Medienschaffende und Mediennutzende
Eine spannende Journalismus-Debatte in fast schon ungewöhnlicher Form (lange Texte). Medienwächter geben Jan Böhmermann recht und appellieren an Zuschauerinnen und Zuschauer (rührend!). Und was geht in den sog. Telemedien? Außerdem: Journalisten mit schwarzen Balken über den Augen; guter Rat für die ARD.

Uii, eine Debatte über Journalismus in den Medien, die nicht auf Battles in Tweets unter Tweets unter Tweets basiert (oder auf Kommentare-Strängen mit "Mehr anzeigen"-Option bei Facebook, bei denen nicht mal klar ist, ob sie allen, denen sie erscheinen, gleich angezeigt werden). Vielmehr reagiert ein gut 20.000 Zeichen umfassender Text auf eine 122-seitige PDF-Datei.

Beim 122-Seiter handelt es sich um Hans-Jürgen Arlts und Wolfgang Storz' Otto-Brenner-Stiftungs-Studie Arbeitspapier "Journalist oder Animateur - ein Beruf im Umbruch" (siehe u.a. Altpapier aus dem Mai). Die Reaktion kommt von Volker Lilienthal, dem Qualitätsjournalismus-Professor aus Hamburg, der sich schon bei der ersten Vorstellung von Arlt/ Storz-Thesen (Altpapier aus dem März) kritisch darüber äußerte.

Nun watscht er sie bei carta.info sowie in Message, der nach eigenen Angaben "Internationalen Zei??t??s??c??h??r??i??f??t? für Journalismus" gründlich ab. Bevor er am Ende zum harschen Fazit

"Ganz offenbar haben wir es hier mit zwei altgedienten Zeitungsmännern zu tun, die sich in der digitalen Medienumwelt nicht mehr recht wohlfühlen. Das geht vielen so, das kann man sogar verstehen. Nur sollte man aus diesem Gefühl der Fremdheit keine Theorie ableiten, die Gültigkeit beansprucht und sich herausnimmt, tatsächliche oder mutmaßliche Normabweichungen streng aus dem Reich des Journalismus zu verweisen"

gelangt, hat er u.v.a. die grundsätzliche Methodenkritik erhoben, dass im Arbeitspapier "das Akute mit dem Chronischen vermengt wird" (wobei das Akute "der Vertrauensverlust" der Medien und das Chronische ihre ökonomische Krise seien). Außerdem gibt es eine Nickeligkeit um die Verwendung des bildhaften Begriffs "Abwatschen" sowie den Vorwurf mangelnder Wissenschaftlichkeit. Im Umgang damit ist zumindest Storz bereits erfahren, weshalb die Studie auch gar nicht Studie, sondern "OBS-Arbeitspapier" heißt.

Lilienthal trifft einige wunde Punkte, so wie auch Arlt/ Storz einige sinnvolle Vorschläge gemacht hatten, z.B. zwischen den häufig synonym verwendeten Begriffen Journalismus und Medien zu unterscheiden und dafür die gern en passant getroffene, sowieso oft subjektive Unterscheidung zwischen Qualitätsjournalismus und Journalismus bleiben zu lassen. Das Arbeitspapier hat also eine vergleichsweise spannende Journalismuszukunftsdiskussion angestoßen (und das die nun u.a. auch in Tweets unter Tweets weitergeht, spricht nicht dagegen).

[+++] Deutsche Medienwächter geben Jan Böhmermann recht. Nicht, was dessen prominenteste Auseinandersetzung angeht, also die mit dem beleidigten Sultan eines befreundeten mutmaßlichen Schurkenstaats. Schließlich arbeitet Böhmermann fürs öffentlich-rechtliche Fernsehen, das nicht im geringsten ins Aufgabenfeld der vierzehn deutschen Landesmedienanstalten fällt. Doch der Coup, mit dem der (aktuell in Sommerpause befindliche) ZDF-Neo-Entertainer nach seiner Erdogan-Sonderpause im Mai überrascht hatte, die Aufdeckung der Praktiken einer RTL-Show, der hat nun die Medienwächter beschäftigt.

"Böhmermanns Enthüllungen sorgten (zu Recht) für großes Aufsehen", heißt es im Prüfreport 02/2016 (S.6), einer ebenfalls als PDF-Datei gestalteten, aber mit 14 Seiten schlanken Publikation der nordrhein-westfälischen Anstalt LfM, und

"Der Fall 'Schwiegertochter gesucht' ist ein Beispiel für zwielichtige Produktionspraktiken bei sog. Reality-Formaten".

Der überschaubare Beitrag schließt mit einem "Appell an Zuschauerinnen und Zuschauer":

"Neben der Verantwortung der Medienschaffenden ist auch an die Verantwortung der Mediennutzenden zu appellieren: Es wird nur das produziert, was die Zuschauerinnen und Zuschauer sehen wollen",

heißt es da, typographisch in schwarzer und gelber Schrift gestaltet. Während dieser Artikel vor allem seiner rührenden Aus-der-Zeit-Gefallenheit wegen zitiert zu werden verdient, lautet die härtere, ebenfalls tagesaktuelle Meldung (EPD/ evangelisch.de), dass die "RTL-Sendung 'Schwiegertochter gesucht' künftig verhindern [will], dass Kandidaten mit geistiger Beeinträchtigung teilnehmen".

 Dazu hat die für das in Köln ansässige RTL zuständige niedersächsische NLM mit dem Sender "eine Reihe von Vorgaben zur Auswahl und Präsentation der Teilnehmer" vereinbart, die allerdings geheim bleiben ("Welche Vorgaben im Detail vereinbart wurden, wollte der NLM-Direktor nicht sagen").  

Vermutlich würde RTL andernfalls im harten Wettbewerb um Fernsehshow-Formate, die Menschen in medienrechtlich noch tolerabler Form so der Lächerlichkeit preisgeben, dass es viele andere Menschen sehen wollen, ähnlich zurückfallen, wie die ARD im Wettbewerb um Ex-Fußballspieler, die publikumsattraktiv beim  Aufblasen der Fußballspiel-Vor- und Nachberichterstattung helfen, zurückfallen würde, wenn sie auf einmal Mehmet Scholls Honorare mitteilen müsste.

Für die Dumont-Presse hat Kendra Stenzel noch etwas mehr aus dem NLM-Direktor Andreas Fischer herausgekitzelt als der EPD, u.a. die Einschätzung, dass seine Anstalt "bereits über die klassischen Aufgaben einer Medienaufsicht hinausgegangen sei", und:

"Nach den #Verafake-Enthüllungen geht Fischer davon aus, dass die Staffel, die im Herbst ausgestrahlt wird, wesentlich stärker beobachtet wird als bisherige Staffeln. 'Ich bin optimistisch, dass RTL und Warner es tunlichst vermeiden werden, durch die Art der Darstellung nochmal in die Kritik zu kommen.'"

Optimistisch, dass die nächsten Staffeln stark beobachtet werden, ist gewiss auch RTL, sonst hätte es die in zehn Staffeln vermutlich schon ziemlich auserzählte mittel-menschenverachtende Sendung einfach abgesetzt. Vielleicht noch optimistischer kann RTL die Tatsache machen, dass die "demnächst wieder im Programm" zu sehende Staffel zunächst noch Chancen bietet, wie gewohnt auch beeinträchtigte Teilnehmer vorgeführt zu bekommen. Deren Produktion fand vor den Gesprächen mit den Niedersachsen statt, so dass die Hilfestellung dafür noch nicht greifen konnte.

Als Lehrstückchen über die Abstrusität der sog. deutschen Medienaufsicht dürfte die niedersächsisch-kölsche "Schwiegermutter gesucht"-Story aktuell bleiben. Im bewegten Internetauftritt der NLM selbst findet man den Begriff "Schwiegertochter" zurzeit übrigens nicht, aber, zum Beispiel, den Begriff "Telemedien" stolze 522 Mal.

[+++] Telemedien ist einer der Begriffe, die in Medienalltag und Lebenswirklichkeit keine Rolle spielen, aber im deutschen Rundfunk-, also Medienrecht. Grob gesagt, sind Telemedien halt Internet. Speziell lassen sich auch nicht linear ausgestrahlte, also nichtlinear abrufbare Fernsehsendungen darunter fassen, für die nämlich weiterhin andere Regeln gelten als für solche im RTL- oder Sat.1-Programm. Zum Beispiel die Webserie "Der Lack ist ab" von und mit Kai Wiesinger auf sat1.de oder "Lucie Marshall" u.a. auf luciemarshall.com. Dabei handelt es sich trotz des Titels auch um eine deutsche Serie, deren Herstellung der Autohersteller Skoda bezahlt hat.

Vor allem mit diesen Webserien befasst sich der heutige Aufmacher der SZ-Medienseite:

"Zukunftsmodell? Sittenverfall? Oder beides? Es dauert genau zehn Sekunden, bis die drei bösen Wörter auftauchen. 'Unterstützt durch Produktplatzierungen', heißt es am unteren Bildrand ...",

leitet Michael Moorstedt seinen Artikel ein. Denn für nonlineare Produktionen, ob sie nun von Netflix verbreitet werden oder von einheimischen Möchtegern-Rivalen, gelten andere, schwächere Regeln als fürs Medienanstalten-kontrollierte lineare Privatfernsehen. "Bezogen auf Drehbuch und Schauspiel sind die beiden Produktionen solides Mittelmaß, die Art und Weise ihrer Finanzierung ist dagegen aber beinahe Avantgarde", schreibt die SZ. Die Werbung so zu verpacken, dass sie Zuschauern nicht unangenehm auffällt,

"gelingt, freundlich ausgedrückt, beiden Serien nur so mittelprächtig. Das stets perfekt polierte Auto wird schon mal zum alleinigen Spielort. Es wird zuweilen so penetrant inszeniert und dabei gern auch ausgiebig von außen gefilmt, dass sich die Frage, was zuerst da war, das Produkt oder der Plot, gar nicht mehr stellt. Wenn es darum geht, wie toll die Sitzheizung der angepriesenen Karre ist, stößt halt selbst einer wie Wiesinger an kreative Grenzen."

Das ist kenntnisreich geschrieben und flott formuliert, dabei nicht unnötig böse gegenüber Wiesinger, der schließlich in einem hochkompetitiven Markt Wagnisse eingeht. Bloß im letzten Absatz, nachdem auch noch mal wieder erklärt wurde, warum Seifenopern eigentlich "Soap Opera" genannt wurden, könnten Leser stutzen: Das junge Publikum, heißt es,

"steht dem Kommerz recht unkritisch gegenüber, mit Einschränkungen. Während glatte Reklamebotschaften mit reiner Verkaufsabsicht, also herkömmliche Werbespots, eher abgelehnt werden, ist man gegenüber integrierten Markeninhalten mehr und mehr aufgeschlossen, wenn sie klar identifizierbar sind - und zudem einen Mehrwert für das eigene Leben bieten."

Scheint fast, als sei da in den kritischen SZ-Artikel ein völlig anderer Tonfall reingerutscht. Das könnte damit zu tun haben, dass der Verlag der SZ solche Dienstleistungen mit Mehrwert für Marken natürlich ebenfalls anbietet.

Das ist eben die digitale Medienumwelt der 2010er Jahre: Alles wächst zusammen, alle, die Medien und Journalismus (was keinesfalls identisch ist) anbieten, konkurrieren mit allen und bieten dem großen, aber schwierigen Markt vieles andere an, womit sie Geld verdienen können (oder das erhoffen). Vor diesem Hintergrund ist es schon gut, wenn über klare Definitionen von zentralen Begriffen gestritten wird, auch wenn vermutlich niemand damit rechnet, seine Definitionen weiträumig durchsetzen zu können.
 


Altpapierkorb

+++ Wer auf stern.de Nannenbambi-verdächtige Reportagen wie "Sylvie Meis und Co. holen die Bikinis raus" lesen und/ oder anschauen möchte, kann das auch mit aktivierten Adblockern weiterhin tun. So mutig wie bild.de sind sie bei Gruner + Jahr nicht. Er muss aber damit umgehen, dass anstelle ausgeblendeter Anzeigen Hans-Uli Jörges, Christan Krug, Micky Beisenherz oder sogar Philipp Jessen (also Journalisten des Stern, oder, mit Arlt/ Storz gesprochen: eher "Animationsarbeiter"?) mit schwarzem Balken über den Augen erscheinen. Falls Sie eigentlich stern.de gar nicht anklicken, hier gibt's alle vier Motive der auf stern.de/blockxit-Kampagne ("Erste Hilfe für Adblock-Süchtige") auf einmal. +++

+++ Gestern groß auf der SZ-Medienseite, im Altpapier leider nicht erwähnt: eine abenteuerliche Rundreise des Feuilletonisten Johan Schloeman, die als TV-Kritik an einer Medien-Doku der ARD, dieser, beginnt ("Und - was soll man sagen, ohne AfD und Pegida weiter in die Hände spielen zu wollen? Am besten wohl die Wahrheit: Der Film ist, nun ja, kurzatmig, oberflächlich und selbstgerecht geworden") und dann zum gestern hier durchaus erwähnten Jürgen Habermas überleitet ("An Habermas kann man exemplarisch sehen, dass nicht nur schnell klickende Netztrolle selektiv lesen. So ist seine Behauptung, unter anderem die 'Süddeutsche Zeitung' habe den 'technokratischen' Europa-Kurs der Bundeskanzlerin unkritisch befürwortet, nachweislich falsch - aber einer der führenden Intellektuellen Europas sagt so etwas trotzdem einfach mal gerne"). Schließlich hat Schloeman noch guten Rat für die ARD parat ("Man könnte die Talkshows weiter reduzieren. Man könnte aufhören, die Leute jeden Abend für dumm zu verkaufen, indem man ein Thema kurz anreißt und dann sagt: Wenn Sie sich für die wirklich spannenden Hintergründe interessieren, dann gehen Sie doch auf unsere Internetseite! Man könnte den Brennpunkt abschaffen und stattdessen jeden Abend Brennpunkt machen, aber ohne Sigmund Gottlieb ..."). Und all das in einem Zeitungsartikel! +++

+++ Schon der nächste Longread in der eingangs erwähnten Journalismus-Debatte bei carta.info. Er stammt von Richard Meng und wird wohl morgen hier Thema sein. +++

+++ "... Zwar hat Facebook nach massivem medialem und politischem Druck zum Jahreswechsel 2015/2016 ein Löschteam der Firma Arvato mit angeblich 300 'Customer Care Agents' beauftragt, rassistische, Gewalt verherrlichenden, diskriminierende und fremdenfeindliche Inhalte zu entfernen. Wie das geschieht und nach welchen Kriterien, blieb bis heute im Dunkeln. Facebook ist das bevorzugte Instrument für Hasspropaganda geblieben" (Thilo Weichert, bis 2015 Schleswig-Holsteins Datenschutzbeauftragter, hat die Laudatio auf den aktuellen Verschlossene Auster-Preisträger Facebook gehalten; sie steht bei netzpolitik.org). +++

+++ "'Einfach gesagt, nutzt Hamas Facebook als Werkzeug für Terrorismus', heißt es an einer Stelle der rund 60-seitigen" und milliardenschweren "Klage, die am Sonntag in New York eingereicht wurde", und zwar von in Israel lebenden Terroropfer-Angehörigen (APA/ Standard). +++

+++ Auf der FAZ-Medienseite ist Facebook Topthema wegen seiner noch neuen Möglichkeit, Videos live zu verbreiten. Nina Rehfeld gibt eine US-amerikanische Medienschau dazu: "'Sind die Videos schuld an der tödlichen Attacke auf Polizisten in Dallas?', fragt die 'Los Angeles Times' in einem Leitartikel und meint, die emotionale Wirkung der Bilder schalte nicht nur ethische und gesellschaftliche Erwägungen aus. Sie suspendiere auch die Frage, wie verlässlich die rohen Informationen der Augenzeugen-Videos eigentlich sind. Die Videos entsprechen dem diffusen Verlangen, 'unzensiert' und direkt im Bild zu sein. 'Raw' ist das neue Zauberwort bei Facebook, das seit einigen Wochen live gesendete Videos weltweit verfügbar macht". +++ Per Glosse/ Kommentar daneben meint Ursula Scheer: "Wer einen nicht kuratierten Kanal öffnet, muss damit rechnen, dass dort öffentlich gequält, gemordet und gestorben wird. Die Videos verschwinden irgendwann, aber erst startet sie die Standardeinstellung automatisch, wenn sie im Newsfeed auftauchen. Bei Facebook, das sich als Nachrichtenanbieter profiliert, aber keine publizistische oder journalistische Verantwortung tragen will, heißt es, man sehe das Problem, könne es aber nicht so einfach lösen." +++

+++ Außerdem wieder FAZ-Thema: der bei Arte abgesetzte Dokumentarfilm "Der Fall Magnizki" (siehe zuletzt dieser Altpapierkorb). Jetzt wurde er in Moskau gezeigt. "Der Festivalleiter Nikita Michalkow kam eigens aus dem Krankenhaus, um Nekrassow zu umarmen und seinen 'Mut' zu loben. Die Publizistin und Menschenrechtlerin Soja Swetowa ... findet Nekrassows Film hingegen schwach und eklektisch. ... Swetowa hält Nekrassow ... für einen selbstverliebten Wichtigtuer ...", schreibt Kerstin Holm. +++

+++ "Die mutigsten Journalistinnen der islamischen Welt" stellt Constantin Schreiber bei zeit.de vor (und schlägt sie für den Raif Badawi-Award vor). +++

+++ Jung gestorben ist die ZDF-Sportmoderatorin Jana Thiel (heute.de). +++

+++ Was die fürs Leistungsschutzrecht für Presseverleger streitenden Verlage damit bereits verdienen, "nichts. Schlimmer: Die beteiligten Verlage zahlen sogar drauf", hat heise.de einer "kürzlich veröffentlichten Stellungnahme der Verwertungsgesellschaft zu einer Anfrage der EU-Kommission bezüglich eines europaweiten Leistungsschutzrechts" (siehe netzpolitik.org neulich). +++

+++ Und falls Sie noch nicht gehört haben, wer nun als Ruprecht Polenz' Nachfolgerin dem ZDF-Fernsehrat (AP vom Freitag) vorsitzt: Es ist Marlehn Thieme, Vertreterin der Evangelischen Kirche (evangelisch.de). Über die "in der Querschnittigkeit des Gremiums" weiterhin wohl bestehende "Vorklärungsfunktion" der schwarzen bzw. roten Freundeskreise berichtete uebermedien.de. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Mittwoch.