Ein Doppeldeckerbus, ein Salat, ein Sofa, ein Reh
Eine völlig neue, zumindest konstruktive Zeitschrift wird heute beinahe in Millionen-Auflage an Papier-Leser verschenkt (außer vielleicht in Berlin). Was hinter dem Deutschlands-einflussreichste-Meinungsmacher-Ranking steckt. Aktuelle Schwierigkeiten zweier sehr unterschiedlicher Die Welt-Redakteure. Wollen sogenannte soziale Medien bedient werden, um dann zu befeuern? Außerdem: neue Radio-Einsparungen.

Eigene Erlebnisse überzubewerten hilft selten. Aber am frühen Morgen hatte ich eines, das zumindest illustriert, was für ein schwieriges Geschäft der Handel mit aktuell bedrucktem Papier ist. Ich war einen Tick früher aufgestanden als üblich, schließlich ist heute, wie vor einer Woche angekündigt, der pressehistorische Freitag, an dem eine völlig neue Zeitschrift, die nicht einmal eine sog. line extension eines bestehenden Titels ist, in einer Auflage von (mindestens) einer halben Million Exemplare in den Markt gedrückt werden soll. Wird sich so etwas jemals wieder ereignen?

Also schaute ich in einem gut sortierten Presseladen, direkt neben einer von Berlins großen Shoppingshöllen, längere Zeit über Stapel und Regale und fragte schließlich einen freundlichen Verkäufer nach der neuen Illustrierten namens frei!. Der schaute auf einer an der Kasse befestigten Liste nach und sagte, die käme erst nächste Woche, am 19..

Woran auch immer es da gehakt hat: Es gehören eben viele fleißige Zulieferer dazu, deren Arbeit wie ein Rädchen ins andere greifen muss, damit morgens vielfältige Presse ausliegt - auch wenn die Kunden längst eher Zigaretten oder Kaffee statt Lesestoff einkaufen ...

Jedenfalls bleibt die Medienseite der Süddeutschen dabei, dass von der ersten frei!-Ausgabe am heutigen Freitag "900.000 Exemplare" sogar "verschenkt werden". Dort gibt's auch einen Blick auf das Cover zu erheischen (bloß der Kanzlerinkopf oben rechts zur Illustration der "Story" "Angela Merkel/ Ihre geheimen Kraftquellen" fehlt; aber die Raute ist drauf).

Katharina Riehl hat die erste Ausgabe freilich nicht heute morgen erworben, sondern vorab bei Gruner+Jahr in Hamburg in der "Henri-Nannen-Lounge ... auf einer braunen Ledercouch mit Blick auf den Hafen" durchblättern dürfen. Gesellschaft leistete ihr eloquentes frei!-Spitzenpersonal, nicht der letzte Woche hier gewürdigte Seebär von Chefredakteur, sondern Redaktionsleiterin Annette Utermark ("die beim Gespräch im Henri-Nannen-Salon eher selten zu Wort kommt", aber zumindest sagte: "Gender ist bei uns im Verlag wirklich kein Thema, wir arbeiten sehr kollegial zusammen") sowie Co-Chefredakteur Philipp Jessen ("Unser Ziel war es, den Fans von Fast Food eine bessere Variante eines Burgers anzubieten, den Bio-Burger sozusagen").

Über den Markt der wöchentlichen Frauenzeitschriften, von dem Riehl schreibt, er sei einer mit "trotz aller grundsätzlichen Sorgen der Printbrache noch immer schwer soliden Auflagen ('Bild der Frau' etwa verkauft jede Woche 775000 Hefte), mit fast 40 Titeln", sagte dieser: "Die Titel in diesem Segment sind teilweise journalistisch und haptisch unterkomplex, da sehen wir eine Marktlücke." Jessen (Twitter-Account) ist im Hauptberuf übrigens Chefredakteur des für seine journalistische Überkomplexität bekannten Portals stern.de, also wie gemacht für diesen Posten.

Außerdem solle frei! sich dadurch von Wettbewerbern unterscheiden, sagt das Spitzenpersonal, "dass über die Menschen im Heft positive Geschichten erzählt werden, 'Constructive News'". Die SZ registriert schon mal konstruktiv, "dass für den Titel eine eigenständige Redaktion fest angestellt wurde", was gerade beim Bertelsmann-Verlag Gruner+Jahr (der sonst jede Menge line extensions-Zeitschriften ohne eigene Redaktion zu publizieren pflegt und derzeit ein größeres Problem mit Scheinselbständigkeit hat) nicht selbstverständlich ist.

Falls Sie heute keine frei! geschenkt bekommen: Für einen Eindruck von der Optik bzw. vom "Layout ..., dem man anmerkt, dass die Art-Direktorin des Heftes früher mal bei Neon war", hilft es, auf frei-magazin.de zu klicken. Dort zu sehen sind erst mal ein Doppeldeckerbus in London, ein Salat, ein Sofa so voller Kissen, dass niemand darauf sitzen kann, ein Reh auf grüner Wiese und dann viel blondes Lächeln (nicht allein von Coverstar Maria Furtwängler-Burda ...), und drumrum viel, ähm: edler Weißraum.

[++#1+] Da wir gerade in der Glamourwelt der Illustrierten sind: Falls Sie sich gestern auch fragten, was zum Teufel die GQ, die in ihrem Alltag gewiss fundierte, womöglich auch unabhängige Meinungen über Herrendüfte und so was äußert, dafür qualifiziert, mit Hilfe eines "prominent besetzten Expertenbeirats" "Deutschlands einflussreichste Meinungsmacher" in jene Reihenfolge (vollständig entgeltlich bei Blendle) zu bringen, die die üblichen "Meldungen"-Weitermelde-Medien gestern gerne aufgriffen: Hier gibt's Insider-Auskunft vom @NiceBastard Dorin Popa.

[+++] Vielleicht nicht Springers beim Durchblättern auch in der Nicht-"kompakt"-Version oft dünn anmutende Tageszeitung Die Welt, aber doch das Portal welt.de ist eines, über das man unterschiedliche Meinungen haben kann. Das liegt auch an sehr unterschiedlichen Mitarbeitern.

Derzeit haben gleich zwei Welt-Redakteure Schwierigkeiten, welche zusammen eine eindrucksvolle Spannbreite ergeben.

Der eine heißt Günther Lachmann und hat jetzt also den AfD-Politiker Marcus Pretzell "unter Fristsetzung auf Unterlassung abgemahnt", wie ein Springer-Sprecher dem EPD (evangelisch.de) sagte. Die Vorgeschichte, in deren Verlauf Pretzell behauptete, Lachmann hätte sich "seiner Partei als Berater angeboten", hat Boris Rosenkranz bei uebermedien.de (Altpapierkorb neulich) aufgeschrieben.

Das bleibt eine seltsame Sache (Rosenkranz: "Pretzell ist Jurist. Erfindet er solch handfeste Vorwürfe, die ihn, falls sie falsch sind, in Schwierigkeiten bringen könnten?"). Schließlich sind es oft AfD-Anhänger, die "Lügen-" oder "Pinocchio-Presse" rufen; schließlich fehlt es nicht an Hinweisen, dass es vielen etablierten Medien eher schwer fällt, über etwas mit AfD-Bezug unparteilich zu berichten ...

Der andere Welt-Redakteur in Schwierigkeiten ist @Besser_Deniz Yücel, sicher kaum AfD-nah, sondern früherer TAZ-Redakteur. Seine Schwierigkeiten sind handfester, schließlich berichtet er aus einem Land, das zwar zu den wenigen Top-Partnern der Bundesregierung bei ihren Problemlösungsversuchen gehört, sich andererseits aber im Pressefreiheits-Ranking der Reporter ohne Grenzen im Sturzflug befindet. Kürzlich berichtete Yücel etwa über seinen Vornamensvetter Deniz Naki, den früheren deutschen Fußballjuniorennationalspieler, der zurzeit in Diyarbakir spielt.

Nun ist Yücel "Opfer" einer "staatlich orchestrierten Kampagne" (TAZ jeweils; meedia.de indes, illustriert mit Zeitungsausrissen: "Hetzkampagne türkischer Medien", "Medienpranger"), zum Glück nicht im schlimmstmöglichen Sinn des Wortes - auch wenn die Äußerung "Jeder kann fragen, aber er bekommt dann auch die Antwort, die er verdient" des türkischen Premierministers bedrohlich klingt. Den Anlass bildete ein während der Pressekonferenz nach Angela Merkels Besuch in der Türkei auf deutsch geführter, simultan zum Teil falsch ins Türkische übersetzter Dialog mit der Kanzlerin.

Diese Pressekonferenz schildert welt.de:

"Unter anderem sagt der 'Welt'-Korrespondent: 'Um bei nur einem Beispiel zu bleiben, nämlich der Pressefreiheit: Die Türkei ist im internationalen Ranking der Pressefreiheit auf Platz 159. Kollegen von uns, Can Dündar und Erdem Gül, werden angeklagt, und ihnen drohen lebenslange Haftstrafen.'

... ...

... auch Regierungschef Davutoglu will auf die Frage antworten. Dass man 'einem Ministerpräsidenten ins Gesicht blicken und ihn offen beschuldigen kann', sei doch ein Beweis dafür, dass in der Türkei Pressefreiheit existiere, sagt der Premier. 'Die Türkei ist ein demokratischer Rechtsstaat nach europäischen Standards.' Im Südosten des Landes bekämpfe man lediglich Terroristen. Er frage sich, wie die Türkei auf Platz 195 einer Liste der Pressefreiheit stehen könne, wo es auf der Welt doch nur 193 Länder gebe. Der Simultanübersetzer hat die Zahl falsch wiedergegeben. Diese verdrehte Äußerung ist aber nur einer unter vielen Punkten, die Yücel im Anschluss vorgeworfen werden ..."

Vermutlich ist sinnvoller, Staaten nach ihrer Pressefreiheit zu ranken, wie es die Reporter ohne Grenzen tun, als Meinungsäußerer danach, ob sie "den größten Einfluss auf die öffentliche Meinung in Deutschland ausüben". Offenkundig ist aber, dass die sehr regelmäßigen Wortmeldungen der ROG, sei es zur Türkei (aktuell: "Gewalt gegen Medien ist inakzeptabel und darf kein Mittel der Auseinandersetzung sein ..."), seien es Appelle an reisende deutsche Politiker, bitte überall auch Menschen- und Meinungsfreiheitsrechts-Verletzungen anzusprechen, auf Regierungsseite komplett ignoriert werden.

Gut ist allein, dass Welt ziemlich unterschiedliche Mitarbeiter beschäftigt, die trotz allem, was sich dem Springer-Medium vorwerfen lässt, immer noch ein ganz ordentliches Spektrum an Berichten und Meinungen bieten.

[+++] "Für Journalisten gibt es kaum etwas Wichtigeres als Nachrichten ... Aber manchmal werden Berichterstatter selbst zur Nachricht und das meistens gegen ihren Willen", fängt übrigens der welt.de-Artikel über die Pressekonferenz an. In der Hinsicht lesenswert ist, aus anderen Gründen, dieser Werben und Verkaufen-Artikel (wuv.de).

Die Redakteurin Petra Schwegler war, wiederum: zum Glück vergleichsweise nicht schwer, betroffen vom Zugunglück in Bayern. In einem der Nahverkehrszüge saß ihr Sohn, kam aber kaum zu körperlichem Schaden. Am Donnerstag schrieb Schwegler über ihre Medienerfahrungen als Betroffene mit dem vor allem am Dienstag virulenten Thema.

Sie war "enttäuscht" von den "Öffentlich-Rechtlichen, die teils nur Interviews mit unbeteiligten Offiziellen ins TV-Programm einflochten", dagegen nicht so von privatwirtschaftlichen Medien. Noch aufschlussreicher ist, was sie über die sogenannten sozialen Medien berichtet, über "üble Kommentare auf Facebook" sogar, was diesen Unfall betrifft. Und:

"Reißerische Schlagzeilen, die Hatz ums erste Schock-Foto oder Video vom Unglücksort und der Drang politischer Wichtigtuer zum Rampenlicht waren die von mir erwarteten Reaktionen, befeuert von Botschaften in sozialen Netzen. Genauso kam es",

schreibt Schwegler und erklärt damit, warum es ihr und ihrem Sohn als Betroffenen "am Dienstag fern (lag), die sozialen Netze zu bedienen ..."

Dass sie bedient werden wollen, um dann ihrerseits zu befeuern, sind Begriffe, die man sich für künftig Diskussionen über die sog. sozialen Netze merken sollte.


Altpapierkorb

+++ "Der Westdeutsche Rundfunk will seine polyglotte Vorzeigewelle, das Funkhaus Europa, radikal zusammenstreichen", berichtet Daniel Bax in der TAZ, und ordnet diese Sparmaßnahmen in einen Kontext ein: den "Trend, der im gesamten öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu beobachten ist: Minderheitenprogramme werden gestrichen, Vielfalt wird zu einem Fremdwort". Womit er aber, zumindest nicht ausdrücklich, keinen Bezug auf den Umgang des Bayerischen Rundfunks mit der klassischen und der Volksmusik nimmt ... +++

+++ Twitter ist "mehr als ein nützliches Werkzeug, es ist auch Biotop und Resonanzraum und Dorfkneipe und Notizblock", allerdings in Gefahr, "eine weitere beliebige Laberplattform" zu werden, fasst Andrea Diener für die FAZ zusammen. +++

+++ Ulrike Simon hat für ihre Madsackmedien-Medinkolumne das 41-seitige "Redaktionelle Gesamtkonzept" des MDR zur Landtagswahl in Sachsen-Anhalt im März gelesen und weiß nun, "warum ARD und ZDF, zumal bei nicht vorhersehbaren Großereignissen, behäbig, langsam und unflexibel reagieren". +++

+++ Anlässlich der Berlinale bzw. eines Empfangs an deren Rande ("Wer bei 'Full House' nicht eingeladen wird, gehört definitiv nicht zu den 800 bis 1000 Schauspielern, Produzenten, Regisseuren und Autoren, die in Deutschland Fernsehen und Film prägen") wirft Jörg Seewald im Tagesspiegel einen freundlichen Blick auf die Szene der deutschen Schauspieler-Agenturen, die dafür sorgen, dass immer die gleichen Fernsehnasen zu sehen sind. +++

+++ Am Rande der "Babylon Berlin"-Zeremonie vorgestern (Altpapier gestern) interviewte Christian Buß (SPON) den ARD-Programmdirektor. "Unterschätzen Sie bitte nicht das ARD-Publikum! Es repräsentiert unsere Gesellschaft. Und die will moderne Serien schauen", sagt Volker Herres unter anderem (und scheint damit zufrieden zu sein, dass die ARD schon 2018 so eine moderne Serie ausstrahlen wird, eben "Babylon Berlin". Um andere ARD-Baustellen  ("Aber müssen deshalb tatsächlich AfD-Politiker in den Talkshows sitzen?") geht's dann auch noch. +++

+++ Die sinnvolle "Onlinekarte" hoaxmap.org, mit der Entwicklerin Karolin Schwarz "Gerüchten über Flüchtlinge entgegenwirken" möchte, stelle evangelisch.de und der Tagesspiegel vor. +++

+++ "Aufdeckerjournalismus paart sich sozusagen mit Trash, wobei Ersteres thematisch eindeutig dominiert" (Standard über uebermedien.de). +++ U.a. über den "erst sehr katholischen, dann sehr schwulen, inzwischen sehr besorgten David Berger" schreibt dort Stefan Niggemeier. +++

+++ In der FAZ geht es auch um israelische Vorwürfe gegen internationale (englischsprachige) Fernsehsender wie CBS, CNN und auch BBC, die Meldungen verbreiten wie "Drei Palästinenser bei andauernder Gewalt getötet", obwohl diese drei zuvor israelische Grenzpolizistinnen angegriffen und zum Teil ermordet hatten. +++

+++ Das tägliche Vorstellen einer US-amerikanischen Serie übernimmt heute die SZ. Die HBO-Serie "Vinyl" ("fetischisiert den Rock’n’Roll") von Regisseur Martin Scorsese und Mick Jagger als Produzent bespricht nicht etwa der Rock’n’Roller unter dern Kritikern, Hans Hoff, sondern Andrian Kreye. +++ Dass die satirische ZDF-Kurzserie "Familie Braun" "scheitert", und zwar "krachend", findet ebd. auch David Denk. +++

+++ Und Michael Hanfeld empfiehlt auf der FAZ-Medienseite, zum nächsten "Tatort" nicht etwa zu twittern, sondern "parallel Asterix [zu] lesen, Band neunzehn, 'Der Seher'" ... +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Montag.