Anonyme Kuratoren
Heute geht es langweilig los (mit einer Medienkongress-Eröffnung der Bundeskanzlerin). Die glücklich machende Breite der Zeitungslandschaft. Aber dann wird's brisant: Sollten "Trending Topics", die die Agenda bestimmen, verantwortungsvoll gewichtet werden? Werden sie es längst, sollten es aber nicht? Außerdem: wer alles souverän die aktuellen Erdogan-Böhmermann-Stöckchen übersprungen hat.

Hey, die Bundeskanzlerin, die - was immer man von ihrer Politik hält - ja zumindest pausenlos zwischen wichtigen Schauplätzen der zahlreichen Politikfelder umherjettet, auf denen sie sich engagiert, hat einen Medienkongress mitten in Berlin mit einer grundsätzlichen Ansprache eröffnet. Was sagte sie so?

"... Zeitungen würden im digitalen Zeitalter zwar von den neuen Medien bedrängt, aber nicht verdrängt. Das Internet ermögliche traditionellen Zeitungen eine neue Reichweite ..." (EPD/ evangelisch.de).

"Merkel mahnte Verlage und Journalisten, sich immer um Qualität zu bemühen. 'Gute Journalisten sind und bleiben das wertvollste Kapital von Zeitungen', sagte sie. Nötig sei ein klares Berufsethos. Dazu gehörten Unbestechlichkeit, Seriosität, Recherche und die klare Trennung von Inhalt und Werbung. 'Es geht letztlich um die Glaubwürdigkeit', mahnte sie ..." (Reuters/ Standard).

"Wir können uns glücklich schätzen, in Deutschland eine so breite Zeitungslandschaft zu haben" (DPA/ Kölnische Rundschau).

Zu den häufigst gelobten Eigenschaften der Bundeskanzlerin gehört es nicht, Menschen unmittelbar, etwa durch inspirierende Reden, zu begeistern. Ein paar hundert inspirierendere Reden als diese dürfte sie inzwischen aber doch gehalten haben (auch wenn, zugegeben, die EPD-Überschrift "Merkel: Attacken auf die Presse beschämend für Deutschland" einen weiteren, eigentlich aktuell brisanten Aspekt derselben Rede aufgreift).

Am ausführlichsten dokumentiert, was Angela Merkel gestern sagte (u.a. noch: "Für eine Kommunikationskultur im Internet"), bundeskanzlerin.de. Am farbigsten und auch am reichhaltigsten illustriert ist der zuvor verlinkte Artikel von Andreas Heimann, der ferner verrät, welches Theodor-Fontane-Zitat sie anbrachte, und ein bisschen von der gestern etwas größeren Inspiriertheit des britischen Botschafters profitiert. In der britischen Botschaft in Berlin tagt gerade der Kongress des Verbandes Deutscher Lokalzeitungen e.V., dessen Mitgliederliste tatsächlich von der glücklich machenden Breite des gegenwärtigen Zeitungsangebots kündet.

Ich habe bei einigen davon gesucht, ob sie über die Merkel-Ansprache berichten, bei der Aachener und der Ahlener Zeitung sowie bei der Harke aus Nienburg an der Weser (die im Februar '14 hier schon mal prominent vorkam), in deren Onlineangeboten jedoch nichts gefunden, so wie auch auf Medienseiten überregionaler Zeitungen und der meisten Medienportale nichts darüber steht. Was den Nachrichtenwert betrifft, lässt sich daraus niemanden ein Vorwurf machen.

Wobei Merkel das übliche Versprechen, das hochrangige Politiker Zeitungsverlegern mitzubringen pflegen, nämlich was bei der Mehrwertsteuer zu drehen (Standard: sich "für den ermäßigten Mehrwertsteuersatz auch für elektronische Presseprodukte" einzusetzen), sehr wohl dabei hatte. Verleger, die sich darüber freuen, könnten sich andererseits deswegen sorgen, weil ab 2017 der Mindestlohn auch für Zeitungsausträger gelten wird.

[+++] Einer der Männer, die am sehr frühen Dienstagmorgen in Grafing schwer verletzt worden sind, wollte nicht mit der S-Bahn nach München fahren, sondern war schon beruflich unterwegs. Er ist so ein Zeitungszusteller, wie etwa aus der ausführlichen Augen- und Ohrenzeugen-Umfrage von Springers Welt hervorgeht.

Die Berichterstattung über #Grafing setzte gestern also am frühen Morgen ein und wurde schnell bestimmt vom Info-Schnipsel, dass der Amokläufer was mit "Allah" gerufen habe. Nachdem die Erkenntnis um sich griff, dass der Mann selbst einen eher herkömmlich "wirren Eindruck gemacht" (noch mal Die Welt) und keinen Migrationshintergrund hat, verschwand das Thema wieder von den vorderen Plätzen der Nachrichtenportale und wird heute auch in den gedruckten Zeitungen auf den bunten Panorama-Seiten behandelt.

Nur die Süddeutsche, deren Redakteure teils selber mit der S-Bahn nach München fahren (wie Friedemann Karig, der mit "Ein halbes 'Allahu Akbar' sind zwölf 'Heil Hitler'" ein impressionistisches Stück für jetzt.de schrieb), berichtet auf S. 2:

"Noch nicht eine gesicherte Erkenntnis gab es über den Hergang der Messerattacke oder über den Täter. Da war die Sache für einige englisch- und deutschsprachige Nachrichtenseiten schon klar",

steigt Gökalp Babayigit ein und informiert später am Rande, dass "arabische Fußballkommentatoren" auch mal nach schönen Toren "einfach 'Allahu akbar' ins Mikrofon brüllen". Wie bei fast allem, kommt es meist auf den Kontext an, aus dem die Formulierung aber, wie ebenfalls fast alles, das auf- bzw. zum Klicken anregen könnte, häufig gerissen wird:

"Die arabische Formel, die sich am treffendsten mit 'Allah ist am größten' übersetzen lässt, schoss reflexartig auch auf Twitter an Platz eins der 'Trending Topics' in Deutschland",

gestern morgen, und initiierte sogleich Echtzeit-Fernanalysen sowohl der Tat in Grafing als auch der Berichterstattungen darüber.

[+++] Sollten solche "Trending Topics" in sogenannten sozialen Medien, die unbestreitbar großen Einfluss auf die Themenwahl und -gewichtung klassischer Medien haben, also von verantwortungsvollen Redakteuren gewichtet werden? Bzw.: Sollten sie nicht manipuliert werden, werden es aber natürlich längst?

Diese Frage wird gerade wieder aktuell, und zwar wegen Berichten aus den USA darüber, "welches Potenzial der Manipulation und Parteinahme in Facebook liegt". Ausführlich auf deutsch und mit Links zu den englischsprachigen Originalberichten des Portals gizmodo.com, aber auch des Guardian fasst Hakan Tanriverdi die "Former Facebook Workers: We Routinely Suppressed Conservative News"-Sache zusammen (sueddeutsche.de).

In den USA berichten ehemalige Facebook-Mitarbeiter davon, dass sie aus den bei Facebook trendenden Themen Nachrichten herausgenommen und andere aufgenommen hätten. Aktuell Aufregung herrscht dort, weil Anhänger des fast schon durchgesetzten Shootingstars Donald Trumps sich benachteiligt sehen:

"Der Artikel legt nahe, dass das Kuratoren-Team selbst entscheiden kann, was eine wichtige Nachricht ist - und was nicht. Eine einflussreiche Position, in der möglicherweise Mitarbeiter ohne ausreichende Anleitung arbeiten. Die anonymen ehemaligen Kuratoren beschweren sich, ihre Arbeitsbedingungen als journalistische Hilfskräfte seien mies gewesen, sie hätten im Konzern einen besonders niedrigen Status gehabt: 'Wir wurden wie Roboter behandelt.' Die Berichte sind auch deshalb interessant, weil Facebook sich bemüht hat, die Existenz des Kuratoren-Teams unerwähnt zu lassen ..."

Tatsächlich scheinen diese Kuratoren "junge Journalisten, die über externe Firmen für Facebook arbeiten", zu sein. In Deutschland gilt es ja als Fortschritt, dass nach langer Kritik an Facebooks gleichgültigem Umgang mit Hasskommentaren, die hierzulande, aber nicht nach kalifornischen Maßstäben strafbar sind, Mitarbeiter einer externen Firma (des größten europäischen Medienkonzerns Bertelsmann) beauftragt wurden, solche Kommentare löschen. 

Die Frage, wer wie mit algorithmisch nach Popularität angeordneten Medieninhalten umgeht, ist eine der brisantesten überhaupt in der Medien-Gegenwart. Sie strikt davon zu trennen, ob einem persönlich das gefällt, was aktuell übergewichtet wird und besonders "trendet" oder aber ausgeblendet wird und von den Startseiten verschwindet, iste eine der großen Herausforderungen.

Insofern immerhin gut, wenn das Bewusstsein dafür um sich greift, dass erstens Algorithmen "noch mächtigere Schleusenwärter" (Diemut Roether in der aktuellen epd medien-Sonderausgabe) sind als die zusehends ehemaligen Gatekeeper, die gelegentlich noch auf Zeitungskongressen zusammenkommen, und dass zweitens Algorithmen "keine transhumanen Naturgesetze, sondern von Menschen programmierte Handlungsanweisungen" sind (Ursula Scheer im FAZ-Medienseiten-Kommentar zur aktuellen Facebook-Manipulations-Frage).

"Die einzige natürliche, neutrale Auswahl wäre die wahllos chronologische", schreibt Scheer. Das wäre natürlich auch keine Lösung. Weiter mit dem Top-Promis Recep Tayyip Erdogan, Mathias Döpfner und Jan Böhmermann im Altpapierkorb.


Altpapierkorb

+++ Altpapier-Leser wussten es schon seit gestern: "Erdogan erleidet Schlappe gegen Döpfner". So die HAZ-Überschrift (eine Zeitung, die als Madsack-Stammblatt zu groß ist, um im Verband Deutscher Lokalzeitungen Mitglied zu sein) zur gespannt erwarteten Entscheidung des Landgerichts Köln. +++ "Erdogan kann nun beim Oberlandesgericht Köln Beschwerde einlegen" (EPD/ evangelisch.de). +++ Dazu gibt's ein frisches "Das müssen Sie den Staatspräsidenten selbst fragen"-Interview des Erdogan'schen Medienanwalts Ralf Höcker (der Hardcore-Medienbeobachtern ja auch als noch bis Sommer '15 aktiver vocer.org-Kolumnist bekannt ist) bei meedia.de. Am allerinteressantesten dabei der kursive Nachsatz unten drunter, der offenbart, wie generös die türkische Seite ihren deutschen Rechtsvertretern gegenüber agiert ("...stellte der Medienanwalt nun klar, dass er die türkische Seite zwar über das Interview informiert, diese jedoch auf eine Vorab-Vorlage des Wortlauts verzichtet habe"). +++ Einstweilig politisch am brisantesten: die von der Open Knowledge Foundation Deutschland e.V. zutage geförderte Information, dass das "offenbar neunzeilige interne Gutachten" der Bundesregierung (das u.a. für die oben erwähnte Bundeskanzlerin vor einem Telefonat mit dem inzwischen nicht mehr amtierenden türkischen Ministerpräsidenten Davutoglu erstellt wurde) der "dritthöchsten Geheimhaltungsstufe" unterliegt und nicht öffentlich gemacht werden soll, u.a., weil dadurch "die Wahrheitsfindung des Gerichts beeinträchtigt würde" (netzpolitik.org). +++ Frische Döpfner-Erdogan-Kritik in der TAZ, wohl keine Schmäh-: "Der ganze Text war ein einziger Schrei: Verklagt mich doch! Und Erdo?an sprang über dieses Stöckchen" (Jürn Kruse). +++ Apropos Stöckchen: Der DJV-Bundesvorsitzende Frank Überall ließ es sich nicht nehmen, gewohnt wortgewaltig Zufriedenheit zum Ausdruck zu bringen ("Das Landgericht Köln hat das einzig Richtige getan und dem türkischen Autokraten Erdogan die rote Karte gezeigt. Die Meinungsfreiheit ist in diesem Fall ein höheres Gut als die persönlichen Befindlichkeiten des türkischen Präsidenten"). +++ Allerdings, wo Erdogan sozusagen die "Schlappe" von Köln wettgemacht hat: vorm Verwaltungsgericht Berlin. Thomas Stadler bloggt auf internet-law.de über die dort bestätigte Entscheidung des Bundeslandes Berlin, der Piratenpartei eine Performance des Jan-Böhmermann-Gedichts "Schmähkritik" vor der türkischen Botschaft zu untersagen. Eine Piratenpartei-Versammlung ohne Gedicht-Aufführung ist "stattdessen ... in der Tiergartenstraße gegenüber der Stauffenbergstraße, also vor der österreichischen Botschaft" genehmigt worden. +++

+++ +++ Es läuft auch ein Medienkongress, auf dem frischere Gedanken geäußert werden, wenn auch vielleicht ex negativo ... Was Bodo Ramelow noch so beim Medientreffpunkt Mitteldeutschland sagte, steht hier nebenan. +++

+++ "Auch die Regulationsbestimmungen von Plattformen wie Facebook, die unter westlich geprägten Vorstellungen von Kultur und Moral entstanden, werden kritisiert. ... Beispielsweise zensiert Facebook das Bild einer indigenen Frau, weil ihre Brüste zu sehen sind, obwohl das in dem entsprechenden Kulturkreis nichts Verwerfliches darstellt": Das "Problem der digitalen Hegemonie", wie es auf der Republica behandelt wurde, umreißt Jonas Klaus bei netzpolitik.org. +++

+++ Auf der SZ-Medienseite geht es kostenpflichtig um die Klage bayerischer Privatradiosender am Landgericht München: "Die Privatradios wollen erreichen, dass der Sender BR Klassik nicht wie geplant 2018 ins Digitalradio DAB+ verschoben und im Gegenzug der Jugendsender Puls, der bisher nur im Digitalradio verfügbar ist, auf UKW ausgestrahlt wird. Dieser Tausch würde den privaten bayerischen Radiosendern ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage entziehen ..." +++ Gratis: ein Kurzinterview mit Josef-Otto Freudenreich zum Kontext-Wochenzeitung-Jubiläum ("Immer öfter wird über spendenfinanzierten Journalismus geredet. Ein zukunftsweisendes Modell?" - "Das wird eine Nische bleiben, die Geldbeutel sind doch sehr verschlossen. Die Leute spenden lieber für Tiere oder Menschenrechte ..."), ein Bericht über Journalisten-Entlassungen als Folge der Panamapapers-Enthüllungen in Spanien. +++

+++ Auf der FAZ-Medienseite kritisiert Fridtjof Küchemann die freigeschaltete Panamapapers-Datenbank: "Dass die Daten in einer entschärften Form, die aus gutem Grund keinen Nachweis einer Straftat ermöglicht, dafür aber Unterstellungen nahelegt, allen zugänglich gemacht werden, kann nicht zum Wohl der Allgemeinheit geschehen." +++ Es geht um "die abgesetzte Arte-Dokumentation 'Der Fall Magnitski'": "Dazu heißt es auf Nachfrage bei Arte, es seien zwei Anwaltsschreiben eingegangen – beim ZDF, das den Dokumentarfilm produzierte, und bei Arte. Die Anwälte würfen dem Film eine diffamierende und falsche Darstellung vor. Die Justitiare beider Sender kämen nach erster Einschätzung zu dem Urteil, dass es Anzeichen dafür gebe, dass die Vorwürfe zutreffen könnten. Deshalb werde 'Der Fall Magnitski' geprüft, wie lange die Prüfung dauere, sei unbestimmt". +++
Und Nina Rehfeld berichtet über das sich wandelnde Verhältnis US-amerikanischer Medien zu Donald Trump: "Der 'Datenjournalismus', also die Konzentration auf die Analyse von Meinungsumfragen, ist entzaubert worden. Er ersetze eben keine umfassende Berichterstattung, mahnt Jim Rutenberg in der 'New York Times', es fehle das Korrektiv der Recherche vor Ort." +++

+++ Zum aktuell sendenden Sender Servus TV existiere "keine wie auch immer geartete Vereinbarung zwischen der Gewerkschaft und Red-Bull-Boss Dietrich Mateschitz..., dass es bei Servus TV für alle Zeiten keinen Betriebsrat geben soll" (Standard) +++

+++ "Nach dem Abgang von Stefan Raab und diversen Unterhaltungsexperimenten auf Raabs Sendeplatz, scheint die Sendergruppe ProSiebenSat1 also eine neue Programmfarbe gefunden zu haben, wenn auch" erst mal bei einem Nebensender und aus Jugendschutzgründen nach Mitternacht: den "E-Sport" (Tagesspiegel). +++

+++ Die oben schon in Facebook-Zusammenhang erwähnte Bertelsmann-Firma Arvato kooperiert im Big Data-Geschäft ebenfalls mit der Deutschen Bahn, auf eine Weise, die SWR-Journalisten zweifelhaft finden (tagesschau.de). +++

+++ "Es ist nicht unansehnlich, aber das ist das 'fondsmagazin' der DekaBank auch nicht" (Peter Breuer in der uebermedien.de-"Bahnhofskiosk"-Kolumne über die Frankfurter Allgemeine Woche). +++

+++ "Wie kein anderer Regisseur seiner Generation war [Niklaus] Schilling fasziniert von technischen Innovationen. Im „Willi-Busch-Report“ arbeitete er zum ersten Mal im deutschen Erzählkino ausgiebig mit der Steadicam-Kamera. 'Die Frau ohne Körper und der Projektionist' (1984) ist der erste auf Videomaterial und in Kooperation mit RTL gedrehte deutsche Kinofilm überhaupt." Am Freitag ist Niklaus Schilling in Berlin gestorben, meldet die FAZ. Siehe auch filmportal.de. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.