem machen." Sagt Minka Schneider, die pseudonyme Chefredakteurin der deutschen Charlie Hebdo, im TAZ-Interview. +++ Viiiele Besprechungen des Heftes gibt es. Es Sie sei "erstaunlich wenig Satiremagazin", findet Markus Ehrenberg (Tagesspiegel), und: "Vier Euro für 16 Seiten, das ist natürlich ein stolzer Preis. Da wird die Idee mit getragen". +++ Die "vierseitige gezeichnete Reportage darüber, wie Deutsche über ihr Leben in Deutschland und das Deutschsein denken", sei "als Form überraschend und auch inhaltlich überraschend erhellend" (Felix Bayer, SPON). +++
"Gekauft werden sollte 'Charlie Hebdo' denn auch nicht aus reiner Solidarität mit einem Terroropfer. Sondern weil darin möglicherweise immer mal wieder ein Blick auf Deutschland zu erhaschen ist, den es anderswo nicht gibt" (Christian Meier, welt.de). +++ "Umso interessanter wird zu beobachten sein, ob das künftig alle zwei Wochen erscheinende deutsche 'Charlie Hebdo' Leser findet. Mit 200.000 Exemplaren geht es an den Start, mehr, als derzeit in Frankreich wöchentlich vom Original verkauft werden, und mit vier Euro bei identischem Umfang von sechzehn Seiten ist es auch noch teurer. Interessiert uns jedoch ein ernster Artikel über Bauskandale eines französischen Energiekonzerns? ... Das Heft scheint leider eine Totgeburt zu sein. Aber das passt ja auch zum zynischen Mythos um 'Charlie Hebdo'" (Andreas Platthaus, FAZ-Feuilleton). +++

+++ "Ich glaube generell, dass 'Satire' sich irgendwie überholt hat. Früher war alles ganz einfach: Die Schwarzen waren die Bösen, und die Roten die guten - parteipolitisch gesehen. Die Welt ist viel komplizierter geworden. Und meist wirkt der Versuch, einen alleinigen Schuldigen auszumachen und -zulachen verkrampft. Leider auch im Fall von 'Charlie Hebdo'" (Peter "Bulo" Böhling im horizont.net-Interview). +++

+++ Heike Raab zählt als rheinland-pfälzische Medienbevollmächtigte und Staatssekretärin zu den wichtigsten Entscheidern in der deutschen Medienpolitik. Was sie in der Medienkorrespondenz über die Digitalradio-Lage schreibt, die sich hierzulande sehr zäh entwickelt (während in Norwegen analoges UKW-Radio in Kürze abgeschaltet werden wird), steht nun frei online. +++

+++ Dann noch in der TAZ: die neue Presseausweis-Lage. +++

+++ Jörg Seewald war für den Tagesspiegel bei der Münchener Kino-Premiere des neuen RTL-"Winnetou"-Films. Die Musik sei gut, aber "im Buch und in der Auswahl des Winnetou weist die RTL-Verfilmung eklatante Schwächen auf". +++

+++ Wird die ARD die Anzahl ihrer Mitgliedsanstalten reduzieren, wie die Bild-Zeitung neulich meldete? Nein, glaubt auch Ulrike Simon in ihrer Madsack-RND-Kolumne. "Freilich knallt ein schlichtes 'Aus-neun-mach-vier' besser als der ernsthafte Versuch zu analysieren, wie der öffentlich-rechtliche Rundfunk Geld sparen könnte ohne die regionale Identität und programmliche Vielfalt aufs Spiel zu setzen." +++

+++ Wie die türkische Dogan Media Group "Erdo?an und Trump miteinander ins Gespräch" bringt, beschreibt Yavuz Baydar im SZ-Feuilleton ("Türkische Chronik XVIII").  +++ Das FAZ-Interview mit Erol Önderoglu von gestern steht inzwischen frei online. +++

+++ "Praktisch alle von russischen Bürgern stammende Daten, die bei der Internetnutzung anfallen, sollen Eigentum des russischen Staates werden", fordert Natalya Kaspersky, die durchaus etwas mit dem bekannten gleich-nachnamigen Virenschutz-Unternehmen zu tun hat (netzpolitik.org). +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Montag.