Jein natürlich
Netflix "verdonnert"? Die Presseverleger jedenfalls wieder in neuer "Not": die frischen Was-mit-Medien-Digitalgesetzesvorschläge von Günther Oettinger der EU-Kommission sind raus und stehen schon mitten im Stahlgewitter der Interpretationen und Lobby-Positionen, sogar beim Schuhhandel. Ansonsten haben sie noch einen weiten Weg vor sich.

Gestern haben Andrus Ansip, El?bieta Bie?kowska, Günther Oettinger und V?ra Jourová, also hat das estnisch-polnisch-deutsch-tschechiche Kommissare-Gespann der EU-Kommission, ihre seit langem und seit letzter Woche (Altpapier) konkret erwarteten Medien-/ Digital-Gesetzespaket-Vorschläge vorgestellt. Sie sind in zwei in jeweils 23 Sprachen, darunter auf deutsch zu habenden Pressemitteilungen zusammengefasst. "Eine Mediengesetzgebung für das 21. Jahrhundert" heißt eine ambitionierte Unterüberschrift in der, in der es eher um Medienpolitik geht, kaum dass Oettinger den nachdenkenswerten Satz "Die Art, wie wir fernsehen oder Videos anschauen, mag sich verändert haben, nicht jedoch unsere Werte" geäußert hat. In der anderen Mitteilung geht es eher generell um Handel ("Das Vertrauen der Verbraucher in den Online-Handel steigern").

Jedenfalls kommt eine Menge Stoff zusammen, von dem schwer einzuschätzen ist, wie wichtig er werden wird. Schließlich ist von der amtierenden EU-Kommission, deren Chef Jean-Claude Juncker bei der Europawahl 2014 als EU-weiter Spitzenkandidat gewählt worden war, vor allem bekannt, dass zurzeit niemand weiß, wie wichtig selbst das, was sie zu überall als wichtig empfundenen Themen wie etwa der Flüchtlingspolitik so sagt und meint, tatsächlich ist.

Aus dem vielen Stoff greifen sich viele Medien, die sich für Medienthemen interessieren, etwas heraus, was sie selbst interessiert. Spiegel Online machte gestern nachmittag zeitweise ganz oben auf der Startseite mit der beschlossenen "Quote für Netflix und Amazon", was europäische Produktionen betrifft, auf, also der "Europa-Quote", zu der die Kommission auch kalifornische Konzerne "verdonnern" (dwdl.de) wolle.

Dagegen hebt die tagesschau.de der ARD lieber auf das Problem des Geoblockings beim Schuhe-Onlinekauf ab (vielleicht weil der NDR-WDR-Süddeutsche-Rechercheverbund gerade am "Zalando-Check", wenn nicht "Zalando-vs.-Deichmann-Check" arbeitet ...). Und ein Foto des attraktiv korpulenten Netflix-Stars Gérard Depardieu, zumal mit zwei Frauen an seinen Seiten, vermag nun wirklich jede illustrierte Webseite zu schmücken. Unter so einem meldet berliner-zeitung.de via AFP u.a.:

"Außerdem will die EU-Kommission im Fernsehen mehr Werbung über sogenannte Produktplatzierungen und gesponserte Inhalte erlauben. Mehr Raum für klassische Werbeblocks ist nicht vorgesehen",

was insofern grob falsch ist, als dass die EU Fernsehsendern geradezu im Gegenteil erlauben will, künftig viel mehr Werbung als die bislang innerhalb einer Stunde gestatteten zwölf Minuten zu senden. Bloß im gesamten Tagesverlauf soll "die Obergrenze eines Sendezeitanteils von 20 % zwischen 7 Uhr und 23 Uhr ... erhalten" bleiben. Falls Zuschauer "von zu viel Fernsehwerbung genervt sind, können" sie inzwischen ja "auf werbefreie Online-Angebote umsteigen, die es noch vor zehn Jahren nicht gab", argumentieren die Kommissare in ihrer o.g. Mitteilung.

Sind die deutschen Privatsender, die z.B. dann Heidi-Klum-Shows oder teuer eingekaufte Fußballspiele am Abend außer mit Produktplatzierungen über den Überdruss hinaus auch mit noch mehr offizieller Werbung füllen dürften, sofern sie das frühmorgens ausgleichen, zufrieden? Jein, zitiert horizont.net Tobias Schmid, den weiter unten nochmals erwähnten Chef der Privatsender-Lobby VPRT (falls Details interessieren: vprt.de). Wobei aufschlussreicher ist, dass aus dem Grund, aus dem zumindest die Privatsender zufrieden sind, wiederum die Zeitungs- und Zeitschriftenverleger unzufrieden sind:

"VDZ und BDZV kritisieren hingegen die Pläne, Fernsehwerbung in der Primetime ohne relevante zeitliche Beschränkung zuzulassen. Die noch geltende Regelung, die 12 Minuten TV-Werbung pro Stunde ermöglicht, diene sowohl dem Schutz der Verbraucher als auch der Verteilung der Werbebudgets auf die konkurrierenden Medien TV und Presse. Dieses System dürfe nicht ohne Not zum Nachteil der Zeitungen und Zeitschriften aufgegeben werden",

melden horizont.net und natürlich (unter der Überschrift "... sehen Licht und Schatten in neuer ...Richtlinie") die Verleger selbst. Während die Privatsender sich freuen, im Wettbewerb mit internationalen bzw. eigentlich ausschließlich US-amerikanischen Videoportalen mehr von dem tun zu dürfen, wodurch sie Geld verdienen, also Werbung zu verkaufen, sehen die Verleger die einheimischen Sender als Konkurrenten um dieselbe Werbung. Zuschauer, die sich von zuviel Werbung im Fernsehen genvervt fühlen, werden als Reaktion wahrscheinlich kein E-Paper abonnieren. Insofern haben die Verleger recht. Dass Verleger, wenn sie von "Not" sprechen, meist ihre eigene meinen, illustriert das Beispiel andererseits auch gut.

Jetzt aber zu den anderen Lobbys. Was sagt Netflix, springt jemand auf die marktliberale "Kulturprotektionismus"-Steilvorlage an?
Jein natürlich.

"Feste Quoten mögen in der alten Fernsehwelt mit ihrer beschränkten Zahl an Sendern und Sendezeiten ihre Berechtigung gehabt haben. Durch die Digitalisierung ist die Angebotsvielfalt größer als je zuvor. ... Ein Anteil von 20 Prozent europäischer Werke im Angebot der Streaming-Dienste führt nicht automatisch dazu, dass die Zuschauer diese auch anschauen",

lässt Bitkom-Hauptgeschäftsführer Bernhard Rohleder verlauten. Der Bitkom ist nach eigenen Angaben "der Digitalverband Deutschlands". Er ist zumindest einer der deutschen Digitalverbände. Seine Mitglieder sind außer "1.000 Mittelständlern" auch "nahezu alle Global Player". Netflix selbst hat zurzeit gar keine deutsche Niederlassung, dürfte ideell aber vertreten sein. Die direkte Netflix-Äußerung zitieren Michael Hanfeld bei faz.net indirekt und am ausführlichsten dwdl.de (selber Link wie oben):

"'Unsere Kunden auf der ganzen Welt lieben europäische Produktionen. Deshalb erhöhen wir die Investitionen darin', sagte ein Netflix-Sprecher gegenüber dem Medienmagazin ... 'Und wir schauen aktiv nach weiteren Projekten', kündigte der Streamingdienst an. ... Bei Netflix heißt es, man schätze das Vorhaben der EU-Kommission, europäische Produktion aufblühen lassen zu wollen. 'Nichtsdestotrotz würden die vorgeschlagenen Maßnahmen nicht zu diesem Ziel führen', sagte der Netflix-Sprecher."

Sollte das wirklich ein direktes Gespräch gewesen sein sollte (und nicht einfach ein "aktuelles Statement", wie SPON es nennt), hätte der Fragesteller womöglich nachfragen können, ob Netflix denn Ideen für bessere Maßnahmen hätte oder mit seinem hohen Output an auf der ganzen Welt vermarkteten US-Produktionen überhaupt ein Interesse an halbwegs hohem europäischen Anteil haben könnte. (Wobei die erwartbare Antwort wiederum Rohleder hat: "gezieltere Förderung von publikumswirksamen und qualitativ hochwertigen Filmen und Serien in Europa"; gegen spezielle Subventionen für ihre Mitglieder hätte keine Lobby etwas einzuwenden).

Kurzum: Aufregung über die "Europa-Quote", wie die FDP sie gerne hätte, stellt sich schon deswegen nicht ein, weil den bescheidenen 20-Prozent-Anteil sowohl Netflix als auch Amazon schon jetzt übertreffen (und das vermutlich auch deswegen, weil ähnliche Regelungen in vielen Ländern der EU längst bestehen). Solange Großbritannien als Mitglied Europas gilt, dürfte sowieso kein Hollywood-Studio damit Probleme bekommen.

Und eine im Film- und Serien-Geschäft wichtige Frage hat die EU-Kommission erst mal ausgeklammert, wie wenige Medien mitbekommen haben. Die europaweite Gleichheit beim Online-Schuhkauf, der sich tagesschau.de widmet (und gegen die es übrigens auch eine Lobby-Position gibt; die des Bundesverbands E-Commerce und Versandhandel hat der Tagesspiegel in seine Umschau gemixt ...), wurde für Videos wohl noch nicht anvisiert. "An den Vertrieb von urheberrechtsgeschützten Online-Inhalten wie Musik, Filme oder E-Books hat sich die Kommission noch nicht herangewagt", liest zumindest Stefan Krempl (heise.de) aus den Ankündigungen heraus.

Ob Geoblocking für Filmrechte schädlich ist oder im Gegenteil kleinere Unternehmen als "Territorialitätsprinzip" solche aus kleineren Märkten vor globalen Konzernen schützt, ist noch eine in den Lobbys (produzentenallianz.de) umstrittene und in der europäischen Realität noch überhaupt nicht ausprobierte Frage.

Dafür könnte ein anderer Aspekt der vorgestellten Beschlüsse spannend werden, auf den SPON (selber Link w.o.) weiter unten in seinem Artikel kurz aufmerksam macht:

"Den Maßnahmen, die die Kommission am Mittwoch vorstellte, müssen noch das Europaparlament und die EU-Mitgliedstaaten zustimmen. Von Letzteren erwartet Kommissar Oettinger Widerstand. Die geplante Stärkung der Unabhängigkeit der Aufsichtsbehörden werde dort 'am ehesten für Diskussionen sorgen' - und zwar auch in Deutschland. Denn dort entspreche 'die Unabhängigkeit der Rundfunkgremien auch noch nicht unseren Erwartungen', so Oettinger."

Ganz abgesehen davon, dass es bis zur Zustimmung in 28 EU-Staaten ein weiter Weg ist: Diesen Aspekt, den die Kommissions-Pressemitteilung luzide "Eine Stärkung der für die für audiovisuelle Medien zuständigen Regulierungsstellen" nennt, bezog Oettinger in der Pressekonferenz gestern auch auf die öffentlich-rechtlichen deutschen Sender. Die sind ja nur in der speziellen nationalen Sichtweise von der sonstigen Regulierung ausgenommen und durch ihre eigenen Aufsichtsgremien reguliert.

Umgekehrt könnte genau das heißen, dass Zustimmung zu solchen EU-Kommissions-Ideen durch das Mitgliedsland Deutschland nicht etwa Zustimmung des Bundestags, sondern durch sämtliche sechzehn Landesparlamente heißt und der Weg noch weiter würde ... Und das, während weite Teile desselben Stoffs in den geheimen TTIP-Verhandlungen durchgenommen und womöglich gegen Vorteile für die europäische Automobilzulieferindustrie abgewogen wird.

Am Rande der zuvor genannten Hinsicht verdient noch Erwähnung, dass der oben erwähnte beinharte Privatsender-Lobbyist Tobias Schmid, der RTL-Vertreter im VPRT, demnächst einer der deutschen Landes-Medienwächter werden könnte, und zwar als neuer Chef der nordrhein-westfälischen Landesanstalt für Medien, also Nachfolger Jürgen Brautmeiers der in diesem speziellen Biotop wohl einflussreichste.
 


Altpapierkorb
+++ Die einzige europäische Institution, die bereits bewiesen hat, dass sie global agierenden Digitalkonzernen etwas abringen kann, der Europäische Gerichtshof, bekommt wieder etwas in der Richtung zu tun: "Der irische Datenschutzbeauftragte wird nach Angaben des österreichischen Juristen Max Schrems erneut den Datentransfer durch Facebook in die USA vor den ... EuGH... bringen", meldet futurezone.at. Schrems "erwartet, dass bei einem neuerlichen Urteil des EuGH Facebook die Datenweitergabe von seinem internationalen Hauptquartier in Dublin in die USA komplett untersagt würde". Dass solche Erwartungen eine gewisse Berechtigung haben, ist ja mit das Schöne an diesem Europa. +++

+++ "Vor allem aber erstickte der Konzern nach und nach unter der Schuldenlast durch die kreditfinanzierten Käufe": von der für Schweden spektakulären Insolvenz eines Medienkonzerns, des dort "zweitgrößten Zeitungshauses" Stampen, berichtet in der TAZ Reinhard Wolff. +++

+++ Eine gute Nachricht: die aserbaidschanische Journalistin Khadija Ismajilowa ist frei (reporter-ohne-grenzen.de). +++ 2012 "hatte die Journalistin Aufnahmen zugespielt bekommen, die sie angeblich beim Sex mit ihrem Freund in ihrem Schlafzimmer zeigten. In einem beiliegenden Brief wurde ihr eine 'öffentliche Erniedrigung' angedroht, sollte sie sich nicht 'anständig verhalten'. Als Ismajilowa nicht auf diese Erpressungsversuche reagierte, landeten die Fotos im Netz" (die TAZ über Ismajilowas Geschichte). +++

+++ "Außerhalb der Vereinigten Staaten mögen es nur wenige wahrgenommen haben, dass der Fernsehjournalist Morley Safer am 19. Mai im Alter von 84 Jahren gestorben ist. Was aber über die Grenzen der USA hinaus Bedeutung hat, ist die Tatsache, dass mit Safer der letzte Repräsentant der großen alten Garde von amerikanischen Fernsehreportern den Bildschirm verlassen hat", berichtet Franz Everschor aus den USA bei medienkorrespondenz.de: "Wer alt genug ist, um sich an Morley Safers hautnahe Berichterstattung aus den Schützengräben des Vietnamkriegs zu erinnern, mit denen er sogar den Zorn von US-Präsident Lyndon B. Johnson weckte, der weiß, wie weit heutige TV-Reportagen von Kriegsschauplätzen und anderen Zentren des politischen und gesellschaftlichen Geschehens häufig von der auch im Fernsehjournalismus einzufordernden Wahrhaftigkeit entfernt sind." +++

+++ Hendrik Zörner vom DJV wünscht "der Journalistin Demmer ..., dass sie sich von der neuen Aufgabe nicht so verformen lässt wie ihre beiden Kollegen" Steffen Seibert und Georg Streiter. +++

+++ Nachdreh-Meldungen zur gestern hier erwähnten Xavier-Naidoo-Doku bzw. -"Doku", sowohl dem, was Naidoo darin sagt, als auch der Kritik daran, gibt's im Tagesspiegel ("... dass der Soulsänger Xavier Naidoo überzeugender auftritt als der Bürger Xavier Naidoo") und bei sueddeutsche.de. +++

+++ Der Tagesspiegel informiert Freunde des Fernsehsports über die neuen Sky-Konditionen für Bundesliga-Spieltage und die neuen Biathlon-Übertragungspläne der Öffentlich-Rechtlichen. +++ Und hat mit Gerburg Jahnke, die eine der ca. 250 ARD-Comedyshows leitet, ein tatsächlich lustiges Interview geführt ("Ist Cindy aus Marzahn zum Beispiel weiblicher Humor?" - "Nein. Sie ist eine weibliche Witzfigur. das hat mit Humor nichts zu tun.") +++

+++ Am heutigen katholischen Feiertag sind die Süddeutsche und die Allgemeine Zeitung aus dem nicht soo katholischen Frankfurt heute nicht erschienen. Gestern auf der Medienseite informierte die SZ über die Berliner Fernsehproduktions-Veteranin Regina Ziegler, die am Freitag den Filmpreis "Lola" bekommen wird, und über die ihr aktuell im Filmmuseum gewidmete Ausstellung ("In einer Vitrine liegt Fassbinders Leopardenjacke, ansonsten muss man sich vor einen der Computer setzen und Zieglers unzählige Produktionen abrufen. Es ist ein Streifzug durch die deutsche Unterhaltungsgeschichte, vom 'Tatort' über Arzt-Serien und Schnulzen mit Christine Neubauer, bis hin zu Biopics über Rosa Luxemburg oder Willy Brandt. ..."). +++

+++ Und evangelisch.de-Redaktionsleiter Hanno Terbuyken äußert sich hier nebenan zur Auseinandersetzung zwischen der Organisation Open Doors und der deren Aussagen bezweifelnden FAS darüber, wie sehr christliche Flüchtlinge in deutschen Flüchtlingsheimen verfolgt werden. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.