Wer es nicht besser weiß, könnte glauben, die taz wolle mit ihrer Titelseite heute den Wettbewerb um das lokalzeitigste Foto aller Zeiten gewinnen. Viele Menschen sind darauf zu sehen, manche schauen in die Kamera, andere haben die Augen zu, und einige haben Zettel mit Buchstaben in der Hand, die sich zu „Cumhuriyet’i kurtar?n“ ergänzen. Was eben nicht „Umgehungsstraße jetzt“ oder „Wir brauchen unsere Postfiliale“ heißt, sondern „Rettet die Cumhuriyet“ bzw. „Rettet die Republik“. Letztere Übersetzung wurde freundlicherweise als Schlagzeile eingefügt.
„Am Montagmorgen in der Redaktionskonferenz der taz ging es auch um andere wichtige Themen – um Rentenpolitik, um Biolandwirtschaft und deutsche Investitionen in China. Jeden Tag sortiert eine Zeitung nach ihrer eigenen Logik Themen und Ereignisse. Aber der Putsch gegen eine Zeitung, der wir uns verbunden fühlen, sprengt diese Logik. Man erahnt, was Pressefreiheit wirklich bedeutet. Das geht uns nahe. Und deshalb titeln wir in dieser Tageszeitungsausgabe mit einem Zeichen der Solidarität“,
erklärt im Kommentar unterm Bild Chefredakteur Georg Löwisch.
Am anderen Ende des Spektrums steht das Thema auch bei der FAZ auf dem Titel, mit „Kritik an Festnahme von Journalisten in der Türkei“ weniger pathetisch, doch die insgesamt fünf Artikel in der Ausgabe belegen, dass die Ereignisse von gestern Morgen auch diese Redaktion getroffen haben.
Zur Erinnerung (Christian Buttkereit aus dem ARD-Studio Istanbul bei tagesschau.de):
„Polizeikräfte stürmten am frühen Morgen die Redaktion der ,Cumhuriyet’ in Istanbul. Das renommierte Blatt ist eine der ältesten Zeitungen der Türkei und zählt zu den wenigen übrig gebliebenen regierungskritischen Medien. Durchsucht wurden auch die Wohnungen führender Mitarbeiter. Unter anderem führte die Polizei den Kolumnisten Aydin Engin ab. Ein Reporter, der die Szene beobachtet, fragte Engin, ob er wisse, warum er festgenommen werde. Dieser entgegnete: ,Ich arbeite für die 'Cumhuriyet'. Ist das nicht Grund genug?’“
Insgesamt 14 Mitarbeiter der Zeitung wurden verhaftet, ihr im deutschen Exil lebender, ehemaliger Chefredakteur Can Dündar zur Fahndung ausgeschrieben. Die offizielle Begründung der Staatsanwaltschaft für diese Aktion liefert Rainer Herrmann in der FAZ (S. 2):
„In ihrer Erklärung heißt es, die Zeitung habe unmittelbar vor dem Beginn des vereitelten Putschversuchs vom 15. Juli einen solchen Putsch zu legitimieren versucht, die Wahl zum Vorstand ihrer Stiftung sei irregulär verlaufen, und die Zeitung ,Sponsor’ der ,Terrororganisationen’ der Gülen-Bewegung und der PKK.
Die Staatsanwaltschaft versuchte nicht einmal zu verdecken, wie absurd diese Behauptungen klingen. (...) Zudem gehört es zum Standardrepertoire der türkischen Staatsanwaltschaften zu behaupten, dass Wahlen ,irregulär’ verlaufen seien.“
Warum genau die Vorwürfe so absurd sind, erklärt der ehemalige Hürriyet-Redakteur Bülent Mumay auf der FAZ-Medienseite (nicht frei online; 0.45 € bei Blendle) an mehreren Beispielen, u.a. folgendem:
„2008 klingelte es eines Morgens bei Ilhan Selcuk, dem damals 83 Jahre alten Chefredakteur der Zeitung, die in jenen Jahren eine links-kemalistische Linie verfolgte. Vor der Tür stand die Polizei. Selcuk wurde im Rahmen der sogenannten Ergenekon-Operationen festgenommen, einer Intrige der Gülenisten gegen das Militär. Man warf ihm vor, ,Putschvorbereitungen unterstützt’ zu haben. Acht Jahre ist das her. Die gülenistischen Beamten in Polizei und Justiz, die ihn als angeblichen Putschisten festnahmen, sitzen heute wegen Beteiligung am Coup vom 15. Juli im Gefängnis. Damals warfen die Gülenisten der ,Cumhuriyet’ vor, einen Putsch vorzubereiten, heute heißt es, sie habe den Putschversuch der Gülenisten unterstützt.“
Man kann nicht alles haben? Wenn man dieser Tage Präsident der Türkei ist, offenbar schon.
Einen weniger spezifischen Überblick über die Geschichte der Zeitung liefert Fatma Aydemir in der taz, wo auch zu erfahren ist, dass die von Mumay angesprochene redaktionelle Linie zuletzt aufgeweicht wurde. Unter Bezug auf das Redaktionsstatut („Cumhuriyet ist eine unabhängige Zeitung. […] Cumhuriyet wird gegen jede Kraft, die versucht, die Ideen und Realitäten der Demokratie zu untergraben, Widerstand leisten. Cumhuriyet wird stets den durch Atatürks Revolution erlangten Weg des Laizismus verteidigen und sich bemühen, ihn in der Gesellschaft zu verankern.“) schreibt sie:
„Mit diesem Bekenntnis steht Cumhuriyet politisch der linkskemalistischen CHP nahe, die nach der AKP zweitstärkste Partei im türkischen Parlament – und stand auch häufig in der Kritik der jungen Linken, die das Meinungsbild von Cumhuriyet für einseitig und überkommen hielt. Mit dem Anfang 2015 neu ernannten Chefredakteur Can Dündar und dem Neuzugang vieler Autor*innen zeichnete sich zuletzt allerdings ein zunehmender Meinungspluralismus ab, der bei sensiblen Themen wie dem Kurdenkonflikt oder dem Armeniergenozid neue Töne zuließ.“
Von diesem Weg wollen sich die Autoren auch nicht durch die aktuellen Verhaftungen abhalten lassen, erklärt Cumhuriyet-Kolumnist Özgür Mumcu im Interview mit Michael Hanfeld wiederum in der FAZ:
„Die Redakteure, die noch nicht verhaftet wurden, sind fest entschlossen, weiterzumachen. Aber wir wissen nicht, ob die Regierung als nächstes einen Zwangsverwalter für die Zeitung ernennt. Das würde praktisch die Schließung der Zeitung bedeuten. Auf diese Weise ist die Regierung schon bei einer ganzen Reihe von Zeitungen vorgegangen.“
Und weiter:
„Ich denke, es gibt einige Mitglieder der Regierung, die nicht glücklich über das Vorgehen sind, und über die Reaktionen, die es in anderen Ländern heraufbeschwört. Erdogan wiederum dient der Protest nur dazu, seine Anhänger davon zu überzeugen, es gebe eine gigantische internationale Verschwörung gegen die Türkei. Auf lange Sicht aber wird es sich auszahlen, dass die Welt nicht vergisst, was in der Türkei vor sich geht.“
Immerhin das kann aus deutschsprachiger Sicht gesagt werden: An Kritik an den Verhaftungen mangelt es nicht. Eine Übersicht von Martin Schulz über dju bis zu den Reportern ohne Grenzen wurde hier nebenan zusammengetragen. Letztere haben auf ihrer Website selbstredend auch ein eigenes Statement veröffentlicht, aus dem nur dieser Satz zitiert sei:
„Auf der Rangliste der Pressefreiheit lag die Türkei bereits vor dem Putschversuch und der anschließenden Ausrufung des Ausnahmezustands auf Rang 151 von 180 Staaten.“
Bleibt die Frage, was solche Bekenntnisse bringen? Ein weiterer Mitarbeiter des ARD-Studios Istanbul, Reinhard Baumgarten, formuliert beim Deutschlandfunk eine ziemlich klare Meinung:
„Der Westen zählt nicht. Das sind Worte von Recep Tayyip Erdogan. Gesprochen am vergangenen Samstag, am Gründungstag der Republik. Vier Worte, die des türkischen Präsidenten Haltung treffend auf den Punkt bringen. Wir führen die Todesstrafe wieder ein, der Westen meckert - aber er zählt nicht. Wir machen 160 Zeitungen, Sender, Verlage und Medienhäuser dicht, der Westen mahnt - aber er zählt nicht. Wir setzen demokratisch gewählte Bürgermeister ab, schmeißen 100.000 Staatsdiener raus, sperren 40.000 Menschen ins Gefängnis, bauen Justiz und Polizei um, der Westen ist besorgt - aber er zählt sowieso nicht.“
Doch es soll ja in dieser so-called globalisierten Welt Möglichkeiten geben, sich zählend zu machen. Denn (ohne jetzt zu tief in der bereitstehenden Vergleichs-Kiste, gefüllt mit u.a. deutscher Geschichte, verschwinden zu wollen): Mit den Verhaftungen von Journalisten hört es normalerweise nicht auf.
+++ Aktuell und FAZ-exklusiv: Gema und Youtube haben sich geeinigt. Michael Hanfeld: „Sie schließen eine freiwillige Vereinbarung, mit der sich Youtube verpflichtet, Abgaben an die Gema zu zahlen. Das Videoportal informiert die Gema über Abrufzahlen und leistet entsprechende Zahlungen, welche die Gema dann an ihre Mitglieder weitergibt. (...) Über die Summe, die pro Videoabruf fällig wird, haben die Gema und Youtube Stillschweigen vereinbart.“ +++
+++ „Anstatt dem Sonderberichterstatter ein Musterrecht zu bieten, das als gutes Beispiel für andere Länder dienen könnte, hat die Bundesregierung etwas geschaffen, das mehr als enttäuschend ist.“ So urteilt der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Privatsphäre über das neue BND-Gesetz. Es berichtet (wer sonst?) Netzpolitik.org. +++
+++ „For several months this year, the Montreal police department was surveilling the iPhone of La Presse columnist Patrick Lagacé to determine the identity of his sources. The SPVM had also been able to locate Lagacé with the GPS. At least 24 surveillance warrants for the phone were granted by the court in 2016, at the request of the special investigations section, La Presse has learned“, berichtet die Montreal Gazette. Via @Snowden. +++
+++ Frustrierende Einblicke in den deutschen Lokalzeitungsalltag bietet beim Deutschlandradio Kultur ein ehemaliger Volontär einer Zeitung aus dem Schwäbischen. Sein Fazit: „Ich entscheide, zu gehen. Nicht weil mir nichts am Lokaljournalismus liegt – denn das tut es. Aber ich will nirgends bleiben, wo die Zukunft in der Vergangenheit liegt.“ +++
+++ Dirk von Gehlen möchte gerne einen Brauchtumsverein für Menschen mit der Heimat Internet gründen, und wer das auch möchte, kann sich hier in eine Liste eintragen und vielleicht später mal Kassenwart werden. +++
+++ Was „Tatort“-Fans vermutlich schon wissen: Die Deutsche Kinemathek in Berlin zeigt ab heute die Sonderausstellung „1000 Tatorte – Alle Filme. Alle Fälle“. Den dazugehörigen dpa-Bericht („Neben allen ,Tatort’-Folgen können Fans in der Berliner Schau auch einige ausgewählte Requisiten aus der Serie sehen. Ausgestellt ist eine blutbefleckte Schimanski-Jacke, die Götz George trug.“) gibt es u.a. beim Hamburger Abendblatt. „Mehr Museum, mehr Musealisierung geht kaum“, urteilt Joachim Huber im Tagesspiegel. +++
+++ Die Funke Mediengruppe hat mal wieder Synergieeffektsmöglichkeiten ausbaldowert und nennt sie „Kompetenzzentrum Gesundheit“. „Die neue Redaktionseinheit produziert qualitativ hochwertige Inhalte für die Programm- und Frauenzeitschriften in Hamburg und München sowie für die Gesundheitsportale (z.B. lifeline.de, gesundheitsberatung.de)“, heißt es in der Pressemitteilung. Für Meedia hat Marvin Schade nachgefragt, wie viele Redakteure dafür wieder entlassen werden, aber keine Antwort erhalten. +++
+++ Warum es durchaus eine Rolle spiele, den Rundfunkbeitrag um 30 Cent zu senken (oder eben nicht), argumentiert Stefan Niggemeier bei Übermedien. +++
+++ Für Zapp fragt sich Hendrik Maaßen, warum Springers Welt in Form von Ulf Poschardt eigentlich so freundlich mit den aktuellsten Ausfällen Günther Oettingers umgeht, und ob das etwas mit dem Leistungsschutzrecht auf europäischer Ebene zu tun haben könnte. +++
+++ Zum Streit Alan Posener versus Johannes Boie versus Liane Bednarz (Altpapierkorb am Freitag) gibt es bei Spiegel Online jetzt auch eine Meinung von Jan Fleischhauer. +++
+++ „Stattdessen entpuppte sich ausgerechnet der umstrittene Unternehmer Carsten Maschmeyer als Sympathieträger des Formats. Das wurde möglich, weil bei Vox in all den Wochen in bester Xavier-Naidoo-Tradition kein kritisches Wort über Maschmeyers frühere Geschäftstätigkeiten zu hören war. Aber eben auch, weil der Investor von Beginn an die Gelegenheit nutzte, sich als väterlich-wohlwollender, ja geradezu fürsorglicher Ratgeber zu inszenieren, der selbst harte Kritik an den oft unerfahrenen Unternehmern stets freundlich zu verpacken weiß.“ Alexander Krei bei DWDL über den Quotenerfolg der heute zu Ende gehenden Staffel „Höhle der Löwen“. +++
+++ „Astrid Maier war gerade als Stipendiatin in Stanford. Beim Skypen haben wir uns über die Verleihung eines deutschen Wirtschaftsjournalistenpreises unterhalten. Da standen mal wieder nur Männer in Anzügen auf der Bühne und wurden von Männern in Anzügen geehrt. Auch in der Jury saßen hauptsächlich Männer in Anzügen. Darüber haben wir uns geärgert“. So erklärt Susanne Amann im Interview mit Anna von Garmissen bei kress.de die Gründung von Dverse Media – eine Branchenplattform für mehr Diversität im Wirtschaftsjournalismus. +++
+++ „Netflix has been best known for US commissions such as House of Cards and Stranger Things, but its move into British costume drama demonstrates the changing nature of the television industry where the BBC faces increasing competition from better resourced and more nimble international rivals. With a running cost of around £5m an hour, the Crown compares with films such as The King’s Speech rather than the typical £1m-per-episode drama budget at the BBC or ITV.“ Der Guardian über das bedrohliche Potential der neuesten Netflix-Serie „Crown“. +++
+++ Wer die SZ vermisst: In Bayern begeht man heute Allerheiligen mit einem Feiertag. +++
Das nächste Altpapier erscheint am Mittwoch.