Weiterhin verarbeiten Medien, Medienkritiker und eigentlich alle die Einflüsse bzw. den Input der letzten Tage mit ihrer "Anhäufung von Gewalttaten in Deutschland, Europa und der Welt" (Alf Frommer, s.u.). Ein gemeinsamer Nenner, der sich herauskristallisiert: dass
"große Teile der Öffentlichkeit aus allen politischen Lagern solche Situationen nicht zur Analyse, sondern zur Bestätigung der eigenen Haltung benutzen"
(Sascha Lobo bei SPON, der sich über die Kategorie "erst vermutungsschwangere, später verschwörungsgebärende Resonanzkatastrophe" in den Ironismus "Erfinder der Welt, erfindet bessere Instrumente zur Abbildung des Weltgeschehens!" steigert ...).
Bzw.:
"Nach Amokläufen und Terroranschlägen werden Verantwortliche gesucht, und wer läge da näher als der politische Gegner?" (Jasper von Altenbockum, FAZ, frei online ähnlich).
Bzw.:
"Nachrichten sollen nicht mehr Nachrichten sein. Eher haben sie bei vielen Bevölkerungsschichten nur noch die Funktion das eigene Weltbild abzubilden".
So der schon erwähnte Alf Frommer in seinem Blog mit dem vielleicht nicht völlig unmissverständlichen Namen siegstyle.de. Da berichtet er u.a., was ihm wegen eines Tweets, in dem er Angela Merkels Flüchtlingspolitik "menschlich-politisch richtig. Trotz allem." nannte, angedroht wurde. Er habe
"gegen zwei Twitter-User Anzeige bei der Polizei erstattet, weil sie mir Tod und Gewalt androhten",
schreibt er. Falls Sie sich fragen, was vermutlich passieren wird: Die Dortmunder Zeitung Ruhr-Nachrichten, deren Redakteur Peter Bandermann vor anderthalb Jahren durch online veröffentlichte Todesanzeigen (für ihn) bedroht wurde, berichtete Ende vergangener Woche, was aus der deshalb gestellten Anzeige wurde. Spoiler: nix, weil "weder Twitter noch Facebook" auf staatsanwaltschaftliche Anfragen "zum über diese Dienste verbreiteten Link auf die entsprechende Todesanzeige reagiert" hätten.
[+++] Die im Tonfall spektakulärste Weiterverarbeitung des Gewalttaten-Echos trägt die schöne, ungefähr antike Spitzmarke "Denkanstoß", aber auch weit oben den Warnhinweis "Vorsicht, Ironie" und erscheint im Gewand "Offener Brief des Bundesverbandes Amokschützen und Terroristen". Jochen Kalka schreibt bei wuv.de z.B.:
"Schön ist es auch immer, wenn sich Medien die Mühe machen, unsere Amokschützen und Terroristen selbst zu Opfern zu machen. Wenn Ihr schreibt, wie die armen Täter bislang gemobbt wurden, wie sie psychische Probleme hatten und Opfer der Gesellschaft wurden. Danke, liebe Medien, dass Euch dann nicht mehr auffällt, wir Ihr die Mörder entschuldigt, schlimmer noch, wie Ihr den wahren Opfern die Botschaft vermittelt: Sie sind am Ende doch selbst schuld!"
Die Ironie beißt. Sie trifft aber, was Medien, oft sicher nach gutem Wissen und Gewissen, tatsächlich vermitteln, wenn sie bei jedem Erkenntnisstand bereits gründlich zwischen Amoklauf und Terrorismus abwägen, wenn sie Amokläufern in aktualisierten Sonderausgaben Titelfotos und -storys widmen (Altpapier vorgestern), die am nächsten Tag doch schon wieder aktualisiert werden müssten (FAZ-Titel heute), aber auch wenn sie bestialische, von Muslimen begangene Morde als "Beziehungstat" wie erleichtert dann doch in ihre Panorama-Ressorts herunterstufen.
Jochen Kalkas Brief gewinnt Wucht erstens dadurch, dass er, wie ältere Medienbeobachter wissen, dass der Autor am aktuellen Amoklauf-/ Terror-Schauplatz München arbeitet, aber in Winnenden, das überregional für kaum etwas anderes denn als Amoklauf-Schauplatz bekannt ist, lebt. Und zweitens dadurch, dass das spezielle Zielgruppen-Medium, dessen Chef er ist, einen ungewöhnlich ehrlichen Namen trägt. Es heißt nichts mit Welt, Spiegel, Bild oder zumindest Allgemeine, sondern mit vollem Namen: werben und verkaufen.
Und diese beiden Tätigkeiten sind es ja, was viele Medien machen müssen (einige öffentlich-rechtliche eigentlich nicht unbedingt, im Zweifel aber dennoch tun ...), was ihnen aber immer schwerer fällt (s.u.) und was als Gemeingelage eines der meist, auch quasi täglich im Altpapier, diskutierten Probleme darstellt.
[+++] "Verlierer der Nacht waren die Journalisten. Ihr Liveticker-Alarmismus aus zweiter Hand wurde nicht mehr gebraucht."
Wer da im Freitag, der Wochenzeitung des engagierten Millionärs Jakob Augstein, analysiert, ist Wolfgang Michal. Anfangs lässt sich ihm ohne Weiteres folgen. Schließlich ging der Stern des Polizeisprechers Marcus da Gloria Martins vor allem vor der Folie des live berichten wollenden Journalismus am Amoklauf- oder-doch-Terror-Abend auf. Und Fragen wie "Warum wurde nicht schneller bekannt gegeben, dass zwei der drei vermuteten Attentäter in Wahrheit Polizisten in Zivil waren?" gehören gewiss zu den richtigen. Die Schlussfolgerung:
"Wenn die Polizei die Informationshoheit beansprucht und die Bürger per Twitter zu Hilfspolizisten macht ..."
kann überzogen scheinen. Bedeutet "Informationshoheit" nicht ungefähr das gleiche wie Gatekeeping, von dem inzwischen auch Vertretern der allerletzten Medien bewusst ist, dass es es nicht mehr gibt?
[+++] Zwei konkrete Schritte zur Verbesserung der Berichterstattung sind frisch angekündigt. Erstens vermelden deutschsprachige Medienmedien breit den Entschluss von Le Monde und weiteren französischen Medien,
"keine Bilder mehr zu veröffentlichen, 'die aus den Propaganda-Dokumenten des Islamischen Staats stammen'",
um so
"eventuelle Effekte der posthumen Glorifizierung"
zu vermeiden (sueddeutsche.de, siehe auch: Standard, meedia.de mit leicht paradoxer, immerhin aber dem Ansatz nicht entgegenlaufender Illustration, Tagesspiegel 'türlich mit mit Experten-Stimmen).
Vielleicht weil Massaker und Morde in Frankreich bislang weit monströser und blutrünstiger als hierzulande sind, sind scheinen Medien weit davon entfernt, ähnlich zu handeln. Interessant im Zusammenhang ist jedoch, was Christoph Borgans bei faz.net über die viel beachtete "Nachrichtenagentur" der ISIS-Terroristen schreibt. Aufschlussreich im Zusammenhang ist, dass faz.net zur reichhaltigen Bebilderung gleich drei aktuell in Deutschland zirkulierende Fotos von islamistischen Terroristen verwendet, vermutlich weil keines vom Hauptsitz der "Nachrichtenagentur" vorlag.
Zweitens startet zeit.de was Neues, wie Chefredakteur Jochen Wegner in dem Grundsatztext, mit dem er fast das Altpapier beendet hätte, bereits durchschimmern ließ. Aus einem
"internen Chatraum ..., den wir 'Weltverbesserung' genannt haben",
"bekommen UserInnen der Zeit-Online-App jeden Tag eine positive Nachricht direkt auf ihr Smartphone gepusht",
teilen Wegner und die TAZ mit verteilten Rollen im Interview mit. Der Chefredakteur zeigt sich optimistisch, dass die "spielfreudigen und geistig beweglichen" zeit.de-User diese Idee würdigen werden.
Beim Werben und Verkaufen, bzw. zumindest bei ersterem, könnte der Ansatz natürlich auch helfen. Damit (auch wenn sich wegen Wegners Text die ebenfalls große Frage, ob es überhaupt noch Nicht-Onlinejournalismus gibt, anreißen ließe; das tut Dirk von Gehlen in seinem Namensblog...) weit unten in die Medien-Nische im engeren Sinne.
[+++] Werben und Verkaufen wird besonder beim gedruckten Journalismus weiterhin zuverlässig Quartal pro Quartal schwieriger. Ein altes Gegenmittel, mit dem vor allem Werber für Anzeigen in der Presse gewonnen werden sollen, sind die Reichweiten-Messungen der Arbeitsgemeinschaft Media-Analyse. Was die aktuell mitteilte, steht im konstruktiven Gute-Nachrichten-Tonfall z.B. hier nebenan ("62 Millionen Deutsche lesen Zeitschriften").
Die skeptische Lesart bringt dwdl.de:
"Diesmal sind die Zahlen besonders skurril: 14 der 20 laut MA reichweitenstärksten Titel konnten trotz sinkender Auflagen ihre Reichweite sogar steigern - und das teils gewaltig. So erreicht demnach der 'Spiegel' angeblich mit zuletzt weniger als 800.000 verkauften Heften 6,44 Millionen Leser - ein märchenhaft anmutender Reichweiten-Zuwachs um fast 10 Prozent. Der 'Stern' verkauft zwar de facto weniger Hefte als der 'Spiegel', hat aber schon traditionell immer eine noch höhere Reichweite ..."
Und um zu glauben, dass die Leser-Zahl der gedruckten Bild-Zeitung erst im letzten Vierteljahr knapp unter die Zehn-Millionen-Grenze gesunken ist, darf man vermutlich nicht zu weit über den Tellerrand seiner eigenen Teilwelt hinaus schauen. Wenn mit gedrucktem Journalismus genau so schlecht Geld verdient werden kann wie mit Onlinejournalismus, wird definitiv keinen speziellen Nicht-Onlinejournalismus mehr geben. Sehr lange wird's nicht mehr dauern.
+++ Das Bundeskartellamt hat wegen eines "weitgehenden Informationsflusses zwischen konkurrierenden Unternehmen" (Kartellamts-Präsident Andreas Mundt) hat ein Bußgeld-chen in Höhe von ca. zwei "Tatort"-Budgets verhängt, bzw. "gegen Studio Berlin Adlershof, eine Tochter von Studio Hamburg, und Bavaria Studios & Production Services Bußgelder von insgesamt mehr als drei Millionen Euro verhängt" (dwdl.de). Das geschah infolge von Durchsuchungen vor rund einem Jahr etwa bei der Bavaria. "Auch der NDR ist betroffen", schreibt das Hamburger Abendblatt - was ein bisschen gemogelt ist. Schließlich besitzt der NDR zwei der drei betroffenen Studios, wie etwa der Tagesspiegel auseinanderdröselt. +++
+++ "Am Mittwochmorgen wollte der türkische Journalist Bülent Mumay, der in dieser Woche zwei 'Briefe aus der Türkei' für diese Zeitung geschrieben hat, zusammen mit seinem Anwalt der Aufforderung der türkischen Polizei Folge leisten und vor dem Haftrichter erscheinen. Doch am Dienstagabend stürmte die Polizei seine Wohnung und nahm ihn fest..." (Karen Krüger in der FAZ über die jüngste Eskalationsstufe in der Türkei). +++
+++ "IS-Korrespondent" (meedia.de) der Zeit, also der Wochenzeitung, wird Yassin Musharbash. "Nun verrücke ich meinen Schreibtisch für die Dauer eines Jahres nach Amman", sagt er im Interview. +++
+++ "Nizza, Türkei, Würzburg, München. Ansbach. Hass auf die westliche Welt, Hass auf Deutsche, Hass auf Fremde, Hass auf Menschen, woher der ganze Hass? Dunja Hayali rührt in ihrem Milchkaffee, streichelt Emma, schaut rüber zum Görlitzer Park ..." Da porträtiert der Tagesspiegel die multiple Moderatorin, die ab heute abend im ZDF wieder Maybrit Illners Sommerpause mit ihrem "ZDFdonnerstalk" füllt ... +++
+++ "Man kann - auch ohne 'Lügenpresse'-Gebrüll und oftmals sonderbar anmutender GEZ-Kritik - mit Fug und Recht behaupten, dass die Sendeanstalten auf einem unverschämt großen Haufen Kohle sitzen", leitet Georg Bakunin bei vice.com seine Kritik der öffentlich-rechtlichen Jugendradios ein ("Von Sachsen bis zum Saarland, von Hamburg bis nach Bayern, von N-JOY über YouFM bis Radio FRITZ, überall wird der gleiche ideenlose Rotz gesendet"). +++
+++ Ferner auf der FAZ-Medienseite: Gerhard Gnauck schildert, wie polnische Medien "auf Deutschland schauen" ("... größtenteils mit Kopfschütteln und Angst. Dass man 'den deutschen Medien', den Politikern und selbst der Polizei nicht trauen könne, weil sie im Namen der Korrektheit die Rolle des Islams und von Islamisten schönredeten, ist seit der Kölner Silvesternacht in Polen zu einem festen Topos geworden"), und "die Ermordung einer schwangeren Polin durch einen syrischen Asylbewerber in Reutlingen" gibt besonderen Anlass. +++ Außerdem geht es um Zeynep Tufekcis Kritik an Wikileaks (siehe etwa heise.de) und deren Folgen: "Tukefci ist derweil auf Twitter zum Ziel eines veritablen Shitstorms geworden. Wikileaks stritt ihre Vorwürfe ab und beschuldigte die langjährige AKP-Kritikerin als Erdogan-Verteidigerin. Nach ausgiebigen Diskussionen über den Kurznachrichtendienst, in denen sie ihren Standpunkt verteidigte, brach Wikileaks auf Twitter seinen Kontakt zum Account der Kritikerin ab ..." +++
+++ Auf der SZ-Medienseite geht es um die Zukunft des US-amerikanischen Senders Fox News: "Es gibt Spekulationen, wonach die Murdoch-Söhne James und Lachlan nur darauf gewartet haben, [Roger] Ailes absägen zu können. Nicht weil er nicht genug Geld verdiene, sondern weil ihnen das Senderkonzept und der geifernde Ton peinlich seien, wie der *Hollywood Reporter' schreibt. Sie wollen Fox News sicher als konservativen Kanal erhalten, aber vielleicht eher als echtes journalistisches Medium, nicht als reine Propagandaplattform". +++
+++ Einen sachlichen Überblick über den partiell "tumultartig" ausgetragenen "Richtungsstreit in der VG Wort" gibt Henry Steinhau bei irights.info. +++
+++ Einen "der brutalsten Nazi-Vergleiche ..., die man sich vorstellen kann", hat Stefan Niggemeier (uebermedien.de) in einem aktuellen Henryk M. Broder-Text entdeckt. +++ Indes neues Hitler-Filmmaterial ("Lächelnd sieht man Hitler im Garten...") entdeckt hat Die Zeit (Vorabmeldung; Link funktioniert nur diese Woche). +++
+++ Morgen neu in der deutschen Fernsehlandschaft: der Sender Zee One mit indischen Bollywoodfilmen im Programm (und englischer Lizenz, aber einer deutschen Chefin mit WDR- und Bild-Zeitungs-Vergangenheit; siehe medienkorrespondenz.de). +++
+++ Und was nicht getwittert werden darf, wenn man kein Werbe- (und Verkaufs-) Partner des Internationalen Olympischen Komitees ist (oder so): #Rio2016 (golem.de) +++
Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.