Kein Pardon
Die ultimative Frage für Politikjournalisten ist da. Youtube möchte mehr über Jean-Claude Junckers Hund wissen. Die Washington Post wünscht sich keine Gnade für Edward Snowden. Bauer macht jetzt Bento für Männer. Verrentete Chefin der ARD müsste man sein.

Sie sind Politik-Journalist? Sie haben einfach keine Lust mehr, sich für jedes lausige Politiker-Interview nach irgendeiner dieser ewig auftauchenden neuen Entwicklungen eine neue Einstiegsfrage zu überlegen? Sie brauchen etwas Beständiges, vielseitig Verwendbares und zu allen Anlässen Passendes? Voilà:

„Wie erleichtert sind Sie?“

Bereits erfolgreich getestet wurde diese Formel am Sonntagabend im Rahmen der Berliner Wahlberichterstattung von Bettina Schausten an Michael Müller sowie gestern nach dem SPD-Konvent von Rainald Becker an Sigmar Gabriel.

Den etablierten Ritualen entsprechend birgt diese Frage den Vorteil, dass sie eine konkrete Beantwortung gar nicht erlaubt („Also, auf einer Skala von 1 bis 10 fühle ich mich so mittelgut erleichtert. Ne solide 7, sag ich mal“, hört man eher nicht), sondern als Stichwort völlig ausreicht für Politiker, die dann eh sagen, was sie wollen – etwa sich bei den Wahlkampfhelfern bedanken und fast sieben Prozent Verlust als klaren Gewinn darstellen. Womit der aus Politikern an einem Wahlabend herauszukitzelnde Erkenntnisgewinn zusammengefasst wäre.

(Einschub: In anderen Bundesländern könnte noch ein Politiker-Rücktritt als Nachricht hinzukommen, aber nicht in Berlin; siehe dazu auch ab Minute 0.30 das schon jetzt zum Klassiker zu erklärende Interview von Thomas Roth mit Frank Henkel in den „Tagesthemen“:

Henkel: „Meinen Teil der Verantwortung nehme ich auch an.“

Roth: „Das heißt, sie treten zurück?“

Henkel: „Das heißt, ich bleibe im Amt.“

Das war am Sonntagabend.)

Das müsste aber nicht so sein, meint Stefan Niggemeier bei Übermedien. Ihn stört an der Frage nicht nur ihre Inhaltsleere, sondern auch die Uhrzeit, zu der sie gestellt wurde.

„Das Problem ist, dass auf der Grundlage dieser naturgemäß unzuverlässigen Prognosen und früheren Hochrechnungen der größte Teil der Wahlberichterstattung im Fernsehen stattfindet. Alle tun so, als stünde um 18 Uhr das Ergebnis fest. Es wird ein großer, unsichtbarer Schalter umgelegt, und Politiker werden nicht mehr gefragt, womit sie rechnen und was sie im Falle eines bestimmten erwarteten Wahlergebnisses tun werden, sondern wie sie das vermeintlich tatsächliche Wahlergebnis beurteilen. (...)

Ich weiß, dass es eigentlich unvorstellbar ist, dass die Wahllokale um 18 Uhr schließen und die ausführliche Wahlberichterstattung erst um, sagen wir, 20 Uhr beginnen könnte. Aber vielleicht können wir es trotzdem einmal kurz versuchen und festhalten, wie irrwitzig das ist, was stattdessen stattfindet?“

Haben wir nun. Die bisheringe Praxis bleibt aber selbstverständlich, um Frank Henkel zu zitieren, im Amt. 

[+++] Immerhin, und dies ist die gute Nachricht, können die Schaustens und Beckers im öffentlich-rechtlichen Rundfunk fragen, was sie wollen. Wer hingegen über Youtube sendet und dort etwa den EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker interviewt, wie es ein paar Youtuber in der vergangenen Woche taten (Altpapier), dem ergeht es anders. 

„Birbes, a blogger from the outskirts of Paris, told French news website Rue 89 she was ,assured’ by YouTube that she was free to ask any question, but that a representative from the video site suggested she ask Juncker questions such as ,What is happiness?’ and for details on his vintage Nokia phone and dog ,Plato.’ (Politico

Hendrik Obelöer erklärt sich das bei Netzpolitik.org wie folgt:

„Dass YouTube Einfluss nehmen wollte, muss im größeren Kontext betrachtet werden: Gleich in mehreren Bereichen droht es zum Streit zwischen der EU und YouTubes Mutterkonzern Alphabet zu kommen. Zu nennen sind beispielsweise der Vorstoß der Kommission, Steuervermeidungstricks zu bekämpfen oder der Plan, ein europaweites Leitungsschutzrecht einzuführen, das bereits ,Google-Gesetz’ genannt wurde. Dass YouTube und Google einen guten Eindruck bei Juncker hinterlassen wollen, sollte deswegen nicht überraschen.“

Eklig ist diese Art der Lobby-Arbeit trotzdem.

[+++] Apropos: Was sich auch deutsche Verleger von der EU wünschen und Günther Oettinger in der vergangenen Woche mit einer Reform des Urheberrechts in Aussicht gestellt hat, wird von Julia Reda - eine der Piratinnen, die ihren Job noch hat, nämlich im Europaparlament - bei Zeit Online auseinandergenommen.

„Die Politik scheint auf wirtschaftliche Probleme in der Kreativwirtschaft nur eine Antwort zu kennen: Verschärfungen des Urheberrechts. Wer die Problemanalyse vernachlässigt, scheitert aber so katastrophal wie das Leistungsschutzrecht in Deutschland und Spanien. Die Kommission tut dem Qualitätsjournalismus keinen Gefallen, wenn es dieses Projekt auf EU-Ebene weiterführt.“

Lösungsansätze für die Medienkrise sieht sie, aber wo anders:

„Europaweit einheitliche Regeln im Urheberrecht für Zitate, Parodien oder Panoramafreiheit könnten Redaktionen vor Abmahnungen schützen. Ein europäischer Whistleblower-Schutz wäre eine willkommene Stärkung des investigativen Journalismus, damit in Fällen wie LuxLeaks nicht wieder die Aufdecker des Skandals vor Gericht stehen. Eine Senkung des Mehrwertsteuersatzes auf digitale Publikationen würde die Verlage finanziell unterstützen und die Entstehung neuer Geschäftsmodelle befördern. Es gibt viele Ideen, um den Journalismus in der digitalen Welt zu stärken, ohne die Kommunikationsfreiheit im Netz zu behindern. Man muss es nur wollen.“

[+++] Hat da gerade jemand Whistleblower-Schutz gesagt? Dem derzeit wohl bekanntesten möchte ausgerechnet die Washington Post, die einst die Enthüllungen Edward Snowdens mit publizierte, diesen nicht gewährt wissen. In einem Leitartikel vom Wochenende argumentiert die Redaktion:

„No specific harm, actual or attempted, to any individual American was ever shown to have resulted from the NSA telephone metadata program Mr. Snowden brought to light. In contrast, his revelations about the agency’s international operations disrupted lawful intelligence-gathering, causing possibly ,tremendous damage’ to national security, according to a unanimous, bipartisan report by the House Permanent Select Committee on Intelligence. What higher cause did that serve?“

Daraufhin erwartungsgemäß hoch auf der Palme: Glenn Greenwald bei The Intercept.

„If the Post editorial page editors really believe that PRISM was a totally legitimate program and no public interest was served by its exposure, shouldn’t they be attacking their own paper’s news editors for having chosen to make it public, apologizing to the public for harming their security, and agitating for a return of the Pulitzer?“

Für eine Begnadigung Snowdens durch Barack Obama auf seinen letzten präsidialen Metern haben sich hingegen als andere an der Veröffentlichung beteiligte Zeitungen die New York Times und der Guardian ausgesprochen. Dort argumentiert Trevor Timm gegen die Post und für Snowden:

„Instead of dumping a mass of documents on the internet, he gave them to experienced national security reporters who worked at some of the most respected news outlets in the country. He relied on their judgments about what was in the public interest. And those reporters allowed the government to make objections (some of which they listened to) tied to national security concerns. (...) The House intelligence committee did not point to a single concrete example of how national security was harmed solely by the Snowden disclosures.“

Die aktuell so präsente Bedrohung durch Terroristen scheint bei der Post eine große Begeisterung für nationale Sicherheit auszulösen und nebenbei Verantwortlichkeiten und Zusammenhänge zu verklären. Auch das keine schöne Entwicklung im an nicht schönen Entwicklungen aktuell nicht armen Journalismus.


Altpapierkorb

+++ In Split beginnt heute der Prozess gegen Dragan Vasiljkovic, Anführer einer serbisches Miliz, die 1991 im Kroatienkrieg den SZ-Journalisten Egon Scotland erschoss. „Der bis heute ungesühnte Mord an Egon Scotland ist zum Sinnbild für die Gewalt gegen Journalisten geworden, mit der viele moderne Kriegsherren das Recht der Öffentlichkeit auf unabhängige Informationen brutal bekämpfen“, erklärt Geschäftsführer Christian Mihr auf der Webiste der Reporter ohne Grenzen. +++

+++ ARD-Vorsitzende Karola Wille wird einst das durchschnittliche Jahresgehalt freier Journalisten als Rente erhalten, und zwar im Monat. Das steht u.a. bei faz.net. +++

+++ Eine Art Bento für Männer scheint das neue Bauer-Angebot Maennersache.de darzustellen. Alexander Becker hat es sich für Meedia angesehen, während Armin Fuhrer für kress.de noch einmal das Zeit Magazin Mann bespricht, mit schönen Erkenntnissen wie dieser: „Am Ende, wenn man das Heft durchgelesen beiseite gelegt hat, ergibt sich ein stimmiges Bild: Es gibt verschiedene Artikel wie die Titelgeschichte über den Schauspieler Christoph Waltz (...), die Janssen-Geschichte oder auch der Text über Baron Bodo von Bruemmer“. Ein Magazin mit verschiedenen Artikeln zu unterschiedlichen Themen? Crazy shit! +++

+++ Das Fachblatt für US-amerikanische Serien, aka Medienseite der SZ, berichtet heute ausführlich über die Emmy-Verleihung. Außerdem gibt es Rezensionen der RTLII-Serie „Neandertaler“ („Alles ist ein bisschen over the top: die Charaktere, die Story, die Dialoge. Und trotzdem will man den Versuch nicht richtig schlecht finden“) sowie der MDR-Doku „Der Osten. Entdecke, wo Du lebst“ über Hoyerswerda („Aus diesen zusammengesammelten und mangels Zeit nur oberflächlich erzählten Einzelaspekten entsteht leider keine Geschichte, keine verlässliche Erzählung einer Gegenwart“). +++

+++ Die FAZ-Medienseite widmet sich derweil „Navy CIS“ („Aber ob die erfolgreiche Serie, die von einer Gruppe Kriminalermittler der amerikanischen Marine-Polizei NCIS (Naval Criminal Investigative Service) in Washington handelt, mit der nun beginnenden vierzehnten Staffel auch den Verlust eine ihrer wichtigsten Figuren verkraftet?“) sowie dem vermeintlichen ARD-Heimatfilm „Bergfried“ („Großvater Stockinger ist nicht der schützende Bergfried, wie der Turm in der Mitte einer Burg heißt. Opa war ein Nazi. Zumindest glaubt der Fremde (Fabricio Bucci), ein Italiener um die vierzig, der nicht zufällig Salvatore heißt, ihn als solchen wiederzuerkennen. Vor diesem Hintergrund nehmen die Geschichten vom Unkraut und den Blumen, dem braunen Vogel und dem von den Juden ans Kreuz geschlagenen Christus einen anderen Klang an.“). +++

+++ Es ist zwar befremdlich, wenn ausgerechnet Meedia sich über zu aufgeregten Journalismus beklagt. Aber wie ein Prozess gegen eine Falschbehauptung über den Gesundheitszustand Michael Schumachers mal wieder die Focus Onlines dieser Welt auf den Plan ruft, ist wirklich übel. +++

+++ „Die Boys and Girls von der Stadt stehen hinter den Boys und Girls, die dort dancen. Danke für euren Support“ – so klingt das jugendliche Radio-Bremen-Angebot Bremen Next (Altpapier), und das sei gut so, erklärt Programmdirektor Jan Weyrauch bei kress.de. +++

+++ „Die ,Datteltäter’ gehören zu einer Gruppe von 22 deutschen Youtubern, die ihre Bekanntheit für die Initiative #NichtEgal einsetzen, die am Montag in Berlin mit einem gemeinsamen Video gestartet wurde. Die Google-Tochter Youtube will damit erreichen, dass die Nutzer des Videodienstes den Hassreden im Internet etwas entgegensetzen.“ (Kurt Sagatz, Tagesspiegel). +++

+++ Dass die Hassrede eine Kulturgeschichte vorzuweisen hat, beweist, dass sie schon länger existiert als die sozialen Netzwerke. Darüber schreibt bei Carta Sprachphilosoph Paul Sailer-Wlasits. +++

+++ „Im Iran gibt es starke Zensur der Medien, das gibt es in Afghanistan nicht. Hier geht die Einschränkung der Medien von der Bedrohung der Journalisten aus. Der Staat unterstützt auch einige Medien, in diesen wird aber nie von schlechter Politik oder Korruption zu hören sein. In Afghanistan gibt es trotzdem eine sehr breite Medienlandschaft.“ So berichtet der geflüchtete afghanische Journalist Hamed Reza Qarizada bei futurezone.at über Medienlandschaft und –anschluss in seiner Heimat. +++

+++ Schweiz I: Der Schweizer Journalismus werde durch das dortige neue Nachrichtendienstgesetz bedroht, meint Gabriel Gasser in der Medienwoche. „Zum einen scheuen potenzielle Whistleblower aus Angst aufzufliegen immer mehr den Kontakt zu Medienschaffenden und zum anderen müssen diese technisch komplexe Sicherheitsvorkehrungen treffen, um den Schutz ihrer Quelle überhaupt noch garantieren zu können.“ +++

+++ Schweiz II: Die NZZ leistet mehr für das Gemeinwesen als die Publikationen der Blick-Gruppe, hat nun eine Studie herausgefunden. Die NZZ lobt sich daher selbst und veröffentlicht schöne Grafiken. +++

+++ Schweiz III: Der Vollständigkeit halber, um ja keinen Ausschlag der Aufgeregtheitskurve zu verpassen: Die NZZ überlege, beim Standard einzusteigen, meldete gestern der österreichische Kurier. Der Standard dementierte. +++

Das nächste Altpapier erscheint am Mittwoch.