Lange nicht mehr pessimistisch gewesen? Dem können wir gern abhelfen - mit einem Hinweis auf ein erfolgreiches Falschmeldungs-Geschäftsmodell aus Kanada, ausgeheckt von Yaman Abuibaid (16) und Dare Adebanjo (19). Hot Global News heißt ihre Website, mit der sich aktuell t3n befasst (Erstveröffentlichung: Online Marketing Rockstars) und die vor drei Wochen auch schon mal bei Buzzfeed ein Thema war. Der „Durchbruch“, schreiben OMR/t3n, gelang den Teenagern „mit Politik“, und zwar folgendermaßen:
„Im Oktober 2015 schreibt Abuibaid, dass Kanadas Ministerpräsident Justin Trudeau die Legalisierung von Marihuana fordere. Die Geschichte ist komplett erfunden, er schreibt sie in zehn Minuten runter und verdient am nächsten Tag über 900 US-Dollar mit Adsense-Anzeigen auf seiner Seite – mittlerweile verdienen die beiden nach eigenen Angaben teilweise 3.000 US-Dollar am Tag.“
„Für Nutzer, die etwa von Facebook auf die Seite kommen, (wird) kaum ersichtlich, dass es sich um Fake-Storys handelt (…) Besonders gefährlich wird das, wenn Minderheiten für Fake-News herhalten müssen. Hot Global News schrieb etwa über einen als Flüchtling getarnten Terroristen, der es nach Kanada geschafft hatte – auch diese Geschichte ist erfunden.“
Mit der zumindest teilweise links-aufklärerisch motivierten Satire à la Postillon hat diese Art von Textproduktion also rein gar nichts zu tun. Abuibaid und Adebanjo haben aber auch nichts gemein mit jenen Desinformationsstrategen, die gerade jene Falschmeldung produziert haben, über die derzeit am meisten geschrieben wird. Die rechte Website End the Fed (die Nicht-Verlinkung an dieser Stelle ist natürlich beabsichtigt) verbreitete vor einigen Tagen eine Falschmeldung über die liberale Fox-News-Moderatorin Megyn Kelly, die vor allem deshalb breit kursierte, weil sie bei Facebook in den Trending Topics landete (siehe etwa CBS News) - was wiederum nur möglich wurde, weil Facebook das 26 Mann starke Team, das für die dieses in Deutschland nicht verfügbare Angebot zuständig war, entlassen hat, um die Auswahl Algorithmen zu überlassen (siehe Altpapier von Dienstag).
Dass Facebook die Auswahl der Trending Topics nun einem „Roulettekessel” anvertraut (Jonathan Zittrain, Rechts- und Computerwissenschaftsprofessor in Harvard, gegenüber The Atlantic), wirft neue juristische Fragen auf. Die sind auch aus deutscher Sicht interessant, obwohl wir hier, wie gesagt, bisher noch nie Trending Topics zu sehen bekommen haben - und es vielleicht schon deshalb nie werden, weil der Service bald eingemottet wird (wie einer der gerade von Facebook Entlassenen im Gespräch mit Digiday vermutet). The Atlantic schreibt im gerade erwähnten Beitrag:
„Thanks to Facebook’s help, the Kelly fabrication eventually racked up more than 200,000 likes. But here is a chicken-and-the-egg problem: As soon as a story starts ‚trending‘, even if only several thousand people are talking about it, it immediately appears in front of millions of eyeballs. This brings it a lot of attention that it would otherwise never receive—especially now that Trending seems to favor certain URLs and not certain generic topics (…) In other words, even if the fake Megyn Kelly story was already popular, Facebook brought extra juice to it by trending it. Did it commit libel against her? Or did it liberate itself of liability when it let the roulette wheel handle everything?“
Es läuft also auf die Frage hinaus, ob ein Algorithmus jemanden verleumden kann. Auf diese Frage antwortet nun Professor Zittrain:
“I think the direct answer to your whimsical question is that you’re not off the hook by just having made it random or by having it not literally come from your brain (…) It’s still entirely possible to defame someone. If The New York Times came out with a headline that was generated by a magic 8-ball, or by manatees pushing balls around, and they published it, they would still be defaming someone.”
Auf Facebooks Maschine-statt-Mensch-Maßnahme gehen heute auch die Medienseiten von SZ und FAZ ein. Benedikt Frank (SZ) meint, Facebook beweise „unabsichtlich, dass Algorithmen keine Neutralitäts-Garanten sind“. Und Adrian Lobe schreibt in der FAZ:
„Dass die Auswahl von Nachrichten an Maschinen delegiert wird, ändert nichts an der Tatsache, dass es hier um eine redaktionelle Entscheidung geht. Facebook betont zwar permanent, wie wichtig es dem Konzern sei, einen perfekt personalisierten Newsfeed für seine Nutzer zusammenzustellen. Das Ergebnis der automatisierten Auswahl ist bislang aber erratisch. Facebooks Algorithmen sind der Aufgabe nicht gewachsen.“
[+++] Aus sehr vielen Gründen ein Facebook-Kritiker ist bekanntlich Evgeny Morozov, der auf Zuckerbergs Firma auch in einem aktuellen Riemen für die NZZ eingeht.
„Der Erfolg von Silicon Valley ist zur Großen Erzählung des zeitgenössischen Kapitalismus geworden. Zur Rhetorik der Rebellion gegen mächtige Interessengruppen tritt nun auch die Saga von der sozialen Mobilität, welche die neuen Technologien den weniger Privilegierten verschaffen (…) Facebook behauptet, den Armen in Brasilien und Indien Zugang zum Internet ermöglichen zu wollen.“
Es geht in dem Text aber vor allem ums große Ganze:
„Unsere Unfähigkeit, den aufs Internet fixierten Tunnelblick aufzugeben, macht es uns schwer, Konzepte wie ‚sharing economy‘ zu dechiffrieren. Sehen wir da einen genuinen, kooperativen Postkapitalismus entstehen – oder ist es nur eine potenzierte Variante des guten alten Kapitalismus, der alles zur verkäuflichen Ware macht? (…) Die eigentlich interessante Frage ist aber letztlich nicht, ob das Internet nun Individualismus oder vielmehr Gemeinschaftlichkeit und Kooperation fördert (und auch nicht, ob es Diktatoren unterminiert oder ihnen zusätzliche Macht verschafft). Sie lautet vielmehr: Warum stellen wir ‚dem Internet‘ überhaupt derart gewichtige Fragen – als wäre es eine eigene Wesenheit, völlig losgelöst aus dem Kontext der Weltpolitik und des heutigen, stark auf den Finanzmarkt ausgerichteten Kapitalismus? Solange wir nicht außerhalb des Internets denken können, wird es uns nie gelingen, klarsichtig und genau Bilanz über die digitalen Technologien zu ziehen, mit denen wir umgehen.“
[+++] Einige Menschen, die, um Morozov aufzugreifen, viel Zeit dafür aufwenden, innerhalb des Internets zu denken, haben derzeit „Grund zu feiern“. Das findet zum Thomas Lohninger, Geschäftsführer des Arbeitskreises Vorratsdaten Österreich, und das finden auch andere Netzaktivisten. Anlass für die gute Stimmung in diesem Milieu sind die Leitlinien für Netzneutralität, die das EU-Gremium Berec am Dienstag vorstellte. Laut Torsten Kleinz (Zeit Online), der Lohninger zitiert,
„stellten die Regulierer klar, Spezialdienste dürften in keinem Fall die Kapazitäten für den undiskriminierten Internetzugang einschränken und auch nicht in Konkurrenz zu bestehenden Internetdiensten stehen“.
Teresa Sickert (Spiegel Online) führt aus:
„Internetdienste wie Spotify oder Netflix können den Regeln zufolge keine bevorzugte Datenleitung bei einem Provider einkaufen, wenn sie beispielsweise in ihren AGB einfach festlegen, dass ihr Dienst eine erhöhte Qualitätsanforderung hat. Auch die Provider dürfen nicht beliebig Überholspuren an Internetdienste verkaufen. Für die Nutzer bedeutet das wohl, dass sie solche Dienste auch weiter nutzen können, ohne für eine bessere Datenübertragung draufzahlen zu müssen. Außerdem dürfen Spezialdienste nicht wie im ursprünglichen Entwurf vorgesehen zu Lasten der Bandbreite der Nutzer gehen.“
Alles andere als pathosfrei kommentiert Markus Beckedahl (netzpolitik.org):
„Es zeigt sich, dass sich ein langer Einsatz für Offenheit und Grundrechte im Netz lohnen kann und man nicht zu früh aufgeben sollte! Das ist ein Sieg der europäischen Zivilgesellschaft, die sich gegen die Lobby-Armeen der großen Telekommunikationsunternehmen durchsetzen konnte.“
Skepsis ist aber auch nicht verkehrt, wie wir dem letzten Absatz des bereits erwähnten Zeit-Online-Artikels entnehmen:
„Für Lohninger ist die Auseinandersetzung um die Netzneutralität insgesamt noch nicht zu Ende. So befürchtet er, dass die Provider Internetanbieter auf andere Weise zur Kasse bitten könnten.“
[+++] Haben Sie mittlerweile „alle Burka-/Burkini-Selbstversuchsartikel“ in den deutschen Medien gelesen? Titanic-Chefredakteur Tim Wolff hat es getan und sich kurz bei Facebook dazu geäußert. Zumindest sehr viele hat Margarete Stokowski gelesen. In ihrer Spiegel-Online-Kolumne schreibt sie, warum Selbstversuche diverser Reporterinnen mit Niqab oder Burkini - in die Tat umgesetzt für so unterschiedliche Medien wie das Flensburger Tageblatt oder „Galileo“ - letztlich nicht mehr sind als „Journalistinnen-Fasching“. Stokowski meint:
„Die Frage ‚Wie fühlt man sich als Autofahrer?‘ würde man als Nichtautofahrer am ehesten beantworten, indem man viele verschiedene Autofahrer fragt oder einen Führerschein macht und dann eine Weile Auto fährt - und nicht, indem man eine einzelne Fahrstunde nimmt und feststellt, wie kompliziert so eine Gangschaltung ist. Aber beim Nikab oder Burkini gelten andere Regeln.“
Daran lässt sich direkt anschließen mit einem „Zwischenruf“ der Juristin Seda Basay-Yildiz, den die SZ auf der Feuilleton-Aufmacherseite veröffentlicht hat:
„Mit Erstaunen nehmen insbesondere in Deutschland lebende Musliminnen zur Kenntnis, dass über sie gestritten wird, ohne dass sie in diese Diskussion mit einbezogen werden.“
Dass sie „mit Erstaunen“ reagieren und nicht mit Resignation, stimmt mich zumindest ein bisschen optimistisch. Basay-Yildiz schreibt weiter:
„Die Debatte zeigt eine Form der Islamophobie, die gerade besonders populär ist: Ängste werden geschürt, indem Gefahren diskutiert werden, die es eigentlich gar nicht gibt (…) Ich kenne nur zwei Niqab-Trägerinnen, und die sind mit Sicherheit keine Frauen, die keine eigene Meinung haben oder denen die Verschleierung von einem Mann vorgeschrieben wurde (…) Nach dieser offensichtlich aufgebauschten Debatte (…) werde ich mehr und mehr gezwungen, als Muslimin und türkischstämmige Deutsche Loyalität zu bekennen - als stünde meine Loyalität in Frage. Inzwischen fordern alle möglichen Seiten von mir, Position in der Frage der Burka zu beziehen. Warum, frage ich mich, soll ich mich eigentlich wegen 0,002 Prozent der Bevölkerung erklären?"
Altpapierkorb
+++ Aus der Kategorie der unzulässigen Zuspitzungen: „Der Goebbels des IS hinterlässt ein gefährliches Erbe“, lautet die klickträchtige Headline eines Welt-Artikels über den Tod eines Pressesprechers.
+++ Dass „der Satelliten- und Kabelfernsehanbieter Türksat offenbar die Ausstrahlung des prokurdischen Fernsehsenders Özgür Gün eingestellt hat“ und in der Türkei außerdem „35 Mitarbeiter von Medienunternehmen zur Fahndung ausgeschrieben“ wurden, unter anderem SZ-Autor Yavuz Baydar - das berichtet Spiegel Online in Form einer dpa-Meldung.
+++ Human Rights Watch kritisiert die palästinensische Autonomiebehörde und die Hamas für „Verstöße gegen die internationalen Abkommen für die Meinungsfreiheit“, womit im Übrigen auch Folter gegen Journalisten gemeint ist (Spiegel Online, ynet.news).
+++ Joseph Lichterman berichtet fürs Nieman Lab, wie er über das in Deutschland noch nicht verfügbare Amazon-Gerät Echo und mithilfe der Spracherkennungs-Software Alexa journalistische Angebote nutzt.
+++ „There’s a dark side to the mobile revolution“, heißt es in einem weiteren Nieman-Lab-Beitrag. Darin geht es um eine Studie, die darlegt, dass „a less engaged ‚second-class” citizenship of news consumers“ zu entstehen droht. Gemeint sind - und das klingt jetzt vielleicht erst einmal überraschend - Menschen, die Medien überwiegend auf mobilen Geräten nutzen. „Thanks to a combination of smaller screens, slower connection speeds, and the variable costs of data, mobile devices are, in many senses, imperfect vectors for news consumption“, sagt Johanna Dunaway, die die Studie erstellt hat.
+++ Eine Parfüm-Werbung, die Parfüm-Werbung persifliert und gleichzeitig eines der besten Musikvideos seit langem ist - so preisen das W Magazine und die Vice-Musikplattform Noisey das neue Werk des Filmregisseurs Spike Jonze. Werbung macht Jonze in der Parfüm-Werbung auch für seinen Bruder, von dem (genauer gesagt: von Sam Spiegel & Ape Drums feat. Asssassin) stammt nämlich das in dem Reklamefilm genutzte Stück.
+++ Über Kritik von ARD und ZDF an der Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs (KEF) berichtet die Medienkorrespondenz: Nach Willen der KEF sollen die Anstalten „die Satellitenverbreitung ihrer Fernsehprogramme in der digitalen Standardauflösung (SD) spätestens Ende 2019 beenden“. Was ARD und ZDF insofern aufstößt, als „die RTL-Gruppe und Pro Sieben Sat 1 vom Bundeskartellamt dazu verpflichtet worden seien, ihre TV-Programme in der digitalen Standardauflösung unverschlüsselt bis Ende 2022 auszustrahlen“. Die Kritik von ARD und ZDF ist formuliert in den aktuellen Berichten zur wirtschaftliche Lage, die sie im Juli an die Landtage übermittelt haben.
+++ Medienpolitik (II): Der Hessische Landtag beschäftigt sich gerade mit der Frage, wie man einen Vertreter der muslimischen Glaubensgemeinschaften für den Rundfunkrat des HR auswählt (Frankfurter Rundschau).
+++ „Es ist hingerichtet. Gastrokritiker Dollase testet Mensaessen“ - das aktuelle epd-medien-Tagebuch befasst sich mit der faz.net-Rubrik „Dollase vs. Mensa“.
+++ Nicht unsteil ist nicht ungeil - diesem Motto ist möglicherweise folgende taz-Textpassage (von Tilman Baumgärtel) geschuldet: „Internetpiraterie ist für die Medienindustrie, was die sozialistischen Blockstaaten zur Zeit des Kalten Krieges für den kapitalistischen Westen waren: die Androhung einer Alternative zu ihrem System, ein Hinweis darauf, dass es auch anders geht.“
+++ Heute im Fernsehen: Sigrid Faltins Dokumentation "Ritterblut - Verliebt in einen Knacki" (ARD): „Hat diese Geschichte wirklich allein ‚das Leben‘ geschrieben oder ist die Regisseurin Sigrid Faltin (...) so etwas wie die Mitautorin? Legen sich die beiden (Protagonisten) vielleicht auch darum so ins Zeug, weil das Regieteam sie dazu motiviert und sie die Sache vor der Kamera durchziehen wollen? Ist die Regisseurin Dauerberaterin einer auf Nordseesand gebauten Lebensgemeinschaft?“ fragt Hans-Jörg Rother (Tagesspiegel), dem zudem die Bildsprache a bisserl zu ruhig ist. Für Fritz Wolf (wolfsiehtfern.de) ist „Ritterblut“ „ein ambivalenter Film: Nicht alles, was er zeigt, möchte man sehen, weil zu privat, und manches, was man nicht sieht, möchte man gerne wissen. Zum Beispiel, was Rudi für so lange Jahre ins Gefängnis gebracht hat. Solche Information mag die Autorin als eine Art Personenschutz für die Rehabilitierung zurückgehalten haben. Verständlich, widerspricht aber der beständig behaupteten und auch inszenierten Nähe. Eine offenere Dramaturgie hätte dem Film gut getan.“ Von einer „sehr sehenswerten Dokumentation über eine außergewöhnliche Liebe“ ist dagegen in der SZ die Rede.
+++ Bereits am Montag im Fernsehen, aber noch einige Tage in der 3sat-Mediathek: ein wichtiger und in seinem Mut zu schweren Kost außergewöhnlicher Dokumentarfilm über den - weitgehend vergessenen - Linksintellektuellen Peter Brückner. Er sei „die Vaterfigur der Apo“ gewesen, sagt in dem Film die Fernsehkritikerin Barbara Sichtermann, die mit dem 1982 verstorbenen Brückner verheiratet war. Ich habe für die Medienkorrespondenz über den Film geschrieben.
+++ Neu am Kiosk: zwei Fahrradzeitschriften (eine von Springer, eine von Burda). Jens Twiehaus (turi2) hat sie gelesen.
Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.