Am Beispiel Lichtenfels
Wer in Oberfranken einen Dienstwagen fährt, und warum das wichtig ist. Programmierende College-Kids benötigen dringend mehr Freizeit, um die Sache mit den Falschmeldungen im Netz in den Griff zu bekommen. Der Spiegel-Verlag setzt auf schwärmende Prominente. Unser Kiosk soll schöner werden. Der relevante Alan Posener.

Nicht Washington, nicht Berlin, nicht Hamburg und auch nicht Ankara. Heute beginnen wir mal in Lichtenfels, Oberfranken, 20.000 Einwohner und selbsternannte Korbstadt („Der traditionelle Korbmarkt, die Korbstadtkönigin, Deutschlands einzige Berufsfachschule für Flechtwerkgestaltung, das Innovationszentrum Lichtenfels für Marketing, Design und Technologie, der größte und der kleinste Korb der Welt - in Lichtenfels dreht sich vieles um die uralte Handwerkskunst des Flechtens“ Lichtenfels über Lichtenfels.)

Dort erscheint seit Jahr und Tag 1857 das Obermain-Tagblatt, dessen jüngste Geschichte sich bei Wikipedia so darstellt wie die jüngste Geschichte vieler lokaler Zeitungen:

„Den sogenannten Mantel-Teil, die überregionalen Seiten [...] bezog das Obermain-Tagblatt bis 1. Oktober 2012 vom Ring Nordbayerischer Tageszeitungen (RNT). [...] Am Freitag, 28. September [2012] wurde die letzte OT-Ausgabe in der Rotation Reundorfer Straße gedruckt. Seither wird die Zeitung in Bayreuth hergestellt. Auch die OT-Vorstufe wurde geschlossen. Die Arbeiten werden seither aus Würzburg geleistet. [...] Am 17. Januar 2012 wurde die Belegschaft des Obermain-Tagblatts im Rahmen einer außerordentlichen Betriebsversammlung informiert, dass das Unternehmen von der Mediengruppe Main-Post Würzburg übernommen werde.“

Usw.

Lokalredaktionen wurden geschlossen, Mitarbeiter entlassen – so lässt es sich, um endlich die Kurve zum Aktuellen zu kriegen, auf der Website die-wertschaetzer.info nachlesen. Diese wurde von den gewerkschaftlich organisierten Mitarbeitern des Obermain-Tagblatts ins Leben gerufen, da diese um einen Haustarifvertrag kämpfen.

„Damals waren wir noch knapp 60 Mitarbeiter, heute sind wir keine 25 mehr. Der schrumpfende Personalstand führt zur Arbeitsverdichtung. Anerkennung vom Arbeitgeber? Die Mehrarbeit sollte in einer Abteilung zu einem schlechteren Stundenlohn aufgefangen werden. Zustehende Berufsjahreserhöhungen (Stand 2007) mussten wir in mehreren Gerichtsverfahren durchboxen. Familienfreundlichkeit? Müttern wird verwehrt, ihre Wochenarbeitszeit miteinander zu tauschen…

Es wird aber auch investiert: Obwohl die Mannschaft immer weiter schrumpft, ebenso wie die Zahl unserer Leser-Aktionen, wurde im Führungsteam sogar ein neuer Job geschaffen, Dienstwagen inklusive!“

Weil die selbsternannten Wertschätzer passend zur Website auch noch ein lustiges Homevideo mit einem König („Wer sein Volk nicht ordentlich bezahlt, wer die Rechte einschränkt, wer sein Schreibernetz ausdünnt, dem laufen irgendwann die Untertanen davon. Woher ich das weiß? Aus der Geschichte und von allen anderen Königen, denen das gleiche passiert ist.“) gedreht haben, haben sie gestern kurz ein wenig überregionalmediale Aufmerksamkeit genossen.

Auch in Berlin gibt es Lokalzeitungen, von denen sich eine, so hört man, in Zukunft stärker auf diese Eigenschaft besinnen soll, was jedoch nicht als Investition in Journalismus missverstanden werden darf, sondern als Deckmantel für Stellenabbau und Kürzungen dient (s. Altpapier Ende Oktober).

Von wegen Dienstwagen - bei Berliner Zeitung und Kurier hat das Führungsteam gleich ein ganzes Redaktionsgebäude für sich, schreibt Anne Fromm heute in der taz in Bezug auf die Frage, ob die neu geschaffene Berliner Newsroom GmbH nun eine Neugründung ist oder doch die Fortsetzung der beiden Redaktionen, aus der diese sich speisen soll:  

„Diese Unklarheit führt zu so absurden Situationen wie der, dass die beiden Zeitungen derzeit ohne Chefredakteure sind. Denn die, Jochen Arntz für die Berliner Zeitung und Elmar Jehn für den Kurier, sitzen mit ihrem dritten Chefkollegen, Thilo Knott, bereits in dem neuen Redaktionsgebäude in Kreuzberg. Drei Herren in leeren Hallen.

Unter der Belegschaft läuft derweil eine Art Reise nach Jerusalem, bei der sich 190 Mitarbeiter auf 140 Stellen verteilen dürfen, was man sich so vorstellen kann, aber natürlich kein Kindergeburtstag ist (nochmal die taz):

„Der Verlag spalte die Redaktion in zwei Hälften, sagt Verdi-Sprecher Jörg Reichel, in dem er unter der Hand einigen Redakteuren zusichere, dass sie in der neuen Redaktion dabei seien, anderen nicht. ,Da wird eine ganze Belegschaft gedemütigt.’“

In einem gefühlt ganz anderen Berlin, nämlich dem der Hauptstadtpresse, sitzen auch die Krautreporter, deren Gründer Sebastian Esser aktuell Timo Niemeier von DWDL eigentlich über das Wohlergehen der Crowd-Zeitung berichtet, aber auch sagt:

„,Da haben wir schon eine wichtige Funktion, gerade auch wenn man sich Trump, Brexit und die bevorstehende Wahl in Frankreich anschaut. Wir wollen einen anderen Zugang zu den Leuten finden, die sich da draußen ganz anders verhalten als wir uns das in den Redaktionen vorstellen. Das ist unsere große inhaltliche Herausforderung.’ Man werde daher viel im Land unterwegs sein und mit den Menschen sprechen, vor allem aber wolle man den Austausch mit den Usern verstärken.“

Lebte ich in Lichtenfels, würde ich an dieser Stelle kurz den Kopf auf die Tischplatte schlagen, denn wenn ich auf etwas keine Lust hätte, dann auf Berliner Hauptstadtjournalismus auf Zoobesuch bei den Leuten „da draußen“. Als Journalistin frage ich mich kurz, was das eigentlich für Online-Hansel sind, die es als große Errungenschaft bezeichnen, dass sie für die Recherche hinter ihrem Laptop hervorkriechen. Und als Altpapier-Autorin halte ich fest: Wir sorgen uns um Populismus und antidemokratische Strukturen und ein Auseinanderdriften der Gesellschaft und Falschmeldungen bei Facebook, aber es ist uns völlig egal, dass der nahbare Journalismus vor Ort vor die Hunde geht.

Um eine steile These zu formulieren: Das könnten wir bereuen.

[+++] Von wem wir stattdessen erwarten, dass es uns unsere aktuell aus den Fugen geratene Welt geraderückt: Facebook (Altpapier am vergangenen Dienstag, Mittwoch und Donnerstag). Dass das (a)soziale Netzwerk, wenn es denn wollte, mithilfe von Technik die Verbreitung von Falschmeldungen eindämmen könnte, hat eine Gruppe programmierender College-Kids in der vergangenen Woche bewiesen, als sie das Chrome Add-On „FiB – Lets Stop Living A Lie“ entwickelte.

„Die Software sortiert Meinungsäußerungen aus, um die Tatsachenbehauptungen in einem Artikel freizulegen. Dann sucht sie nach anderen Artikeln über das gleiche Thema, um zu prüfen, ob die Behauptungen zutreffen. Dafür und für seriöse Quellen vergeben wir sogenannte Wahrheitspunkte. Ab einem gewissen Schwellenwert ist der Link verifiziert. Wenn er die Schwelle nicht erreicht, wird er als Fake gekennzeichnet“,

erklärt der 18-jährige Anant Goel heute im Interview mit Thomas Feiler auf der SZ-Medienseite. Und die Geschichte ist noch nicht zu Ende:

„Als Nächstes möchten wir eine Funktion programmieren, die den Nutzer warnt, wenn er dabei ist, einen Link zu einem gefälschten Artikel oder einem manipulierten Foto zu posten. Aber gerade haben wir Prüfungen an der Uni und darum nur wenig Zeit. An den Thanksgiving-Feiertagen wollen wir weitermachen.“

[+++] Derweil im Innovationszentrum eines großen, deutschen Verlagshauses:

„Einen Schwerpunkt bilden gründlich recherchierte und in gewohnter SPIEGEL-Qualität verfasste Hintergrundstücke und Analysen zu gesellschaftlichen Themen für Leserinnen und Leser, die eine ausführliche Print-Lektüre schätzen und Informationen über das alltägliche Nachrichtenangebot hinaus suchen. Kolumnen wie der regelmäßige ,Elder Statesman’-Kommentar des langjährigen SPIEGEL-Autors Thomas Darnstädt liefern Orientierung und Diskussionsstoff. Prominente geben in der Rubrik ,Mein erster Schwarm’ Auskunft über den ersten Star, den sie verehrt haben.“

So informiert der Spiegel-Verlag über sein neuestes Produkt namens Spiegel Classic, das im März 2017 erstmals erscheinen soll.

„Der Spiegel-Geschäftsführer dürfte mit der Zeitschrift nicht so viel erlösen, dass er damit auf Dauer den Umsatzrückgang des Hauptprodukts ausgleicht. Hass muss schon deutlich mehr publizistische Beiboote dieser Art zu Wasser lassen, wenn die Spiegel-Gruppe nachhaltig wachsen soll“,

erklärt dazu Gregory Lipinsky bei Meedia, wo er im Vorfeld eines Gesellschafter-Treffens am 1. Dezember zudem daran erinnert, welche Beiboote für ihren Einsatz bereits im Dock liegen:

„Möglich ist, dass die Anteilseigner endlich grünes Licht für zumindest ein Großprojekt geben, an dem der Verlag bereits seit Jahren arbeitet: der elektronischen Tageszeitung unter den Namen Daily. Seit 2013 ist Spiegel-Reporter Cordt Schnibben mit der Entwicklung der News-App beschäftigt [...]. Auch ein anderes Wachstumsprojekt der ,Agenda 2018’ liegt bislang auf Eis: der Ausbau der englisch-sprachigen Webseite.“

Aber warum ins Digitale investieren, wenn Best Ager eine ausführliche Print-Lektüre schätzen?


Altpapierkorb

+++ „... Schauspieler Florian Stetter, der für seine Rolle in der Serie als bester Hauptdarsteller nominiert war, aber Dustin Hoffman unterlag“ – solche Sätze verdanken wir den International Emmy Awards, die gestern Nacht in New York verliehen wurden. „Deutschland 83“ gewann den Preis für die beste Serie. Neben der bereits zitierten dpa berichtent auch DWDL und Meedia. +++

+++ Dass die Entscheidung des Bundesgerichtshofs, dass die Bundesregierung die Anhörung Edward Snowdens nicht länger blockieren kann, nicht zwangsläufig zu einem Berlin-Besuch Snowdens führen muss, lässt sich wahlweise bei Zeit Online, Netzpolitik.org oder auf Seite 5 der SZ nachlesen. +++

+++ Sport I: Die Handball-Bundesliga wird ab der kommenden Saison von ARD, ZDF und Sky übertragen, und alle Beteiligten sind darüber völlig aus dem Häuschen, dokumentiert Meedia: „,Eine solche Art der Medien-Kooperation, wie wir sie als Öffentlich-Rechtliche in diesem Fall mit Sky umsetzen, hat es bis dato noch nicht gegeben – dies kann zukunftsweisend sein’, sagt Axel Balkausky (ARD-Sportkoordinator) zu der Medienpartnerschaft. Auch Dieter Gruschwitz (ZDF-Sportchef) hält die Zusammenarbeit für ,beispielhaft und richtungsweisend’. Roman Steuer (Executive Vice President Sports bei Sky Deutschland) will gemeinsam ,diesen großartigen TV-Sport in den kommenden Jahren in einer Qualität präsentieren, wie man es zuvor in Deutschland noch nicht kannte.’“ +++

+++ Sport II: Die „Sportschau“ bekommt eine neue Moderatorin. Markus Ehrenberg im Tagesspiegel: „Was weiß man von Jessy Wellmer? Sie ist schon mit dem Fallschirm abgesprungen, mit einem Viererbob gefahren und hat mit dem Biathlongewehr geschossen. Sportreporterin war nicht ihr Kindheitstraum. (...) Mittlerweile ist sie, über den RBB hinaus, in der Sportberichterstattung der ARD keine Unbekannte, führt bei Fußball-EM, Olympia- und Biathlon-Übertragungen Sportlerinterviews, immer etwas kühl, nicht unbedingt bemüht um Süffisanz.“ +++

+++ Deutsche Haushalte sind noch nicht vorbereitet auf die Umstellung auf DVB-T2 im kommenden Frühjahr! Es informiert, ebenfalls im Tagesspiegel: Joachim Huber. +++

+++ „Wenn das so weitergeht, haben bald mehr Menschen Simon Verhoevens Flüchtlingskomödie ,Willkommen bei den Hartmanns’ gesehen als im vergangenen Jahr nach Deutschland gekommen sind.“ Ursular Scheer nimmt das zum Anlass, sich auf der FAZ-Medienseite darüber Gedanken zu machen, was man daraus für die Integration im echten Leben lernen kann. +++ Zudem geht es auf der Seite um die Autobiographie wie Trump-Enhüllung „Settle for more“ der Fox-News-Moderatorin Megyn Kelly sowie die Doku „Erdogan – Im Rausch der Macht“, die heute Abend auf Arte läuft (und schon online steht). +++

+++ Die US-amerikanische Serienbesprechung der SZ heute: „Atlanta“. Jürgen Schmieder: „Earn hat sein Studium an der Elite-Universität Princeton abgebrochen, kehrt nach Atlanta zurück und gibt nun für 5,15 Dollar pro Stunde am Flughafen den Kreditkarten-Verkäufer. Er will keine Villa, keinen teuren Champagner und auch keine Goldketten an Hals und Händen. Was er will: die Miete zahlen, seine Tochter auf eine anständige Schule schicken und deren Mutter ab und zu in ein Restaurant einladen, ohne seine Freunde anbetteln zu müssen. Er will nicht groß rauskommen. Aber er will einfach nicht mehr so klein sein wie bisher. Das ist der afroamerikanische Traum im 21. Jahrhundert.“  (Darüber, dass Schmieders Afroamerikaner-Assoziation Villa, Champagner und Goldkettchen beinhaltet, sollte man auch mal sprechen.) +++ Außerdem rezensiert Franz Kotteder die BR-Doku „Vom Lieben und Sterben“, die einen durch einen Autounfall gelähmten Musiker begleitet. ++

+++ In seiner Übermedien-Kolumne arbeitet sich Mats Schönauer diesmal am Yvonne-Bauer-Zitat „Faktencheck ist bei uns, wie überall in der Branche, journalistischer Alltag“ ab. #postfaktisch +++

+++ Ein vor lauter Diskussion über Digitalisierung völlig unberücksichtigter Faktor mit Innovationsbedarf gefällig? Der Kiosk! Meint zumindest Monocle-Verleger Tyler Brûlé in der aktuellen Kress-Pro-Ausgabe, dankenswerterweise online angefeatured. +++

+++ Ebenfalls bei kress.de: Alan Posener zu Bülend Ürük: „Wer sagt denn, dass alle relevanten Journalisten in der Atlantikbrücke sind? Ich bin nicht drin, und ich bin doch auch relevant. Man muss nicht jeden Scheiß wiederholen, den ein Udo Ulfkotte in die Welt setzt. Es gibt übrigens keinen Konsens in wesentlichen Dingen. Wie kommen Sie darauf?“ (Thema des Interviews: Pressefreiheit.) +++

+++ Zum Abschluss für heute bietet Bento die dringend benötigte Gelegenheit, zu testen: „Welcher TV-Sender bist du?“ Bitteschön, gern geschehen. +++

Neues Altpapier gibt es Mittwoch wieder.