80 Millionen Medienkritiker
Ist es heutzutage „sinnlos“, noch Ruhe zur Recherche einzufordern? Waren am Freitagabend in der ARD vor allem die Live-Schaltungen das Problem? Ist der Münchner Polizeipressesprecher eine „mosaische“ Figur? Erhalten die Medien ihre „größte Bedeutung“ in dem Augenblick ihrer „größten Ohnmacht“?

Um mal mit einer Meinung einzusteigen, die - aber das ist natürlich nur eine Vermutung - die Mehrheit der Altpapier-Leser nicht teilen wird: Tim Klimeš, leitender Angestellter der Fernsehproduktionsfirma AVE, schreibt im heutigen Tagesspiegel zur TV-Berichterstattung über den Amoklauf von München:

„Die deutschen Fernsehsender (…) haben es gut gemacht. Das vorweg. Und dieser Satz fällt nicht leicht zu schreiben. Denn er ist, überspitzt gesagt, eine Abkehr von journalistischen Gepflogenheiten. Er ist das Eingeständnis, das heute im Zweifel der Primat des Sendens gilt, nicht mehr des Abwägens.“

Es folgen weitere thesenhafte Formulierungen, etwa: Das „noch vor wenigen Jahren verpönte Sofort-Senden“ sei heute „zur urjournalistischen Aufgabe geworden“. Und:

„Heutzutage noch Ruhe zur Recherche einzufordern, ist löblich, aber sinnlos.“ 

Trotz seines grundsätzlichen Lobs sieht Klimeš Verbesserungsbedarf:

„Wie kann und muss es (…) weitergehen? Die Nachrichtenredaktionen – ob Print, online oder TV – werden in Zukunft vor allem noch mehr kundige Social-Media-Rechercheure und Datenjournalisten aufbieten müssen, damit diese schnell und zuverlässig das Netz scannen und die dort verfügbaren Informationen bewerten können. Redakteure, die Metadaten aus Bildern lesen, die erste Einschätzungen zu Twitter-Konten abgegeben können, die die Gesamtlage einschätzen – damit diese wiederum schnell auf den Sender gehen kann.“

Wer nicht findet, dass das „Sofort-Senden“ heute „zur urjournalistischen Aufgabe“ geworden sei: zum Beispiel der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen, den der Deutschlandfunk interviewt hat.

„Mir ist es das erste Mal aufgefallen bei der Germanwings-Flugkatastrophe, bei dieser Form des Amoklaufs, dass die Mediengesellschaft unserer Tage eigentlich eine offene Flanke besitzt, nämlich die Ungewissheit bei gleichzeitigem gefühltem Sofortsende-Zwang. Und auf diese Weise, in dieser Doppelheit entsteht so eine Art Informationsvakuum, ein Nachrichtenvakuum. Man präsentiert irgendwelche Pseudo-News, um überhaupt irgendetwas zu berichten.“

Um den sehr, sehr viel gelobten Münchener Polizeipressesprecher geht es in dem von Michael Köhler geführten Gespräch auch:

Braucht es solche - ich flüchte jetzt mal in die sakrale Sphäre - mosaischen Figuren, die das bündeln und sagen, hier geht’s lang?"

„Ich glaube, ja. Ich würde es nur nicht eine mosaische Figur nennen, sondern im Grunde genommen ist dieser Polizeisprecher ein Medienexperte neuen Typs. Er hat sehr genau verstanden, wie diese Erregungsspiralen funktionieren und wie diese Wirkungsnetze funktionieren und wie jeder unvorsichtige oder im Moment der inneren Aufregung gesagte Satz dann gleichsam explodiert.“

Nicht unähnlich sieht es ein anderen Medienwissenschaftler: Lutz Hachmeister, interviewt im DLF-Schwestersender Deutschlandradio Kultur. „Dass die ARD so intensiv reagiert hat“ - nämlich, indem sie auf eine ausgedehnte „Tagesschau“ vorgezogene, noch weiter ausgedehnte „Tagesthemen“ folgen ließ -, habe auch mit der Kritik an der Berichterstattung zum Türkei-Putsch zu tun (siehe u.a. dieses Altpapier). Es sei „mehr eine Reaktion auf die Türkei-Sache als dem Ereignis dann letztlich angemessen“

Im Grunde genommen habe die ARD ihre Berichterstattung am Freitagabend „wie ein Nachrichtenkanal organisiert“. Zum Hintergrund bemerkt Hachmeister (siehe Altpapier von vergangenem Dienstag):

„Deutschland ist eines der wenigen Länder, das keinen wirklichen Nachrichtenkanal hat (…) Ich habe den Eindruck, dass auch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen die Kompetenzen und Strukturen (dafür) nicht vorhanden sind. Das erfordert einen hohen Organisationsgrad, eine ganz andere logistische Organisation, und die ist hier schlicht nicht da.“

Genau das hat man gemerkt am Freitagabend, als die ARD nur über den Krampf zum Spiel fand, jedenfalls so einigermaßen.

„Das Problem waren die Schaltungen (…) So nahm die Berichterstattung groteske Züge an, wenn (Moderator Jens) Riewa den Außenreporter über die Meldungslage informierte, die dieser bestätigen sollte, was er aber nicht konnte, weil er ja nichts wusste“,

schreibt Frank Junghänel (Berliner Zeitung). Eckhart Querner heißt der arme Mann, der im Laufe des Abends sowohl von Riewa als auch später von Thomas Roth immer wieder in Verlegenheit gebracht wurde. Junghänel weiter:

„Wenn sich die ARD Gedanken um ein eigenes Terrorkonzept macht, was angeraten scheint, sollte sie auch darüber nachdenken, wie sinnvoll es ist, ihre Reporter immer wieder mit Fragen zu penetrieren, von denen jeder vorher schon weiß, dass sie nicht zu beantworten sind.“

Abgesehen davon, dass Junghänel sicherlich nicht sagen wollte, dass sich die ARD zu einer Terrororganisation wandeln sollte, ist ihm beizupflichten. Die zentrale Schwäche der ARD-Berichterstattung war der unerschütterliche Glaube der Verantwortlichen an etwas, was man Vorortismus nennen könnte. Der Glaube daran, dass jemand der vor Ort ist, mehr weiß als jemand, der in der Redaktion sitzt (obwohl das Gegenteil der Fall ist). Beziehungsweise: Vielleicht glauben die Verantwortlichen auch bloß, dass die Zuschauer das glauben oder glauben wollen.

Bereits vor dem Amoklauf hatte „Heute Journal“-Moderator Claus Kleber für die SZ einen Text verfasst, der sich mit der Kritik an den Reaktionen der öffentlich-rechtlichen Sender auf Breaking-News-Situationen befasst - und der dann unerwarteterweise zu einem sehr passenden Zeitpunkt erschien, nämlich am Samstag nach der Tat von München. Kleber begründet die Berichterstattung seines Senders über den Putschversuch in der Türkei so:

„Wir hatten Bilder, meist Bruchstücke, mit Handy-Kameras aufgenommen. Oft aus einer Deckung heraus. Fetzen von Informationen. es war erst einmal nicht viel, aber es hätte gereicht, eine Sendung voranzutreiben, notfalls mit zigfacher Wiederholung des immer wieder selben Materials. Doch was wäre das für eine Sendung geworden? Was nützt mir ein Panzer, wenn ich nicht weiß, wohin und für wen er rollt? Was sagen mir Bilder einer Schießerei, Töne von Schüssen oder der Blitz eines vorbeidonnernden Kampfjets? (…) Wir wären gezwungen gewesen - wie es der große Journalist Peter von Zahn am Ende des letzten Jahrhunderts formulierte - ‚ die Dinge quasi rahmenlos zu sehen‘. Er meinte das als Vorwurf an die Berichterstattung damals. Heute droht es zum Wesen unserer Information zu werden.“

Dem Czyslansky-Blog ist aufgefallen, dass „ungefähr so“, wie es Kleber kritisiert, die Dauersendung der ARD am Freitag ausgesehen habe:

„Die immer gleichen Handy-Videos in Endlosschleife, die immer gleichen Statements mit Null-Aussagen. Kurz nach acht Uhr durfte ein Experte den Anschlag von München analysieren. Zu dieser Zeit wusste man nicht, wie viele Täter, wie viele Opfer, wie viele Tatorte, welche Motive. Man wusste nichts, man hatte nichts, aber man sendete.“ 

Ein weiteres Kleber-Zitat - „Es ist niemandem geholfen, wenn die Öffentlich-Rechtlichen sich mit ihren traditionell ausgestrahlten Programmen auf ein Rattenrennen mit Social Media einlassen. Oder Netzfunde unreflektiert weitergeben“ - kommentiert Czyslansky dann auch noch: Genau dies habe man man am Freitag erlebt: „das Rennen der Ratten auf allen Kanälen und in allen Rennbahnen“.

„Wenn ich bisher dachte, dass Sportreporter die dümmsten denkbaren Fragen stellen, so revidiere ich dieses Urteil - Lokalreporter und politische Journalisten stehen ihnen um nichts nach“,

bemerkt Peter Michael Lingens (Profil), und gemeint haben dürfte er damit jenen Luftikus des Bayerischen Rundfunks, der, um mit Michael Hanfeld (FAZ) fortzufahren,

„den bewundernswert abgeklärten Sprecher der Münchner Polizei ein um das andere Mal zu Schlussfolgerungen drängt, die der Polizeibeamte nicht ziehen kann und nicht ziehen will (…) Der Polizeisprecher sagt irgendwann, dass ihm der Reporter doch bitte die Kristallkugel aushändigen solle, die ihm die Antworten auf diese Fragen verriete. Der Polizist kann nicht sagen, wovon er nicht weiß, das muss schließlich sogar sein Gegenüber einsehen.“

Generell hat Hanfeld eine „Attitüde des ahnungslosen Besserwissens“ ausgemacht. Sein Text erschien zunächst am Samstagmorgen online, in einer anderen Version steht er heute auf der FAZ-Medienseite. Auf den „bewundernswert abgeklärten Sprecher“ kommen wir später noch zurück. Zunächst lassen wir mal eine ausgeruhte, essayistische (Spoiler: Gleich fällt der Name Hegel!) Einordnung der TV-Berichterstattung von Freitagabend auf uns wirken. Georg Seeßlen schreibt bei Zeit Online:

„Gerade wer topographisch und persönlich näher am Geschehen ist, verzweifelt leicht an diesem Stochern und Flickern. Die vor dem Fernseher verbrachte Nacht hatte etwas von einem Purgatorium. Und zugleich spürt man eine Gemeinschaft, die sich gerade um den blinden Fleck, das Nicht-Wissen, die Erklärungsnot bildet. Ohne diese Katastrophe wäre die Gemeinschaft gar nicht zu haben. Man schämt sich seiner Medien, nicht weil sie etwa von herzlosen Schurken betrieben würden, sondern vor allem, weil auch sie Hilf- und Ratlosigkeit widerspiegeln. Man schämt sich der symbiotischen Verschmelzung mit einem Apparat, den man gewöhnlich allenfalls für guilty pleasures nutzt, und der im Moment nicht vor und nicht zurück kann.“ 

Beziehungsweise:

„Man empfindet die mächtige Ohnmacht der Medien. Und zugleich fühlt man seine fundamentale Abhängigkeit von ihnen. Und in der Abhängigkeit von ihnen wiederum die Gemeinsamkeit. Und in der Gemeinsamkeit wiederum das Alleingelassensein. So entsteht die Dramaturgie der Erregungsgesellschaft. Die Atomisierung des Menschen, von der schon der alte Hegel sprach, wird in der Katastrophe und ihrer Nebelwolke für kurze Zeit aufgehoben, aber hinterher wird sie nur umso deutlicher. Man ahnt es, und kann es doch nicht wirklich fassen: dass das Geschehen und seine mediale Weiterung einen Zusammenhang haben, der über die Beziehung von Wirklichkeit und Abbildung hinausgeht.“

Seeßlen spitzt das Ganze dann später noch auf das „Paradoxon“ zu, dass die Medien ihre „größte Bedeutung“ in dem Augenblick ihrer „größten Ohnmacht“ erhielten. Diese Ohnmacht wirkte am nächsten Morgen beinahe noch größer, als nämlich "heraus kam, dass eigentlich alles, was da an Informationen umgeschlagen wurde, falsch war. Es waren keine drei Täter mit ‚Langwaffen‘. Sondern nur einer mit Pistole“, wie Tobias Rapp in einem Facebook-Post bemerkt.

Dass die Polizei, von der die Medien ihre „gesicherten“ Informationen bezogen, die Lage falsch eingeschätzt hat, will ich als Nichtkenner der Polizeiarbeit gar nicht kritisieren. Wenn die Polizei nun aber verbreitet, „Hinweise auf einen politischen oder religiösen Hintergrund gebe es ‚definitiv nicht‘“ (Zitat aus einem Deutschlandfunk-Beitrag), wirkt das bestenfalls unfreiwillig komisch. Möglicherweise wird sich der politische „Hintergrund“ der Tat nie vollständig klären lassen, „Hinweise“ darauf, dass es einen gab, gibt es aber genug - siehe den Bezug auf den rechtsextremistischen Terroristen Anders Breivik. Oder dass, wie von Spiegel Online kolportiert, der Mehrfachmörder die AfD "verehrt" haben soll.

„Hätte es ohne Facebook und Twitter diese Panik in München gegeben?“, lautet eine Frage, die Christian Helten bei jetzt.de stellt - Bezug nehmend auf seine Eltern, die in München unterwegs waren und eben nicht in Panik gerieten, weil sie keine Smartphones besitzen.

Christian Jakubetz und Daniel Fiene sind bisher nicht als Social-Media-Skeptiker aufgefallen, und sie sind es zwischen Freitag und Samstag auch nicht geworden. Ein bisschen verändert hat sich ihre Haltung dennoch, wie aktuelle Blogbeiträge von ihnen zeigen. Ersterer schreibt:

„Man kann soziale Netzwerke (…) auch hassen für den Dreck, den sie in solchen Momenten auskotzen. Die Gerüchte haben sich im Sekundentakt ins Absurde gesteigert, innerhalb weniger Minuten war u.a. die Rede von einem Bombenanschlag mit 250 Toten (…) (Es) haben sich über Stunden Gerüchte und Spekulationen überschlagen, obwohl die Polizei immer wieder über die sozialen Netzwerke versucht hat zu beruhigen. Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee ist, wenn man dann als Journalist noch snapt und twittert und haufenweise eher unbestätigtes Zeug in die Kanäle haut, immer wieder versehen mit einem relativierenden ‚offenbar‘.“

Fiene setzt einen anderen Schwerpunkt:

„In den letzten Monaten habe ich mich viel mit Periscope, Facebook Live und anderen Diensten beschäftigt. Es sind wunderbare Werkzeuge. In den letzten Tagen sind mir viele Szenarios bewusst geworden, in denen ich sie nicht im Einsatz sehen möchte. Das nehme ich zum Anlass, nicht nur über Live-Video, sondern auch um über normale Fotos und Videos zu reden. Mein Wunsch, an uns Social-Media-Intensivnutzer: Lasst uns in extremen Situationen zurück in den Textmodus wechseln.“

Spätestens die Ereignisse von München haben nun den Eindruck verstärkt, dass es in Deutschland nicht nur 80 Millionen Bundestrainer gibt, sondern auch 80 Millionen Medienkritiker. Bei denen ist durchaus eine „Attitüde des ahnungslosen Besserwissens“ zu beobachten (nur in einem anderen Sinne als in dem oben von Michael Hanfeld gemeinten). Udo Stiehl hat diese Bundestrainer-Typen bereits in der vergangenen Woche in Kategorien eingeteilt (siehe Altpapier von Donnerstag), und dabei auch hervorgehoben, dass ein großes Problem das Nichtwissen darüber ist, „wie im Hintergrund gearbeitet wird“. Wie dort gearbeitet wird, beschreibt der NDR-Nachrichtenredakteur Michael Dräger. Er rekapituliert den Freitag aus der Sicht eines Diensthabenden.

[+++] An dieser Stelle leisten wir uns mal einen historischen Exkurs, wir verdanken ihn Carolin Emcke, die sich in ihrer SZ-Samstagskolumne mit Harun Farockis „grandiosem Dokumentarfilm“ „Schlagworte – Schlagbilder“ beschäftigt hat:

„(Hier) sitzen der tschechische Medientheoretiker Vilém Flusser und (…) Farocki über die ausgebreitete Ausgabe der Bild -Zeitung vom 26. November 1985 (…) Die beiden denken und sprechen zusammen, sie betrachten und analysieren die Zeitung vor sich auf dem Tisch. Jede Zeile, jede Überschrift, jede grafische Setzung, jedes Foto, jede Bildunterschrift wird ruhig und präzise auf seine Absicht und seine Wirkung untersucht (…) Nach etwa acht Minuten, sie sind noch immer bei der Analyse der ersten Seite, sagt Vilém Flusser trocken und in wunderbar eigenwilligem Deutsch, es werde ‚auf dieser Seite verhütet, dass wir die Dinge entziffern‘. Farocki und Flusser zeigen, wie ‚Bild‘ Tatsachen und Ereignisse in der Welt nicht übersichtlich in Meldungen und Geschichten sortiert und einordnet, sondern wie vielmehr eine mutwillig rauschhafte Nervosität alles unübersichtlich und chaotisch macht. Die Zeitung bemühe sich nicht, die Wirklichkeit zu beschreiben oder zu erklären, sondern versuche im Gegenteil, das Verständnis der Wirklichkeit zu verhindern.

Und damit sind wir dann wieder in der Aktualität angelangt:

„Je länger dieses Gespräch zwischen Filmemacher und Philosoph andauert, desto unheimlicher wird es, den beiden zuzuschauen. Denn nach einer Weile klingt die Analyse des Mediums Bild-Zeitung aus dem Jahr 1985 erstaunlich zutreffend nach einer Analyse der Wirklichkeit im Jahr 2016.“

Zugespitzt: Die ganze Welt oder vielleicht auch bloß das gesamte mediale Angebot ist heute eine Art ausgedehnte Bild-Zeitung.

[+++] Kommen wir zu der Frage, wieviel Journalisten über die Amoktat berichten sollten (wobei, und das ist ja nicht neu, auch jene Medien, die Kritisches formulieren, an anderer Stelle diese Kritik ignorieren).

Ronen Steinke schreibt auf der Thema-des-Tages-Seite in der SZ:

„US-Statistiker (…) können belegen, dass insbesondere die schlimmsten Gewalttaten und ihr großes Echo in den Medien Nachahmer inspirieren.“

Steinke nimmt konkret Bezug auf die „in Arizona lehrende Statistikerin Sherry Towers“: 

„Je umfangreicher die Medienberichterstattung, desto wahrscheinlicher, dass einer der sehr seltenen, nachahmungs-geneigten Menschen im Publikum angesprochen werde. Je plastischer, je Actionfilm-hafter die Reportagen ausfallen, je mehr eine Identifikation mit dem Täter dadurch möglich werde, umso höher das Nachahmungsrisiko."

Dass „Berichte über Amokläufer Nachahmungstätern als Vorlage dienen können“, erläutert auch die FAZ.

Harald Staun legt in der FAS „das Problem der Amokläufer-These“ dar: 

„Indem man die Gewalt mit der seelischen Verfassung der Täter begründet, macht man aus einem gesellschaftlichen ein individuelles Problem. Gegen eine klinisch attestierte Depression hilft scheinbar keine Politik, sondern, wenn überhaupt, nur eine Therapie.“

Er bezieht sich in seiner Analyse auf Franco „Bifo“ Berardis Buch „Helden“ (Matthes & Seitz Berlin). Dieser habe sich „ausführlich mit all diesen Typen beschäftigt, mit Massenmördern, Amokläufern und anderen Selbstmördern. Das suizidale Wesen der Taten ist ein Merkmal, welches von den kriminalistischen Analysen völlig ignoriert wird.“

Staun weiter:

„Dass der Wahn der psychotischen Täter dabei auch von aktuellen politischen Debatten gefärbt wird, ist kein ungewöhnliches Symptom. In einem Interview mit dem Spiegel, erklärte die Psychiaterin Nahlah Saimeh vor kurzem, wie gesellschaftliche Themen ‚Bestandteil schizophrener Denkinhalte werden‘ können: ‚In den Achtzigern gab es oft Wahnvorstellungen, in denen es um Strahlung ging. Das war kurz nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl. Heute sind es eben andere große Themen wie Brexit oder in Deutschland die Flüchtlingskrise.‘ Stimmen zu hören ist ein typisches Merkmal einer Psychose; kein Wunder, dass es sich bei diesen Stimmen auch um jene Parolen handeln kann, die gerade am lautesten zu hören sind (…) Das ist womöglich die bitterste Erkenntnis: Es sind auch unsere Stimmen, die die Verrückten hören, die Stimmen jener, die sich für normal und gesund halten. Wenn das stimmt, müssen wir dringend damit beginnen, uns neue Geschichten zu erzählen.“

Die Deutsche Depressionsliga warnt derweil in einer Pressemitteilung davor, dass

„durch eine vorschnelle und undifferenzierte Zuordnung von Gewalt und psychischer Krankheit in der Bevölkerung ein falsches Bild forciert (wird), das die bereits bestehende Stigmatisierung psychisch kranker Menschen (…) sogar noch steigert. Der Anteil der Patienten, von denen tatsächlich eine Gefahr für Außenstehende ausgeht, ist im Vergleich zur Gesamtpopulation äußerst gering."

Konkret kritisiert die Organisation einen

„Bericht auf tagesschau.de über den Attentäter von Nizza. Bereits in der Überschrift „Gewaltbereit, depressiv, still“ (wird) ein Zusammenhang zwischen Gewalttätigkeit und Depressivität suggeriert. Hierbei wird auf die Beschreibungen der Persönlichkeit des Täters durch Bekannte Bezug genommen, die keinerlei diagnostische Referenz für derartige Aussagen bieten.“ 

Die Experten kritisieren des weiteren „die leichtfertige Konstruktion eines Zusammenhangs zwischen Depression und Gewalt“ und die Konstruktion eines „direkten kausalen Zusammenhangs zwischen einer depressiven Störung und der durch sie angeblich ermöglichten abscheulichen Gewalttat“.

In diesem Zusammenhang auch zu sehen: 

„Experten warnen davor, die mutmaßliche Depression des Täters zum Auslöser der Bluttat zu erklären. ‚Mit großer Sicherheit kommt eine Depression des Täters als Ursache für den Amoklauf in München nicht in Frage‘, meint Ulrich Hegerl, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe. ‚Wir sehen es mit großer Sorge, wenn Depressionen mit Gewalttaten in Verbindung gebracht werden.‘ Dies sei vom Krankheitsbild her nicht gerechtfertigt.“

Das steht in einem oben bereits zitierten Spiegel-Online-Artikel. Siehe dazu auch die Interviews, die Spiegel Online und die SZ (auf der Feuilleton-Aufmacherseite) mit dem Jugendforscher Klaus Hurrelmann geführt haben, jenem Wissenschaftler, der das Vorwort für das vom US-Psychologen Peter Langman in aufklärerischer Absicht verfasste Buch „Amok im Kopf“ geschrieben hat, das für den Täter von München offenbar eine Inspiration war.

[+++] Um die Aufmerksamkeit heute aber mal auf andere Weltregionen zu lenken: Sidney Gennies verweist im Tagesspiegel darauf, dass „nur wenige Stunden“ nach den Morden von München 

„sich Selbstmordattentäter am anderen Ende der Welt, in Kabul, unter schiitische Demonstranten (mischten). Mehr als 80 Menschen starben, Hunderte wurden verletzt. Am Sonntag sprengte sich ein Attentäter in Bagdad in die Luft, 15 Tote. Allein im Juli hat der IS in Bagdad mehrere hundert Menschen getötet (…) Das Grauen (im Irak) interessiert hierzulande wenig, dabei ist es gerade da am größten. Der ‚Islamische Staat‘ hat bereits mehr als 120 Anschläge mit rund 2000 Opfern in fast 30 Ländern verübt, die wenigsten in Europa und den USA.

Gennies analysiert:

„Auf den Schrecken im Mittleren Osten reagieren wir mit kühler Distanz. Und es ist ja auch nicht verwerflich, dass das Fremde befremdet, dass das Mitgefühl nicht die gleiche Intensität hat. Emotionen sind keiner Moral, keiner Logik unterworfen. Doch interessieren sollten wir uns für das Leid in diesen Teilen der Erde. Es betrifft uns ganz direkt, auch wenn es vielleicht nicht betroffen macht.“

[+++] „Beim Brennpunkt Türkei kommt niemand hinterher“, stand an dieser Stelle am Donnerstag, und das gilt natürlich erst recht nach einem Wochenende, an dem die Berichterstattung von anderen Themen überlagert war. Versuchen wir es dennoch:

„Am 15. Juli erlebte die Türkei den absurdesten Putschversuch ihrer Geschichte. In seinen parodistischen Momenten erinnerte er an die Untiefen türkischer Soap-Produktionen“,

schreibt Gaye Boralioglu in der Wochenend-taz. Ein Beispiel dafür sei:

„Der Kommandant, der ins Studio des Staatsfernsehens TRT kam, um das Putschmanifest zu verlesen, dachte, die Sondersendung würde zeitgleich auf allen Privatsendern ausgestrahlt.“

Außerdem hat das „Europamagazin“ - für den Fall, dass Sie am Sonntagmittag mal nichts mit ihrer Zeit anzufangen wissen: Es läuft nach dem „Presseclub“ - ein exclusives TV-Interview mit Can Dündar, dem im Ausland untergetauchten Chefredakteur der regierungskritischen Zeitung Cumhuriyet, geführt. Und mit der in Istanbul tätigen deutschen Journalistin Katharina Willinger hat „Das Medienmagazin“ des BR-Senders B5 aktuell gesprochen. Sie hat unter anderem beobachtet, dass auch bei „Journalisten, die für regierungsnahe Medien“ arbeiten, die Stimmung „angespannt“ sei.


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+++ „How Trump attacks the media, and why that distorts reality“ - das beschreibt Margaret Sullivan in der Washington Post. „In 1964, Barry Goldwater got the Republican presidential nomination in California’s Cow Palace, where, longtime TV journalist Ted Koppel recalled, signs proclaimed ‚Don’t Trust the Liberal Media.‘ He said he saw similar words projected on huge screens on the streets of Cleveland. ‚It’s a 52-year-old meme', Koppel told me (…) Trump has created a ‚win-win position‘ with the media, Koppel told me. ‚If the coverage is positive, he pockets it‘, he said. ‚But if it’s negative, he plays it as a battle he’s fighting‘ to fend off the apocalypse. And as he benefits from free exposure, he attacks the messengers as dishonest and corrupt. Now that’s what I’d call a rigged system.“

+++ Zur Frage der Megahonorare für sogenannte Experten, die rund um Fußballübertragungen plaudern (siehe zuletzt Altpapier von Freitag): „Geht es hier tatsächlich nach den Gesetzen des Marktes zu? Oder nutzen die beitragsfinanzierten Sender ARD und ZDF ihre finanziellen Spielräume mehr als großzügig aus, um Stars an sich zu binden? (…) Wie Verträge mit ehemals kickenden Kommentatoren zustande kommen, ist unklar. Wie hoch ein Angebot ausfällt, welche Beschränkungen man sich setzt und welche Kontrollinstanzen zu welchem Zeitpunkt einbezogen werden, darauf antworten die Sender in der Regel nicht oder nur ausweichend. Die allseits populäre Forderung nach mehr Transparenz kann und muss man also unterstützen.“ Meint Christian Meier (Die Welt)

+++ Der Verlag, dem die Welt gehört, bringt bald eine tägliche Fußball-Zeitung heraus (dwdl.de).

+++ Den olympia-bedingten 3sat-Schwerpunkt „Im Fokus: Brasilien“ stelle ich in der Stuttgarter Zeitung vor.

+++ Dass in Kuba gerade eine „Fernseh-Revolution“ stattfindet - darüber informiert uns die Mittelbayerische Zeitung in Form eines dpa-Beitrags.

+++ Neue Print-Produkte (I): Mashable berichtet über den Erfolg der Anti-Brexit-Wochenzeitung The New European, die gerade zum dritten Mal erschienen ist.

+++ Neue Print-Produkte (II): Gentle Rain (Untertitel: „and other reasons to love Hamburg“), ein englischsprachiges Magazin über besagte Stadt ist jetzt erstmals erschienen. Zweimal pro Jahr soll es herauskommen. Thomas Hahn (SZ) meint: „Dass Hamburg auch echte Probleme hat, müssen die Gentle-Rain-Käufer woanders nachlesen. Das Heft (…) schaut nicht auf jene grauen Orte, die auch zu Hamburg gehören, aber weit weg sind von den Villen Harvestehudes oder den hippen Ecken des Schanzenviertels. Es geht um die ‚Gründe, Hamburg zu lieben‘. Warum auch nicht? Wer die tiefe, für Fremde manchmal irritierende Zuneigung der Hamburger zu ihrer Stadt verstehen will, sollte sich wirklich dafür interessieren.“ Das Hamburger Abendblatt berichtet natürlich auch.

+++ Und „wer überträgt die Tour der France 2017?“ Das fragt der Tagesspiegel.

Neues Altpapier gibt es wieder am Dienstag.