Der Spaß ist weg, das Wissen auch
Wie Journalisten feiern: sich selbst im Historischen Museum, mit der ARD knapp 900 dokumentarische Sendungen (die nachts statt des Testbilds laufen), mit Facebook die Eröffnung des neuen Lobbysitzes (mit Kicker sowie Blick auf Philharmonie und Kanzleramt). Außerdem: deutsche Netflix-Produzenten gecastet? Schöner Erfolg für Bundesinfrastrukturminister Dobrindt; keine "Experimentierklausel" für den WDR.

Was ein richtiger Medienmensch ist, der feiert gerne, besonders im Kreise weiterer Medienmenschen. Auch weil noch die Berlinale läuft, während der in Berlin mindestens so viel gefeiert wird wie sonst, schauen wir heute bei ein paar jüngeren Feierlichkeiten vorbei.

[+++] Diejenige des (mal noch gedruckt, mal als Epaper, frei online inzwischen selten erscheinenden) medium magazins zu den Journalisten des Jahres ist regelmäßigen Altpapier-Lesern bereits am Dienstag und im Bildhintergrund des Niggi-Videos, in dem Medienmenschen ihre Haltung zum Wort "Haltung" bestimmen sollen, begegnet. Nun plaudert die langjährige Journalisten-des-Jahres-Jurorin Ulrike Simon in ihrer Madsack-Medien-Kolumne aus dem Schatzkästchen ihrer Erfahrungen, was den Reiz von Medienmenschen-Partys ausmacht ("dass sich manche Laudatoren und Preisträger so gerne reden hören"), um darauf aufbauend der aktuellen Entwicklung ("... blieb es diesmal am Tresen hinten erstaunlich still") auf die Spur zu kommen.

"Als das 'Medium Magazin' 2004 zum ersten Mal die 'Journalisten des Jahres' feierte, hatte die Wissensgesellschaft gerade die Spaßgesellschaft verdrängt. Jetzt ist der Spaß weg, das Wissen aber auch",

schreibt sie. An die Stelle von Spaß und Wissen getreten seien eine "neue Bescheidenheit" (unter der immerhin die Länge der Laudatios nicht gelitten zu haben scheint), "Hilflosigkeit" und "Ohnmacht". Wer sich für das Befinden von Medienmenschen interessiert, schon weil es natürlich ihre Arbeit beeinflusst, sollte diesen leicht ratlosen Artikel jedenfalls lesen.

Die Journalisten-des-Jahres-Feier findet traditionell im Deutschen Historischen Museum Unter den Linden statt, in dem Anteile des klassischen Journalismus gewiss noch eine schöne Zukunft haben werden. Mit dem ebenfalls in Berlin abgehaltenen "International Paid Content Summit" halten wir uns aber nicht lange auf, wenn sogar meedia.des Stefan Winterbauer schreibt: "Axel Springer hat Paid Content ja als eine tragende Säule der Unternehmensstrategie ausgerufen. Dass man dann auf eigener Konferenz zum Ergebnis kommt, dass alles supergut läuft, gehört zum (PR)Geschäft" ...

[+++] Weiter zur ARD, die am unmittelbaren Berlinale-Rande die Veranstaltung "Top of the Docs" abhielt, um "dokumentarische Großprojekte" vorzustellen bzw. zu demonstrieren, dass außer Sonntags-, Donnerstags- und Schmunzelkrimis in ihren Programmen auch Dokumentarisches wichtige Rollen spielt.

"Über 800 Dokumentationen, Doku-Dramen und andere dokumentarische Sendungen hat die ARD im vergangenen Jahr ausgestrahlt, die Doku 'Citizenfour' über den Whistleblower Edward Snowden gewann sogar einen Oscar",

hat Kurt Sagatz vom Tagesspiegel notiert.

"Rund 870 Dokumentationen und Reportagen wird die ARD im Jahr 2016 in ihrem Ersten bringen",

hat die DPA (vgl. Hamburger Abendblatt) der offiziellen Pressemitteilung entnommen. Falls die Zahl Sie stutzen lässt: Interpretationsspielräume gibt's natürlich. Am Ende besitzt jede "Tagesschau" und jede Kochshow, sofern sie Rezepte dokumentiert, dokumentarischen Charakter. Eigentlich sollten sich also vier- oder fünfstellige Zahlen errechnen lassen, die noch mehr Eindruck machen würden. Sehgewohnheiten verändern müssen ARD-Zuschauer wegen der 870 Sendungen jedenfalls nicht.

"Oftmals wird kritisiert, dass die ARD ihre Dokumentationen im Nachtprogramm versteckt. 'Sollen wir dann lieber das Testbild senden?', provozierte ARD-Programmchef Volker Herres die anwesenden Dok-Filmer, bevor er darauf hinwies, dass viele Dokus davon profitieren, wenn sie am Sonntag oder Mittwoch direkt im Anschluss an quotenträchtige fiktionale Sendungen ausgestrahlt würden",

berichtet Sagatz noch. Wie Thomas Frickel, der Underdog-Gegenspieler von der AG Dok, reagierte, schreibt wiederum die DPA im verlinkten Artikel (über dem ein großes Foto zeigt, wie sehr der ARD-Glamour davon profitiert, dass Herres seit Jahresbeginn immer neben der neuen ARD-Vorsitzenden Karola Wille statt neben Lutz Marmor posieren darf ...).

Bliebe erstens noch hinzufügen, dass Claudia Tieschky, die frisch gebackene Donnepp-Preisträgerin von der SZ, irgendwelche Dok-Tops erst mal nicht interessierten, sondern die Frage, was der als Mikrofon-Halter anwesende Ingo Zamperoni eigentlich sonst so macht. Und zweitens vielleicht, dass bei solchen PKs die erwähnte Ulrike Simon häufig hilfreich ist. Schließlich juckt es, wenn Volker Herres seine spritzigen Qualität-Quoten-Reden beendet hat, viele Anwesende immer in den Händen, worauf Simons goldene Regel "Journalisten applaudieren nicht" immer perfekt passt ...

[+++] Wo die ARD auf der Berlinale dieses Jahr überhaupt nicht vertreten war: im Programmsegment der Premieren von neuen Fernseh- bzw. langlaufenden Serien. "Das TV-Publikum habe sich - bis hin zum Suchtverhalten - an den reichhaltigen Strom moderner, komplexer, horizontal erzählter Serien gewöhnt", subsumiert Torsten Zarges bei dwdl.de. "Die kreative Vielfalt" erreiche "in Europa neue Höhen". Da wäre die ARD wirklich fehl am Platze. Aber als eine von achtzehn Serien findet die ZDF-Produktion "Ku'damm 56" am Ende lobende Erwähnung ("überzeugt mit seiner atmosphärisch dichten Beschreibung des Frauenbilds im Nachkriegsdeutschland und dürfte auch international funktionieren").

Womöglich breaking vom Berlinale-Rande: Offenbar sind nun zwei sehr gut aussehende Produzenten gecastet worden, die die lange (zuletzt hier) erwartete erste deutsche Netflix-Serie produzieren sollen, hat zumindest Blickpunkt:Film (mediabiz.de) "aus zuverlässigen Quellen ... erfahren".

[+++] Letzte Berliner Party, bevor wir nach Köln schalten: die Eröffnung des neuen Facebook-Lobbysitzes im Sony-Center gestern abend mit ausgewähltem Publikum (SPON vorab: "zu den 300 Gästen wird auch der US-Botschafter gehören"). Die rasenden Reporter vom Tagesspiegel standen wiederum auf der Gästeliste.

"Durch bodentiefe Fenster sind Philharmonie und Tiergarten zu sehen, an eine 40 Meter lange Wand, die der East Side Gallery nachempfunden wurde, hat jemand lustige Kommentare gekritzelt, von Hass und Hetze keine Spur. Sofas, Stühle und Teppiche leuchten freundlich in Gelb, Blau und Pink, die Teeküche ist als 'Späti' gestaltet ...",

berichtet Sonja Alvarez. Während es dem Berichterstatter der Berliner Tageszeitung für Nichtleser, der Morgenpost, "Kicker, Küche und andere Annehmlichkeiten" für rund 50 Facebook-Lobbyisten angetan haben, hat das politisch interessierte SPON natürlich registriert, dass diese außer Philharmonie und Tiergarten auch noch "Bundestag und Kanzleramt im Blick" haben.

Altpapier-Leser wissen, dass es Facebook bislang beliebte, mit seinem deutschen Hauptquartier in Hamburg so unauffällig wie irgend möglich zu bleiben. Das hat sich also geändert. Wenn künftig Bundesjustizminister Maas, der ja viel zu tun hat, anfragen möchte, ob Facebook sich außer an kalifornische und irische auch an deutsche Gesetze halten möchte, kann er das bequemer tun.


Altpapierkorb

+++ Nicht nur, weil Karneval gerade vorbei ist, herrscht in Köln weniger Partylaune. Einerseits wurden dem WDR gerade (SZ gestern bzw. Altpapierkorb) in einem seltenen Schritt von der Kommission KEF jene 2,1 Millionen Euro aus den Budgetplanungen gekürzt, die er einst noch an Thomas Gottschalk überwiesen hatte. Der Tagesspiegel hat das nun auch gehört. "Offiziell wollten ARD und KEF dazu am Donnerstag nicht Stellung nehmen. Der endgültige Bericht an die Ministerpräsidenten der Länder ergehe erst Mitte April." +++ Und dann ist der Anstalt im gerade in Kraft getreteten WDR-Gesetz durch den Gesetzgeber, also die rot-gründe Landesregierung, auch noch eine "Experimentierklausel" verweigert worden, "um nicht für jedes neue Online-Projekt gleich einen Drei-Stufen-Test einleiten zu müssen" und so auf Konkurrenz wie Netflix "schneller reagieren" zu können. Das klamüsert die Medienkorrespondenz auseinander. +++

+++ Apropos online und schneller: Einen schönen Erfolg für Bundesinfrastrukturminister Dobrindt vermeldet heise.de ("Glasfaser-Verbreitung: Deutschland schafft die 1-Prozent-Hürde"). +++

+++ Ulrich Wickert hatte es ja angedeutet (wiwo.de bzw. Altpapier: "Nein. Keineswegs. Ich sage nicht, dass es so ist. Aber wir müssen darüber nachdenken!", ob der russische Geheimdienst Pegida und die Verbreitung des "Lügenpresse!"-Rufens unterstützt). Solche Fragen werden nun deutsche Geheimdienste untersuchen, berichtet exklusive das Rechercheteam aus SZ, WDR und NDR: "... zudem ist das Internet ideal geeignet für die Verbreitung von Gerüchten. Schlechten Journalismus gibt es leider auch, ohne jede geheimdienstliche Steuerung. Die deutschen Geheimdienste sollen deshalb zunächst einmal mehr Informationen beschaffen. Ähnliche Untersuchungen laufen in den USA: Hier interessiert man sich besonders für die Frage, wie Russland Einfluss auf Europa nimmt ..." +++

+++ Und/ oder haben deutsche Medien Pegida und/ oder AfD erst großgeschrieben bzw. -gesendet? Auch die These ist beliebt, schon weil sie zumindest im Umkehrschluss den weiter hohen Einfluss von klassischen Medien stützen würde. Wegen der Günther-Lachmann-Sache (AP vom Dienstag) schreibt Andreas Kemper bei uebermedien.de im weiter unten kostenpflichtigen Bereich "über das Verhältnis von AfD und 'Welt'" +++

+++ Die frisch gekürten World press Photos gehen durch viele Medien. Die FAZ-Medienseite schildert das Siegerfoto auch in Worten ("... Das Ganze umrahmt von Stacheldraht, dessen Metall das Mondlicht reflektiert"). +++ Für die der SZ hat Hannes Vollmuth "bei Maurice Weiss, der gerade irgendwo im norwegisch-russischen Grenzgebiet unterwegs ist", angerufen und von dem, einem "der wichtigsten Reportagefotografen Deutschlands" gehört: "Immer weniger Fotografen können von ihren Bildern leben." +++

+++ Auf der FAZ-Medienseite erklärt Michael Hanfeld, "wieso Facebook will, dass wir alle bei 'Instant Articles' mitmachen" ("Es geht darum, dass der Konzern auch auf Smartphones und mobilen Geräten zur alleinigen Nachrichtenquelle wird – gespeist von Inhalten, die andere geschaffen haben"). +++

+++ Noch mehr Umbesetzungen bei ProSiebenSat1: "Mit Jochen Ketschau wiederum geht ein echtes Sat.1-Urgestein" (dwdl.de), das 2011 "die Verantwortung für fiktionale Eigenproduktionen der gesamten ProSiebenSat.1 TV Deutschland - ein Bereich, in dem die Sendergruppe aber nicht gerade glänzend dasteht", übernahm. +++

+++ Viele Meinungen zum Streit zwischen FBI und Apple, z.B.: "Ein iPhone ist das, was früher die Wohnung war", hebt Nicolas Richter (Süddeutsche) an, um zu schließen: "Der Staat muss ermitteln dürfen, was nötig ist, er darf aber nicht alles absaugen, was technisch möglich ist. Das ist die Lehre aus den Enthüllungen Edward Snowdens", wobei sich aus Snowdens Enthüllungen Lehren über den Staat natürlich auch ziehen ließen. Wo Richter jedenfalls Recht hat: "Apple wiederum geht es vor allem um Apple. Der US-Konzern fällt sonst nicht allzu sehr dadurch auf, dass er sich um das Gemeinwesen sorgt: Er rühmt zwar gern seine kalifornische Kreativität, setzt aber weltweit auf umstrittene Steuermodelle und produziert in China, wo man Effizienz sehr großschreibt, solange sie sich nicht auf Arbeiter- und Bürgerrechte erstreckt." +++ Diesen tagesschau.de-Kommentar kommentierte netzpolitik.org bei Twitter mit "toll, die Meinung ist schon da. Jetzt fehlt nur noch das Detailwissen, worum es in dieser Debatte überhaupt geht" +++

+++ Dass Kritik an übers Ziel hinausschießenden Produktplatzierungen, also Schleichwerbung, zumindest die Werbekunden nicht stören muss, sondern sogar zum Gesamtpaket dazugehören könnten, deutet z.B. dieser Artikel über Bahlsen, RTL und die Dschungelcamp-Show an. +++

+++ TV-Wahlduelle in den USA haben derzeit "Einschaltquoten zwischen 13 Mio und 24 Mio Zuschauern, die für die Sender die Übertragungen der Debatten hochinteressant machen", berichtet Medienkorrespondenz-Korrespondent Franz Everschor (und stellt dann auch die ABC-Miniserie "Madoff" vor). +++

+++ Eine nicht so tolle europäische Serie, dem Standard zufolge: "Versailles" bei Sky. "Neben dem Aushecken von Intrigen kommt es zu zahlreichem Austausch von Körperflüssigkeiten, was offenbar reicht, um im Zeitalter der Serienschwemme etwas zu schaffen, das sich Superlativen bedient: Versailles gibt sich als 'die bisher größte je in Europa gedrehte TV-Serie' aus. Das bezieht sich auf die Kosten, nicht auf wahre Größe dieser Koproduktion der britischen BBC mit dem französischen Canal+" +++

+++ "Nun kommen die Kassenhäuschen doch, zumindest für manche Artikel" auch bei zeit.de, berichtet horizont.net. "Grund für die späte Abkehr von der Alles-Gratis-Unkultur, die andere Presseportale bereits hinter sich haben, ist das abflachende Online-Werbeplus", lautet eine hübsche Formulierung darin.+++

Neues Altpapier gibt's wieder am Montag.