Rattenrennen als Lagerfeuer?
Immer vielfältiger (bald auch mit mehr Roter Teppich-Events): die deutsche Fernsehsender-Landschaft; der Trend geht zu Namen mit "One". Wie sinnvoll wäre denn nun ein öffentlich-rechtlicher Nachrichtensender? Dazu ein Kompromissvorschlag. Und wie reagieren deutsche Medien auf die französische Initiative, kein islamistisches Propaganda-Material mehr zu benutzen? ("Welch obskure Medienfantasie!"). Außerdem: Heulen über die Lage in der Türkei.

Feine Ironie zählt kaum zu den allerersten Eigenschaften, die viele Zuschauer mit dem Ersten, dem Haupt-Fernsehprogramm der ARD, assoziieren würden. Aber die ARD kann sie. Gerade wurde der "Werbeetat des Ersten" neu vergeben. Gewonnen hat

"die Bietergemeinschaft ressourcenmangel/Freunde des Hauses",

teilt die ARD mit. Fürs öffentlich-rechtliche deutsche Fernsehen, das oft in polemischer Absicht, aber nicht zu Unrecht auch reichstes der Welt genannt wird, und dem derart viele Ressourcen zur Verfügung stehen, dass 90-Minuten-Dokumentarfilme bestenfalls im Hochsommer um 22.45 Uhr auf Sendung gehen können, ist das Engagement der Agentur Ressourcenmangel ein feiner Witz. (Und "Freundeskreise" spielen ja auch eine entscheidende Geige im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ...).

Die Agenturen mit den lustigen Namen sind übrigens "Hirschen-Töchter" (horizont.net), gehören also zu einer weiteren Werbeagentur mit lustigem Namen.

Im Endkunden-Geschäft, Fernsehzuschauern gegenüber, gehen lustige Namen natürlich nicht. Da hat sich längt das Prinzip durchgesetzt, dass alle Sender eine möglichst niedrige Zahl im Namen tragen müssen, damit sie auf Fernbedienungen nach vorn programmiert werden. Heute geht, wie gestern via medienkorrespondenz.de im Korb erwähnt, in Deutschland Zee One an den Start. Und die ARD, die auf die Zahl Eins ja schon seit jeher alle Gewohnheitsrechte besitzt, reagiert schnell und kündigt ihren neuen Fernsehsender One an. Der Claim, an dem pfiffige Agenturen gewiss lange gefeilt haben, lautet:

"One1 – Eins für Euch",

enthält also sogar drei Einsen (falls die Logo-Designer nicht einfach ein stummes "h" vergessen haben ...).

Um fair zu bleiben: Neu ist der Sender natürlich nicht, schon weil jeder weitere Kanal im öffentlich-rechtlichen deutschen Fernsehen Empörungswellen unter vielen widerwilligen Beitragszahlern sowie sämtlichen Lobbyverbänden, die auch Medien herstellen, aber keine Millarden zur Verfügung gestellt bekommen, auslösen würde. Vielmehr wird ein bestehender Sender "mit Marktanteilen um 0,3 Prozent", der "im Zuge der Diskussion um die Einführung eines öffentlich-rechtlichen Jugendangebots schon dem Tode geweiht" war, "etwas überraschend" umbenannt (dwdl.de): Eins Festival.

Sukzessive (siehe AP von vor einem Monat) zeigt sich, wie dieser bislang besonders profillose Digitalsender zum "wichtigen Kooperationspartner des Jungen Angebots von ARD und ZDF" ausgebaut werden soll. Also des einst als "Jugendkanal" gestarteten Projekts, das nach jahrelangen Beratschlagungen gerade kein Fernsehsender mehr werden sollte. Nun kündigt das neue "One" gar noch "Roter Teppich-Events und Sport-Highlights" an ... Das "Junge Angebot", das vor seinem Start im Herbst auch selbst noch einen frischen Namen verpasst bekommen wird, wird die Diskussionen um öffentlich-rechtliche Medien wieder kräftig anheizen.

[+++] Was zur Frage führt, ob in der Überfülle des öffentlich-rechtlichen Sender- und bald auch Sonstiges-Angebots nicht ein Nachrichtenkanal sinnvoll wäre.

Aktuellst aufgeworfen hat sie der umtriebige DJV-Chef Frank Überall im kress.de-Interview (mit der ziemlich steilen These "dass die ARD 'Nachrichtenfernsehen' kann, hat sie rund um die Ereignisse von München gezeigt. Beim Putschversuch in der Türkei hat das noch anders ausgesehen").

Eine schön sachliche Analyse der Nachrichtensendungen zu beiden Ereignissen stellt Dietrich Leder für die Medienkorrespondenz an:

"Solche verlängerten Ausgaben der Nachrichtensendungen sind aber weder die Redaktionen noch die Moderatoren gewohnt. Sie wissen beispielsweise nicht, in welchen Rhythmen und wie sie die gesicherten Nachrichten für neu hinzukommende Zuschauer anbieten sollen. So mischen sie die Wiederholung von Texten, Tönen und Bildern scheinbar willkürlich mit all dem, was sie neu erfahren und darstellen. Internationale Nachrichtensender verstehen sich darauf besser, auch wenn sich bei ihnen mitunter alte und neue Informationen ebenfalls zu einem irritierenden Band miteinander verflechten.

Seit vielen Jahren schon sind Fernsehreporter zu Journalisten degradiert, die nur im Ausnahmefall das live vor Kamera und Mikrofon beschreiben, was sie selbst gesehen und aus einer Quelle unmittelbar erfahren haben. In den meisten Fällen sagen etwa die TV-Korrespondenten nur das auf, was sie selbst aus anderen Medien, etwa von Nachrichtenagenturen oder anderen Fernsehsendern, erfahren haben und was genau aus diesem Grunde, weil andere irgendetwas vermeldet haben, ihre Heimatredaktionen von ihnen abverlangen. Das hat sich im Zeitalter des Internets ... geradezu radikalisiert."

Doch

"noch immer wirkt das Fernsehen bei solchen Ereignissen wie ein Lagerfeuer",

schreibt Diemut Roether im epd medien-Tagebuch (noch nicht frei online) zum gleichen Thema. Könnte also ein Nachrichtensender, in dem Korrespondenten und Reporter verloren gegangene Routine neu entwickeln könnten, die Lage verbessern? Nein, sagt Lutz Hachmeister, den Altpapier-Autor René Martens im Rahmen eines Überblicks (Stuttgarter Zeitung) befragt hat:

"Ein Nachrichtenkanal würde aber, auch, wenn ihn die Öffentlich-Rechtlichen betrieben, immer 'zu einer Hysterisierung beitragen' und etwa 'aus jedem Amoklauf ein nationales Großereignis machen'. Hachmeisters Fazit: 'Ein Nachrichtensender, der sagt: 'Beruhigt euch, Leute!', wird nicht funktionieren'".

Um selbst eine Antwort zu improvisieren: Ob öffentlich-rechtliche Senderprofile sinnvoll sind, spielt seit der Arte- und Kika-Gründung in den 1990ern ohnehin keine Rolle mehr. Was seither an Sendern startete, ist Ergebnis einerseits jahrelanger Verhandlungen zwischen Lobbys inner- und außerhalb der Anstalten und vor allem unter den Ministerpräsidenten, die in Deutschland alle Medienpolitik machen (aber einstimmig machen müssen), andererseits jahrealter Verkrustungen.

Falls jedoch das "Junge Angebot", das sein Programm online und wohl nur teilweise linear zeigen wird, funktionieren sollte, könnten ARD und ZDF vielleicht einen ähnlichen Online-Nachrichtenkanal starten. Der könnte die gewaltigen, oft brachliegenden Reporter-Ressourcen bündeln, ebenfalls teilweise nonlinear, und im Fall wirklich wichtiger Nachrichtenlagen auf eines der linearen Programme draufgeschaltet werden.

Was zumindest den Vorteil hätte, dass "Rattenrennen mit Social Media" (wie Claus Kleber es neulich in der SZ mit Blick auf die Türkei-Putsch-, noch nicht aber die München-Amok-Berichterstattung formulierte; siehe Altpapier und bei Leder auch) nicht auch noch doppelt bei ARD und ZDF stattfinden müssten.

Und es könnte z.B. dafür sorgen, dass es gegen 21.45 oder 22.15 Uhr auch dann zuverlässig ein Nachrichtenmagazin gibt, wenn das sogenannte Erste und/ oder Zweite lieber eine Überdosis Krimi-Unterhaltung oder Schmonzetten sendet oder Fußballspiele übertragen muss. Das würde die Zufriedenheit kritischer Beitragszahler steigern und vermutlich kaum noch auf Gegenwind privatwirtschaftlicher Medien stoßen.

[+++] Leider wichtig für die Materialbeschaffung aller, die über Terror-Amok-Ereignisse berichten: Propaganda- bzw. PR-Material von falschen Seiten. Wie reagieren deutsche Nachrichtenmedien auf die französische Initiative (Altpapier gestern), keine Propaganda-Bilder islamistischer Terroristen mehr benutzen zu wollen?

Dazu hat der Tagesspiegel eine gründliche Umfrage angestellt; außerdem kommentieren Jan Feddersen meinungsstark in der TAZ (mit Blick auf Le Monde und Die Zeit, die aktuell ähnlich handelt: "Welch obskure Medienfantasie! Denken diese Blätter - Kernobjekte bildungsbürgerlicher Bewusstseinsbildung - ernsthaft, im Anblick liege eine Verstörungs- und Infektionsquelle geborgen, die gebannt werden könnte? Bilderverbote" und "eine (Schau-)Verbotsorgie" hülfen nicht ...) und die FAZ im Politikressort eher meinungsschwach, dafür ausgewogen ("Die Menschen müssen wissen, was geschehen ist und wie es dazu kommen konnte. Dazu gehört, wie sich die Terroristen sehen. Ihre Bildersprache und Selbststilisierung muss deshalb niemand übernehmen").

Stimmt schon. Und natürlich werden Bilder längst von allen gefunden, die nach ihnen suchen. Das Problem, das Zeitungsjournalisten, wenn sie solche Fragen beantworten, offenkundig kaum sehen, besteht eher darin, dass es aktuell fast jeder für selbstverständlich hält, seine Inhalte mit so vielen Bildern wie möglich aufzupeppen, sofern sie nichts kosten.

Zum Beispiel reichert auch faz.net - ganz im Gegensatz zu dem, was der Nachrichtenchef in der Tsp.-Umfrage äußert - einen durchaus guten Artikel über die ISIS-"Nachrichtenagentur" noch mal mit längst bekannten Terroristen-Fotos an, obwohl das komplett unnötig wäre. Und auch das beitragsfinanzierte tagesschau.de gießt die längst bekannten Fotos noch mal in alle Kanäle, wenn es auf eigene Beiträge im Rattenrennen Aufmerksamkeit lenken möchte - wodurch es die zufällige Zirkulation der Propaganda-Bilder noch mal steigert und dazu beiträgt, die Gezeigten wie Stars erscheinen zu lassen.

Da wäre irgendeine Haltung journalistischer deutscher Medien, vor allem der Online-Medien wirklich sinnvoll.


Altpapierkorb

+++ Wo der oben erwähnte Frank Überall Recht hat: Mit seinem "Es ist zum Heulen" über die Lage in der Türkei (DJV-Blog). Überblicke ("45 Zeitungen, 15 Zeitschriften und 16 Fernsehsender" geschlossen, "47 weitere Journalisten" verhaftet, zusätzlich zu 42 vorherigen Haftbefehlen ...) gibt's u.a. hier nebenan. +++ "Die letzte Verhaftung, von der ich gehört habe: Arda Akin, ein junger Reporter der Tageszeitung Hürriyet, die zur Dogan-Mediengruppe gehört. Arda stand auf der ersten Verhaftungsliste, die am Montag herausgegeben wurde und vor allem die Namen von Reportern enthält. Im Mai hat er noch den European Union Investigative Journalism Award 2016 gewonnen ..." (Yavuz Baydar, "Türkisches Tagebuch" im SZ-Feuilleton). +++ "Auch der Publizist Sahin Alpay ist in Haft. Sein Leben steht beispielhaft für die freie türkische Presse, von der nichts bleiben soll" (Rainer Hermann auf der FAZ-Medienseite). Alpay arbeitete für die Zeitung Zaman, die "in Deutschland ... weiter täglich" eine Ausgabe druckt, "wenn auch unter schwierigen Bedingungen. Kurz nach dem gescheiterten Putsch zeigte das Huldigungsorgan 'Sabah' auf der Titelseite das Verlagsgebäude von 'Zaman' in Offenbach und entblödete sich nicht zu titeln: 'Das Zentrum der Terrororganisation'. Der liberale Intellektuelle Sahin Alpay war, so die Propagandamaschine, Teil dieser 'Terrororganisation' und wurde daher festgenommen." +++

+++ Was die einen "E-League-Turnier" nennen, nennen ganz andere "Killerspiele". Deshalb bzw. wegen der Münchener Ereignisse vor eine Woche ändert ein weiterer junger Sender, Pro Sieben Maxx, sein Programm (golem.de). +++

+++ "Der hyperaktive Markenschutz des Internationalen Olympischen Komitees könnte das Spektakel in Rio", über das, wie gestern hier erwähnt, besser niemand als #Rio2016 twittern sollte, "zu einer Abmahnfalle machen. Wer mit einem Unternehmensaccount etwas über die Olympischen Spiele in sozialen Medien postet, begibt sich definitiv auf ein juristisches Minenfeld" (netzpolitik.org). +++

+++ "Salafisten-Razzia: Minister greift Neue Presse an", lautet eine Schlagzeile der Hannoveraner Zeitung Neue Presse. Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius habe der Zeitung gesagt, "er sei falsch informiert worden. Mehrere Medien, allen voran der NDR ('Zeitung warnt Salafisten'), verbreiteten die Falschmeldung aber ungeprüft weiter", berichtet das Blatt, dessen Chefredakteur Bodo Krüger unten drunter kommentiert: "Dass am Ende immer die Medien schuld sind, ist nichts Neues ...". +++ Und ndr.de hat seinen Bericht inzwischen mehrfach verändert.+++ Die Neue Presse ist eine Madsack-Zeitung (wie die HAZ ). +++

+++ In ihrer Madsacks- bzw. RND-Medienkolumne beschäftigt sich Ulrike Simon mit E-Papers, von denen deutschlandweit nzwischen täglich 910.000 verkauft werden. Man muss sie allerdings schnell online-durchblättern, weil sie oft nicht besonders haltbar sind ... +++

+++ "Wäre es nicht die interessantere Frage, wie viele positive Zuschriften ich bekomme? Wir alle legen den Fokus viel zu sehr auf das Negative. Natürlich müssen wir solche Dinge publik machen... Aber 90 Prozent des Feedbacks, das ich bekomme, ist konstruktiv und respektvoll – das fällt zu sehr unter den Tisch. Wir als Gesellschaft müssen da aufpassen. Die Stimmung ist in Teilen sehr negativ, und das hängt auch damit zusammen, dass wir immer über das berichten, was nicht läuft, was scheitert ..." (Dunja Hayali hier nebenan im evangelisch.de-Interview) +++ Kritiken zu ihrer Show gestern abend gibt's etwa bei faz.net von Hans Hütt ("... Zu Gerhart Baum stoßen Cem Özdemir und Markus Feldenkirchen. Der Mann vom 'Spiegel' bauscht die Lage auf, als wollte er zum 'Focus' wechseln ...") und bei SPON von Arno Frank ("Doch bei aller Liebe - so viel hätte man gar nicht wissen wollen"). +++

+++ Bei uebermedien.de hat Boris Rosenkranz ein Problem mit einem Text von Gerrit Bartels im Tagesspiegel. +++

+++ "Axel Springer treibt seine Pläne für die Medienmarke WeltN24 voran", und zwar mit einer "offenen Beta-Phase" des Gemeinschaftsportals (dnv-online.de). +++

+++ Aufmacher der SZ-Medienseite (unfrei online): wie ein weiterer junger Fernsehsender, der aber nicht frei empfangbar ist, Sky Arts, "in seinen ersten Sendewochen Live-Übertragungen von den Bayreuther Festspielen" zeigt: "Am Ende erinnert das Abschlussgespräch stark an Skys Kernkompetenz, die Expertendiskussion nach einem Fußballspiel: Jeder hat einen Meinung, aber schlauer als vorher ist man danach nicht." +++ Per Kasten erfährt man, dass Sky demnächst außerdem "in der Castingshow 'Masterchef' ... zunächst 120 Kandidaten an den Herd" schickt, "in 24 Folgen sucht eine Jury nach Deutschlands bestem Koch". +++ Außerdem erfüllt die SZ ihre verdammte Pflicht und bespricht eine neue Netflix-Serie. +++ Während auf der FAZ-Medienseite die Amazon Prime-Serie "Lucifer" besprochen wird. +++

+++ Apropos Sky: großes Interview mit ARD-Degeto-Geschäftsführerin Christine Strobl in der neuen epd medien-Ausgabe. Es geht u.a. ausführlich um die Sky-ARD-Serie "Babylon Berlin". Z.B.: "Wer entscheidet, wenn es um Fragen der künstlerischen Gestaltung geht?" - Strobl: "Fernsehen ist immer Teamarbeit. In diesem Fall ist die Degeto innerhalb der ARD federführend. Wir haben eine Redaktion, die aus ARD-Vertretern besteht, vom WDR sind Gebhard Henke und Caren Toennissen dabei, von der Degeto Sascha Schwingel, Carolin Haasis und ich, und in dem Redaktionsteam sind auch die Redakteure von Sky. Und natürlich spricht auch der internationale Partner, der Weltvertrieb Beta Film mit, denn er weiß am besten, wie sich die Serie international verkaufen lässt. Beim Produzenten, also X-Filme, laufen dann die Fäden zwischen Redaktion, Regie und Autoren zusammen." +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Montag.