Informationsüberangebot
Ein hoher Neueinstieg in die Top Ten der Medienwissenschaftler-Beiträge. Die Zeitungen mit den größten Schlagzeilen rücken enger zusammen (Schalten Sie Werbung, solange sie noch elf Millionen Leser erreichen!). Welche neuen Challenges und Feigenblätter RTL beim gesetzten Dinner mit kuratiertem Starkoch-Menü bekannt gab. Wo die Kultur bleiben könnte. Außerdem: welche renommierte Einrichtung Rundfunkbeitragszahler künftig (ohne Beitragserhöhung!) auch noch mit unterstützen. Und Doro Bär ist wieder da (in der Digitalradiodebatte).

Mangel an Medienwissenschaftlern oder dass diese mit gutem Rat zum laufenden Medienwandel geizen würden, zählt zu den geringsten Problemen der deutschen Medien. Dennoch verdient heute ein Beitrag eines Studiengangsleiters von der Hochschule namens BiTS (deren Name nur solange possierlich oder sogar nach Understatement klingt, bis die Abkürzung zu "Business and Information Technology School" aufgelöst wurde) Aufmerksamkeit. Andreas Moring schreibt bei horizont.net:

"In einem Wettbewerbsumfeld, das durch ein Informationsüberangebot und extrem niedrige Zahlungsbereitschaften geprägt ist, ist es aber notwendig von vornherein passend produzierte Inhalte und Services anbieten zu können, die sich von der Vielzahl der anderen Alternativen wirklich unterscheiden."

Und das schreibt er nicht etwa, um angesichts des Informationsüberangebots gleich "zehn zentrale Trends" (wie horizont.net sie in der Randspalte kontext- bzw. clickbaitsensibel noch mal aus dem Sommer '15 rauflädt) aus dem Ärmel zu ranken. Sondern als Nebensatz in einem konzentrierten Beitrag, der tatsächlich einen einzelnen guten und gar nicht so schwer umzusetzenden Ratschlag an Redaktionen entwickelt: Sie sollten den

"Versuch ..., redaktionell alle vorhandenen und potenziellen Kunden aus einer Organisation heraus mit Angeboten zu bedienen",

bleiben lassen oder wieder aufgeben. Denn "gemeinsame Contentpools bzw. Newsrooms", aus denen heraus sowohl Onlineportale, die schnell sein sollen, als auch hinterher hinkende Zeitungen befüllt werden, führten zu Unzufriedenheit aller unterschiedlichen Nutzer/ Leser, lautet Morings Argument. Unter den zehn wichtigsten Beiträgen deutscher Medienwissenschaftler 2016 sollte dieser Artikel sich in den letzten vier Monaten des Jahres locker halten können.

[+++] Wie umgehen mit der Gemengelage aus Informationsüberangebot und Zahlungsunterbereitschaft? Dazu kommen zum Start in den Herbst, beim Fernsehen sagen sie: Saison, wieder diverse Ansätze um die Ecke.

Erst mal die Zeitungen: Sie rücken "noch enger zusammen", wie meedia.de die Idee der neuen Vermarktungsallianz, in der "alle relevanten deutschen Boulevardtitel gebündelt werden, auf den Punkt bringt.

Angeführt wird diese Allianz gattungsnaturgemäß von Axel Springer, dessen Bild-Zeitungs-Vermarktern sich die Vermarkter von DuMonts Kölner Express, Ippens Münchener tz und der Dresdener Morgenpost anschließen. "Werbetreibende mit nationalem Werbeinteresse" können dann "mit einer einzigen Buchung mehr als elf Millionen Leser erreichen", teilt die Springer-PM mit. Eigentlich müssten die Boulevard-Füchse noch ein "Schnell!!" dazuschreiben, denn zwei, drei MAs später dürfte die ohnehin arg theoretische Zahl ("... Gesamtauflage von 2,42 Millionen und einer Gesamtreichweite von mehr als elf Millionen Lesern") kaum mehr zu erreichen sein. So schnell, wie die verkauften Auflagen sinken, können Marktanalysten die angebliche Gesamtleserzahl schwerlich steigen lassen. Doch das Angebot startet erst 2017, und das Bundeskartellamt, das den globalen Medienwandel selten in den Blick nimmt, enge deutsche Teilmärkte aber oft gründlich, muss noch zustimmen.

Auf einen Aspekt, der dabei eine Rolle spielen wird, macht Horizont-Chefredakteur Uwe Vorkötter aufmerksam: Auch noch jung und unbekannt ist die deutsche Zeitungsverlage-Werbeallianz namens "Score Media", die mit "einer Print-Auflage von fast 9 Mio. Exemplaren ... rund 25 Mio. Leser pro Tag in ganz Deutschland" zu erreichen verspricht (Stand: April); zu den 23 dort versammelten Verlagen zählen auch die drei, die nun parallel mit dem bei Score Media nicht engagierten Springer-Konzern kooperieren.

"Insofern wäre es eine naheliegende Option gewesen, auch die Boulevardkombi hier anzusiedeln. Allerdings bewegen sich die regionalen Boulevardtitel in einem besonders schwierigen Marktumfeld",

daher folgen sie lieber der Bild-Zeitung, meint Vorkötter. Schließlich wird die Bild-Zeitung vermutlich bis zum Ende der Mediengattung gedruckte Tageszeitung die relativ meisten Exemplare absetzen wird.

[+++] Der Boulevardzeitung geht's mau, das Boulevardfernsehen gedeiht. RTL hat am Dienstagabend am Rande Hamburgs, "in der früheren Medienhauptstadt" (wie der Berliner Tagesspiegel scherzt; aber wer ist denn die neue, Joachim Huber: München oder doch Köln?), sein Programm für die nächste "Fernsehsaison" vorgestellt. Viele Journalisten waren dabei, ich auch, und berichten heute.

"Es wird weiter angezogen getanzt, nackt gebalzt und weiter gecastet, dass ein offenkundiges Recycling fast modern wirkt: 'Winnetou'. Mit dem Remake könnte gelingen, was Massenware und Scheinrealität sonst untergraben, Relevanz nämlich",

legt der Tsp. kritische Distanz zum Bertelsmann-Sender an den Tag. Thomas Lückerath (dwdl.de) legt Wert auf klassischen Formen und erwähnt gleich im ersten Satz seines ausführlichen Berichts, dass RTL zu "einem gesetzten Dinner" einlud.

"Ein bisschen ähnelt das RTL-Programm damit der Candy Bar, an der sich die eingeladenen Journalisten nach dem von TV-Koch Christian Rach kuratierten Menü die Zellophantütchen mit Fruchtgummi vollmachen konnten: eine kunterbunte Mischung, viel Auswahl, aber die meisten Produkte nichts wirklich Besonderes – und bei übermäßigem Konsum ungesund",

spitzt der Lebenskünstler David Denk (Süddeutsche, unfrei online) zu.

Wobei anwesende Journalisten aber nicht verpflichtet waren, sich Zellophantütchen vollzumachen. Konkret zu erwarten sind bei RTL also z.B.: "Physical-Gameshows" oder sogar "Physical-Challenge-Shows" mit Trampolinen, nackte sog. Promis (vgl. die Meldung auf sieben Online-Seiten in Dumonts Nicht-Boulevard-Medien) und eher bekleidete Prominente, die "die größten Momente der Popgeschichte" virtueller Realität sei Dank "wie im Originalset" der Musikvideo-Clips oder Kinofilme nachtanzen. Sowie sechs Pilotfolgen zu deutschen Serien "aus den Genres Medical, Crime, Legal und Dramedy" (weiterer dwdl.de-Beitrag), in denen u.a. ein Kleinkrimineller die Identität seines verstorbenen Zwillingsbruders, eines Kripobeamten, übernimmt, und ein ganz anderer Kleinkrimineller "durch Zufall in die Soutane eines Priesters schlüpft - und sich plötzlich in der Rolle des Gemeindepriesters wiederfindet". Als Feigenblätter fungieren weiterhin Günter Wallraff sowie jetzt auch Lutz Hachmeister, der einen RTL-Dokumentarfilm zu Wallraffs 75. Geburtstag 2017 vorbereitet.

[+++] Ja, wo bleibt denn die Kultur?

Beim ZDF im Internet. Das zumindest hätte das ZDF gerne, und weil es anders als fast alle anderen nicht unter niedrigen Zahlungsbereitschaften leidet, plant es erstens

"den Aufbau einer Online-Kulturplattform"

und will zweitens

"einen 'Innovationsfonds' ein...richten, der mit einem Betrag in siebenstelliger Höhe ausgestattet wird".

Das berichtet Christian Meier in seinem welt.de-Blog von "einem Produzententag". Dabei handelt es sich um den "zweiten Produzententag" (ZDF-PM), den die Anstalt für ihre Auftragnehmer, "mehr als 250 Produzentinnen und Produzenten", veranstaltete und überhaupt nutzte, um viele Zahlen springen zu lassen, etwa dass sie jedes Jahr "nahezu 600 Millionen Euro" an rund 500 solcher Produktionsgesellschaften vergibt.

Vor dem Hintergrund solcher neunstelligen Summen, die ganz besonders in innovationsfreie 90-minütige Fernsehkrimis fließen, relativiert sich der Innovationsfonds-Betrag wieder. Aber die Kulturplattform-Idee klingt sinnvoll:

"'Das ZDF plant, die vielfältigen Kulturinhalte des Hauptprogramms sowie der Digital- und Partnerkanäle in seinen Onlineangeboten zu bündeln und damit leichter zugänglich zu machen.' Für das offenbar noch namenlose Angebot würden demnach also keine eigenen Sendungen produziert, sondern lediglich bestehende Kulturformate des ZDF und der Sender ZDFneo, ZDFinfo, 3sat, Arte und KiKa neu zusammengestellt."

Dass viele relavante und gute Fernsehproduktionen deshalb verpuffen, weil sie im linearen Fernsehen halt in die einschaltquotenoptimierten Programmschemata mittelrelevanter und -guter Sender eingepasst werden, ist schließlich eine der Facetten des Informationsüberangebots. Eine zusätzliche andere Form der Präsentation könnte, falls sie wirklich zusätzlich kommt und nicht der weiteren Einschaltquotenoptimierung dient, helfen zu zeigen, was öffentlich-rechtliches Fernsehen trotz aller Kritik auch zustande bringt.


Altpapierkorb

+++ Noch 'ne gute Nachricht für Beitragszahler: Ab kommendem Jahr unterstützen sie (ohne noch mehr zu bezahlen!) mit ihrem Rundfunkbeitrag auch das renommierte Grimmeinstitut in Marl, das immer die bekannten Fernsehpreise vergibt! Das hatte die rot-grüne nordrhein-westfälische  Landesregierung im Rahmen ihrer Budget- und Posten-Umstrukturierungen beschlossen. Die Details und viele Zahlen stehen nun frei online bei der Medienkorrespendenz. (Und Seitenhiebe darauf, dass "das Grimme-Forschungskolleg, dessen Gründung das Grimme-Institut und die Universität Köln Ende 2014 bekannt gegeben hatten", und das sich "mit aktuellen Fragen digitaler Kommunikationskulturen und der Rolle der Medien in gesellschaftlichen Wandlungsprozessen auseinandersetzen" wollte, "mit inhaltlichen Positionen ... bisher nicht aufgefallen" ist, sondern nur mit vermutlich kostentreibenden Personalien, sind auch entthalten). +++

+++ Außerdem fiel die rot-grüne nordrhein-westfälische Medienpolitik kürzlich damit auf, dass sie den digitalen Radiostandard DAB+ überraschend totzureden begann, obwohl er zuvor doch von allen Seiten schöngeredet wurde. Heute auf der FAZ-Medienseite hält Dorothee Bär, Staatssekretärin in Alexander Dobrindts Autobahnministerium, kraftvoll dagegen: "So ziehen wir im Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur mit Rheinland-Pfalz ebenso an einem Strang wie mit meinem Heimatland Bayern, dessen auch für Privatsender attraktive Medienpolitik Siegfried Schneider in einem Debattenbeitrag hier schon beschrieben hat. Sicherlich wird sich eines Tages auch Nordrhein-Westfalen dagegen entscheiden, die einzige analoge Enklave im Rundfunkland Deutschland zu bleiben. Allen Beteiligten möchte ich daher zurufen: Packen wir es an! Und denen, die gegen die Verbreitung von DAB+ kämpfen, sage ich: Sie können es verzögern, Sie können es uns schwerer machen, aber verhindern werden Sie es nicht." +++

+++ Hardboiled ("Die Architektur von Facebook ist ein Code – der verblüffend einfach ist. Ich hab ihn runtergeladen und dann den Like-Button auf meinem Account umbenannt in Fuck. Fortan habe ich nichts mehr ge-liked, sondern nur noch alles ge–fucked"), tief pessimistisch ("Dieses Unternehmen wird noch lange existieren. Die haben eine grosse Vision. Ich glaube, dass die EU zum Beispiel langfristig gegen Facebook kapitulieren muss") und lesenswert: das Interview mit dem Facebook-Dissidenten Antonio García Martínez, Autor des Buchs "Chaos Monkeys: Obscene Fortune and Random Failure in Silicon Valley", das Das Magazin aus der Schweiz geführt hat. +++

+++ "Der Spiegel lag, anders als mein Vater, in den letzten fünf Jahren mit seiner Syrien-Berichterstattung fast immer daneben. Anfang 2012  hatte der Spiegel den Sturz Assads für 'übermorgen' voraussagt. Meinen Vater hatte er, wegen dessen Einschätzung, der Syrienkrieg sei ein Stellvertreter-Krieg und unter den Oppositionellen befänden sich auch Terroristen, als 'Verschwörungsfreund' betitelt. Leider hat der Verlauf des Krieges meinem Vater und nicht dem Spiegel Recht gegeben ..." (differenzierter Frederic-Todenhöfer-Beitrag bei meedia.de nach dem juristischen Erfolg seines Vaters Jürgen gegen den Spiegel). "Und dann schrieb auch noch Spiegel-Redakteur Jan Fleischhauer, den wir eigentlich schätzen, nach Erscheinen des Buches meines Vaters über den IS, einen überraschend hämischen Artikel. Mit teilweise grotesk falschen Behauptungen. Auf unsere erstaunte telefonische Nachfrage sagte er, dass er das Buch gar nicht gelesen hatte." +++

+++ "Unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen" werden in Griechenland vier Fernseh-Lizenzen versteigert. Das sind deutlich weniger als bislang genutzt wurden. Hintergründe schildert Ferry Batzoglou in der TAZ. +++

+++ Die Einführung eines EU-weiten Leistungsschutzrechts für Presseverleger mit einer von Schutzdauer von "20 (!) Jahren ..., eine für Nachrichtenerzeugnisse geradezu absurd lange Frist", ist nur einer unter vielen Punkten, die Leonhard Dobusch bei netzpolitik.org am geleakter Entwurf der EU-Urheberrechtsrichtlinie kritisiert. Das "schlimmste an dem Kommissionsentwurf" seien aber "die zahlreichen Punkte, die fehlen." +++

+++ "Die virtuelle Realität und vergleichbare Trends bescheren uns eine weitere Möglichkeit mitzuerleben, was andere Menschen erleben – darum investieren ja Facebook und Google so gezielt in diese Technik. Wir alle sollen mehr Teilhabe an unseren Leben möglich machen können. Aber keine Angst: So wie es Texte auch nach dem Gutenberg-Zeitalter gibt, so wird es nach der virtuellen Realität weiterhin die Wirklichkeit geben" (Jeff Jarvis in einer Sonderbeilage von Springers Welt; er geht dabei auch auf "Pokemon Go"-Kritik Franz Josef Wagners und Slavoj Žižeks ein ...). +++

+++ "Eigentor?" betitelt die SZ-Medienseite ihren zweiten Artikel über die neue, von einem Solaranlagen-Hersteller finanzierte Tele 5-Sitcom. Vielleicht hat ihr erster neulich die bayerischen Medienwächter darauf aufmerksam gemacht, die nun einen Verstoß gegen den Rundfunkstaatsvertrag wittern. +++

+++ Das defintive Überangebot von Artikeln über den neuen Homer-Simpson-Synchronsprecher arrondieren die Medienseiten der SZ und des Tsp.. +++

+++ Noch auf der FAZ-Medienseite: eine Ursula-Scheer-Glosse über Umbenennungen ("... der strauchelnde Energieriese RWE gibt seinen Töchtern Namen, die Kindern von amerikanischen Celebrities alle Ehre machen würden. Innogy und Amprion, da wäre Kim Kardashian nie drauf gekommen. Und auch die Öffentlich-Rechtlichen machen mit. Einsfestival? Der Sender sollte dem gemeinsamen Jugendangebot ARD und ZDF weichen. Nun wird der Spartenkanal in 'One' umgetauft, und alles ist gut ..."). +++ Sowie die Meldung, dass sich der erwähnte Günter Wallraff für die Freilassung von Asli Erdogan engagiert ("Ihre Festnahme sei leider 'kein Einzelfall, aber ein besonders krasser Fall', sagte Wallraff, sie stehe für absolute Friedfertigkeit und für das 'Gegenteil von alldem, wofür sie jetzt in Haft genommen wurde'"). +++

+++ Und Sascha Lobo plädiert bei SPON angesichts des "Konfrontationshagels" für die verloren gegangene "Kunst, nur den halben Weg mitzugehen". +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.