Wird Facebook entzaubert?
Der Was-mit-Medienberuf mit den besten Berufschancen. Ein ganz neues "Medienschiedsgericht". Die Angst sogenannter sozialer Medien, als Meinungsmacher gesehen zu werden. Was in Propagandamaschinen die Runde macht, braucht nicht unbedingt wahr zu sein, aber einen Anstoß. Außerdem: ein möglicher Vorteil schlechter Fernsehkrimis.

Jan Böhmermann geht heute wieder auf Sendung und an den nächsten Tagen auf weitere Sendungen, darunter das neue Spotify-Audioformat. Die Zielgruppe dürfte vor allem gespannt auf den Zustand der Streitlustigkeit des Entertainers sein. Recep Tayyip Erdogan und sein deutscher Anwalt (bzw. einer seiner deutschen Anwälte) "gehen in die sofortige Beschwerde zum Oberlandesgericht Köln", nachdem es vorm einfachen Landgericht  einstweilig nicht mit einer Verfügung gegen Springer-Chef Mathias Döpfner in seiner Eigenschaft als prominenter geistiger Böhmermann-Sidekick geklappt hat (faz.net u.v.a. ).

Döpfner steht "zu jedem Wort und jedem Komma" seines Offenen Briefs, der ihm die Medienfreiheitskampf-Bonusehre eingebracht hat, sagte er während der vierteljährlichen Telefonkonferenz (tagesspiegel.de u.a.) zu den Geschäftszahlen, die ihm sonst Ehre einbringen. Er geht also mit.

Und die ewige Auseinandersetzung um die einstweilen noch grundsätzlichere Frage um den Rundfunkbeitrag, der u.v.a. dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk erlaubt, Böhmermann zu bezahlen, solange nicht noch reichere globale Unternehmen mehr bieten, kommt wohl endlich vor die höchste, letzte Instanz. Im "Frühjahr 2017" rechnet der Jenaer Anwalt, der nächsten Monat Verfassungsbeschwerde einzulegen plant, mit einer Entscheidung (tagesspiegel.de u.a.).

Nervenzerfetzend spannend sind all diese Verfahren nicht. Schließlich haben bislang so gut wie alle deutschen Gerichte immer für öffentlich-rechtlichen Rundfunk geurteilt. Und viele Urteile, die Schutzbedürfnisse bestenfalls autokratischer ausländischer Staatschefs über die Medienfreiheit stellten, gab es hierzulande auch noch nicht. Die Aufzählung zeigt bloß, welches Medien-Segment unglaublich brummt. Insofern passt ins Bild, dass der Leiter der Sächsischen Staatskanzlei, Fritz Jaeckel (CDU), gerade beim Medienkongress Medientreffpunkt Mitteldeutschland die Einrichtung einer völlig neuen Institution für all so was ankündigte:

"Ein Medienschiedsgericht für Streitfälle in der Bundesrepublik soll voraussichtlich im September in Leipzig seine Arbeit aufnehmen.  ... Einzelheiten sind aber noch nicht bekannt. 'Zum 1. September werden wir die Geschäftsordnung und den Online-Auftritt für die Medienschiedsgerichtsbarkeit vorstellen', sagte Jaeckel." (EPD/ evangelisch.de).

Ein paar Einzelheiten mehr ("Die Räumlichkeiten dafür will die Medienstiftung der Sparkasse Leipzig zur Verfügung stellen") sowie ein Supersymbolbild und ein Power-Porträtfoto Jaeckels stellt mdr.de aus Leipzig zur Verfügung. Auf dem Weg zum Was-mit-Medienberuf mit den besten Berufschancen dürfte jedenfalls der Medienjurist sein.

[+++] Die wirklich verzwickten, das heißt: absolut ungelösten Fragen der Medien-Gegenwart kommen anderswo auf. Deutschland hinkt bereits bei der Gesetzgebung hinterher (falls Sie etwas über die Störerhaftung-Abschaffungsankündigung der Bundesregierung lesen wollen: Svenja Bergt kommentiert sie in der TAZ als "symptomatisch für ihre gesamte Netzpolitik" und antizipiert noch "mögliche Hintertüren ... genug", damit es doch nicht dazu kommt) und erst recht bei der Auslegung der in Mediendingen häufig sehr auslegungsbedürftigen Gesetze.

Die tagesaktuell verzwickte Frage aus den USA, ob sogenannte soziale Medien die aufgelisteten Trendthemen, auf die sie die Aufmerksamkeit ihrer Nutzer lenken, manipulieren (Altpapier gestern), zieht in den USA Konsequenzen nach sich und in Deutschland die Frage (oder Hoffnung), ob Facebooks Entzauberung bevorsteht.

Fünf (bzw. acht) Fragen, die Senator John Thune von den Republikanern, die sich durch mögliche Manipulationen in Facebooks "Trending Topics" benachteiligt fühlen, an Mark Zuckerberg gestellt hat, nennt gizmodo.com, auf dessen Bericht die Aufregung basiert. Eine deutschsprachige Zusammenfassung gibt's bei faz.net.

"Entzauberung ist das richtige Wort. Die inhaltlich angemessene Pointe formuliert Michael Nunez, der Gizmodo-Autor, der seit längerem Facebook wie ein Stachel im Hintern sitzt, selbst. Facebooks Mühen, im Nachrichtenspiel seine Bedeutung auszubauen, offenbaren, dass auch Facebook nur eins der Medienhäuser ist, das es krampfhaft zu ersetzen versucht",

bilanziert Stefan Schulz als selber stacheliger Facebook-Kritiker ("Das Unternehmen unternimmt mit menschlicher Intelligenz einen Raubzug durch die gegenwärtige Medienwelt, die es dadurch gleichzeitig zerstört") bei uebermedien.de. Was genau entzaubert wird:

"einer ältesten Mechanismen, den Medienmenschen seit Jahrzehnten als Taschenspielertrick nutzen: Das Unternehmen verknüpft das uneinlösbare Versprechen einer objektiven Berichterstattung mit Vertrauenserwartungen des Publikums. Während Zeitungen – wie in Deutschland der 'Spiegel', der 'keine Angst vor der Wahrheit' hat; oder die F.A.Z., die als 'Allgemeine' für kluge Köpfe arbeitet – sich dem Problem stellen und ihre Arbeit gegen 'Lügenpresse'-Rufer und Medienverdrossene verteidigen, versteckt sich Facebook hinter unaufgeklärten Missverständnissen und dem fast religiösen Glauben, die emotionslose Maschine wäre der neutrale Heilsbringer ..."

Da stimmt von relativ anderswo im Meinungsspektrum Christian Meier (Springers welt.de) zu:

"Was Facebook, was auch andere Tech-Unternehmen aber um jeden Preis vermeiden wollen, ist eine Einordnung als Medienunternehmen. Wenn überhaupt, sehen sie sich als Kuratoren von Inhalten. Wobei selbst diese Bezeichnung zumindest im tradierten Sinn nicht passt, denn 'kuratieren' bedeutet auch, Inhalte nach einem Qualitäts- und Geschmacksfilter zu beurteilen. Woher diese Angst, selbst als Meinungsmacher wahrgenommen zu werden? Für Facebook und Co. wäre damit die Trennung zwischen Medium und Plattform aufgehoben. Als Medienunternehmen unterlägen sie einer völlig neuen Bewertung und Kategorisierung nach Kriterien wie beispielsweise journalistischer Verantwortung ..."

Was "Facebook und Co." anbieten, ist grundsätzlich manipulierbar, auch wenn es vielleicht nicht immer, sondern nur manchmal manipuliert wird, und es wird von ungenannten, unbekannten Mitarbeitern betreut, von denen die Öffentlichkeit nach Wünschen der kalifornischen Konzerne am besten gar nichts erfahren soll. Das ist eine der Auseinandersetzungen, die derzeit geführt in den Medien geführt werden (und durchaus noch offensiver geführt werden könnten).

[+++] Wobei der Diskurs in Deutschland, wo Facebook seine "Trending Topics" in der Form noch nicht anbietet, in die andere Richtung neigte und, ebenfalls zurecht, beklagte, dass Facebook justiziable deutschsprachige Hasskommentare lange stehen ließ.

Inzwischen wird gelöscht, auf den Philippinen (netzpolitik.org im April), für  Deutschland auch bei der Bertelsmann-Firma Arvato. "Diese Einheit ist allerdings trotz des enormen öffentlichen Interesses eine Blackbox: 'Zapp' durfte nicht nachsehen, wie dort tatsächlich gearbeitet wird", schreibt Daniel Bouhs im Internetauftritt des NDR-Medienmagazins. Darüber sprach er dann mit Bundesjustizministeriums-Staatssekretär Gerd Billen als dem Leiter der "Task-Force 'Umgang mit rechtswidrigen Hassbotschaften im Internet'". Das Videointerview dauert 16 Minuten und macht in dieser Breite auch ganz gut deutlich, wie zurückhaltend die deutsche Was-mit-Medien-Gesetzgebung tickt.

[+++] Die "Propagandamaschine der 'Lügenpresse'-Fraktion in Deutschland" läuft natürlich beileibe nicht nur mit rechtswidrigen, löschenswerten Beiträgen. Wie sie läuft, u.a. dadurch, dass überholte Artikel "noch immer die Runde" machen, obwohl sie sogar von den Urhebern selbst korrigiert wurden, schildern Christian Stöcker und Markus Böhm für Spiegel Online anhand des Amoklaufs in Grafing. Dieses Die-Runde-Machen ist das, was in sog. soz. Medien Trenden heißt (und solange Facebook hierzulande keine "Trending Topics" anbietet, lässt sich mit 10000flies.de behelfen.)

Dass im Grafinger Fall "vorschnelle Berichterstattung" in Medien zum Trenden beitrug, die später zurückgefahren wurde, aber zu spät, um zu Enttrenden beizutragen, wird auch weiterhin beklagt. Z.B. im Blog des DJV, in dem Kritik an Kollegen naturgemäß selten ("Es gibt Tage, an denen man sich schwertut mit der Rolle eines Fürsprechers der Journalistenzunft ...") ist, anhand von Springers Welt.

Direkt mit der "'Lügenpresse'-Fraktion" gesprochen, also ihre Arbeit gegen Medienverdrossene verteidigt haben Journalisten gerade wieder in Dresden, bei einer Bürgerveranstaltung "Medien – zwischen Wahrheit und Lüge":

"Sachsen-Korrespondent Stefan Locke von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sagte: 'Ich nehme den Vorwurf 'Lügenpresse' nicht an'. Es würde nichts bringen, bewusst die Unwahrheit zu berichten. 'Es kommt eh alles ans Licht – von Straftaten durch Asylbewerber wie in Köln bis zu denen von Lutz Bachmann', sagte er."  (EPD/ TAZ, Sächsische Zeitung).

"Es gab aber auch Versöhnliches: So pflichtete Stefan Locke dem Besucher", der zuvor den Rundfunkbeitrag kritisiert hatte, "bei, dass Krimis immer schlechter werden" (nur die SZ).

Wobei die schlechten Krimis, die ARD und ZDF in unglaublichem Ausmaß ausstoßen, zum Glauben, dass alles ans Licht kommt, vermutlich mindestens genau so viel beitragen wie noch so guter Journalismus.


Altpapierkorb

+++ Das drehscheibe-Magazin der Bundeszentrale für politische Bildung hat Angela Merkels gestern hier erwähnte, für meinen Geschmack nicht ungeheuer inspirierte Lokalzeitungskongress-Eröffnungsrede für ein Online-Video mit flotten Beats unterlegt. Interessanter ist, welchen Merkel-Videostoff Googles Youtube rund um dieses Video herum sonst noch anbietet ("kuratiert"?). +++

+++ Im Aufmacher der SZ-Medienseite untersucht Thomas Kirchner die Lage Belgiens anhand seiner Medien: "'Belgien ist kein Land mehr', sagt der junge Journalist Christophe Degreef, 'es fällt seit sechzig Jahren auseinander. Die Teile haben keine gemeinsame Sprache oder Identität.' Die Ansichten über gesellschaftliche Grundsatzfragen, etwa in der Flüchtlings- oder Wirtschaftspolitik, seien auch in den Redaktionen beider Seiten derart unterschiedlich, dass gelegentliche Kooperationen der Zeitungen wenig bewirkten." +++

+++ Außerdem nennt Hans Hoff den ZDF-Fernsehfilm zu Senta Bergers 75. Geburtstag "eine feine, beinahe skandinavisch anmutende Tragikomödie" und bespricht Karoline Meta Beisel die vollkommen skandinavische, nämlich schwedische Serie "Jordskott" +++

+++ "Wir haben es derzeit mit einer multipolaren Krise im Journalismus zu tun". "Früher haben wir wie Propheten vom Berg hinuntergesendet. Das funktioniert nicht mehr. Wir sind längst vom Berg abgestiegen, bewegen uns aber in der Ebene noch unsicher. Ich sehe das aber als Chance ..." (Frank Überall, Chef der schon erwähnten Journalistengewerkschaft DJV im
Standard-Interview). +++

+++ "Wie sieht die neue Fernsehgeneration aus?" - "Vor allem schaut sie nicht mehr linear fern ...": ein Kurzinterview mit der nun nicht mehr kommissarischen Preis-Chefin des Grimme-Instituts, Steffen Grimbergs Nachfolgerin Lucia Eskes, hat die TAZ. +++

+++ "Einen großen Erfolg für die Pressefreiheit hat der Publizist Thomas Leif gemeinsam mit dem Berliner Medienrechtler Carl Christian Müller errungen". Es geht um "die millionenschweren Sponsoring-Verträge" der Universität Mainz mit der Boehringer-Ingelheim-Stiftung (kress.de). +++ "Mit dem Urteil ist aber gleichzeitig Leifs Versuch, eine Grundsatzeinscheidung zur Auslegung des rheinland-pfälzischen Transparenz-Gesetzes zu erreichen, gescheitert" (TAZ). +++

+++ "Den Ausschlag für die rasche Einigung gab wohl das Gutachten eines Generalanwaltes am Europäischen Gerichtshof, der im März für das Landgericht München klären sollte, ob private Provider von der Haftung ausgeschlossen sind oder nicht" (faz.net über die schon erähnte Störerhaftung-Abschaffungsankündigung). +++

+++ Die Agenturmeldung zum Tod der "Pittiplatsch"-Erfinderin Emma Maria Lange ist am schönsten aufgemacht bei der BLZ. +++

+++ In Köln hat dwdl.de neue Büros und diese auch schon eingeweiht. +++

+++ Und falls Sie oben nicht geklickt haben: Leicht rührend an Stefan Schulz' oben erwähntem uebermedien.de-Artikel ist übrigens, wie es am Anfang erst mal um das altehrwürdige Zeitungs- und vor allem FAZ-Textgenre "Glosse" geht ("Der Platz für Glossen in Zeitungen und auf ihren Internetseiten ist stets oben in der Ecke..."), bevor dann Facebook selbst in den Fokus rückt ... +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.