Romantische Mitte
Warum sitzen in Talkshows so viele „Abschottungsfantasten“, die an einem „Wolkenkuckucksheim“ basteln? Wird die AfD-„Obsession“ der lieben Kollegen jemals nachlassen? Außerdem: Plädoyers für den Dokumentarfilm; Nachrufe auf den Mann, der „buchstäblich alle Protagonisten des deutschen Nachkriegsfernsehens persönlich kannte“.

Gibt es Menschen da draußen, die sich darüber ärgern, dass in Talkshows über Geflüchtete immer die falschen Leute über die falschen Themen reden?

Wer sich angesprochen fühlt, wird möglicherweise den 85-minütigen Dokumentarfilm „Flucht nach Europa. Der Winter“ zu schätzen wissen, den arte heute zum Auftakt des fünfteiligen (!) Themenabends „Europa und die Flüchtlingskrise“ zeigt. Hier werden zumindest die richtigen Fragen aufgeworfen. Zum Beispiel von Naika Foroutan, Professorin für Integrationsforschung an der Berliner Humboldt-Uni. Europa, sagt sie, müsse sich darüber „vergewissern", ob es die Gleichwertigkeit von Menschen zu seinen Werten zähle. Ihre zugespitzte Frage lautet: Sollen Menschen, „die zufällig hier geboren sind", mehr Rechte haben als jene, die dieses Glück nicht hatten? Eine der entscheidenden Fragen, zweifelsohne.

Ob Richard Herzinger mit Naika Foroutan einer Meinung ist, vermag ich nicht zu sagen, aber er wird dem arte-Film wohl etwas abgewinnen können, wenn man mal seinen luziden Text für die Welt am Sonntag als Maßstab nimmt: 

„Darüber, wie dem Gemetzel in Syrien und anderen explosiven Krisenherden im Nahen Osten Einhalt zu gebieten ist, finden sich in Talkshows (...) ungleich weniger Experten als solche, die Obergrenzen und Grenzschließung als ultimative Heilmittel anpreisen. Es ist erschreckend, wie sich in diesem Klima Abschottungsfantasten als abgebrühte Realisten aufspielen können. Wer uns aber einreden will, es gebe in der globalisierten Welt einen Weg zurück in die sichere nationale oder europäische Wohlstandsisolation, bastelt ein Wolkenkuckucksheim, aus dem das Erwachen umso schrecklicher sein wird.“

Wie dem Gemetzel in Syrien und anderswo „Einhalt zu gebieten ist“, kann zwar keiner der Experten sagen, die in „Flucht nach Europa. Der Winter“ zu Wort kommen,aber die Filmemacher haben Interviewpartner ausgewählt, die nicht in der Parallelwelt leben, in der die „Abschottungsfantasten“ zu Hause sind. 

Logistisch-produktionstechnisch ist „Flucht nach Europa“ - der erste Teil wurde gerade für den Grimme-Preis nominiert (Disclosure: was zu ca. 14,3 Prozent an mir liegt, denn ich war Mitglied der zuständigen Kommission) - ein besonderer Dokumentarfilm, weil sich hier die normalerweise um Aufträge miteinander konkurrierenden Produktionsfirmen Eco Media, Spiegel TV und Kobalt zusammengetan haben, um einen sowohl aktuellen als auch in die Tiefe gehenden Film zu den Fluchtbewegungen machen zu können. Die Doku ist gewissermaßen zur selben Zeit an mehreren Orten - in Izmir und anderen türkischen Städten (etwa im Armenviertel der türkisch-syrischen Grenzstadt Gaziantep, wo ein 14-Jähriger aus einer Flüchtlingsfamilie sich glücklich schätzen kann, wenn er 13 Euro für eine 80-Stunden-Woche in einer Hosenfabrik bekommt), in Gevgelija an der griechisch-mazedonischen Grenze, in Frankreich, Marokko und anderswo. Ohne die Bündelung der Kräfte, so abgeschmackt die Formulierung klingen mag, wäre so ein Film gar nicht möglich gewesen.

Ich habe die arte-Dokumentation für die SZ besprochen (für die gestrige Ausgabe), und ich wäre froh, wenn ich an dieser Stelle noch andere Rezensionen aufgreifen könnte. Ich habe aber keine entdecken können. Das ist möglicherweise symptomatisch für die Lage im Medienjournalismus: Wenn arte einen fünfteiligen Themenabend zu dem Thema aller Themen sendet, berichtet kaum jemand, aber wenn - zum Beispiel - der „Jahrmarktbudenbetreiber“ Frank Plasberg tut, was er tun muss, müssen sogar Regionalzeitungsmitarbeiter Nachtschichten schieben (im aktuellen Fall: Kollegen der Berliner Morgenpost und der Neuen Osnabrücker Zeitung).

„Flucht nach Europa. Der Winter“ könnte i.Ü. auch ein Film für Georg Diez sein, der in seiner Spiegel-Online-Kolumne über das grundsätzliche „Scheitern“ der Polit-Talkshows gerade Folgendes betont:

„Die Türkei baut eine Mauer und verhindert die Flucht der Syrer, ist das gut, oder ist das schlecht, und kann man das bitte auch mal ohne Politiker diskutieren, die das öffentliche Gerede auf eine verfassungsschiefe Weise an sich gerissen haben?“

Bei den Experten, die in dem arte-Film interviewt werden, sind Politiker in der Minderheit, und auch das trägt wesentlich zur Qualität der Doku bei.

Diez‘ aktuelle Kolumne ist noch aus einem anderen Grund erwähnenswert. Er schreibt: 

„Alle reden zurzeit dauernd und ausschließlich mit der AfD oder über die AfD, es ist fast schon eine Obsession: Es gäbe genug zu diskutieren, über den Klimawandel, TTIP, die globale Ungerechtigkeit, das Wesen des Kapitalismus, das Leiden der Menschen in Syrien, die Schönheit und den Schrecken des Islam oder auch nur die Zukunft der intelligenten Maschinen und den Platz des Menschen. Aber im deutschen Panikmodus wird all das ignoriert - man ordnet sich dem Diskursgetrommel der Rechten unter (...)“.

Diese „Obsession“ leben die lieben Kollegen nach den aktuellen Aussagen der beiden dunkeldeutschen Flintenweiber jetzt ja noch ein bisschen heftiger aus als vorher. Halbwegs erfreulich: ein paar um Humor bemühte Reaktionen gibt es auch, siehe Tagesspiegel (Karikatur, Glosse) und Titanic ("Wer war es denn, der jeglichen Unterschied zwischen Mann und Frau geleugnet hat? Da sollte es die selbsternannten Genderforscher wohl kaum stören, die Feuerstöße gleichermaßen auf die Geschlechter zu verteilen!"). Was den Umgang mit der AfD angeht, rät der Kommunikationswissenschaftler Peter Bretschneider im "Tagesthemen"-Interview dazu, sich mit den Themen der AfD in Dokus zu beschäftigen, anstatt sich in Talkshows an deren Personen abzuarbeiten. Dies sei hier aber nur erwähnt, um die Doku-Talkshow-Dichotomie noch einmal aufzugreifen.

[+++] Die FAZ bespricht in der Rubrik „Politische Bücher“ (Seite 6) das von der NDR-Innenpolitikchefin Anja Reschke herausgegebene Buch „Und das ist erst der Anfang. Deutschland und die Flüchtlinge“. Es sei ein „hilfreicher Sammelband zur öffentlichen Debatte über Flüchtlinge in Deutschland“, er enthalte „wirklich informative Kapitel“, schreibt Andreas Rödder.

Einen Text der „altlinken“ Daniela Dahn mit der „erwartbaren Schlussfolgerung, der Kapitalismus müsse aufhören zu existieren“, und die Beiträge der WDR-Redakteurin Gabriele Gillen, die Angela Merkel von links angreift - da hat mich Rödder jetzt aber sehr neugierig auf Gillen gemacht, denn es greift ja heute kaum noch jemand Merkel von links an - findet der CDU-Mann erwartungsgemäß nicht so prima.

[+++] Lust auf einen Denkverbots-Dooffinder? Tätätätätätä, hier kommt Seiferts Heribert, der in der NZZ mit einer fast schon preiswürdigen Analogie aufwartet. In der „Berichterstattung über die Masseneinwanderung“ hätten die deutschen Medien

„von Anfang an mit rabiaten Denkverboten (gearbeitet), mit Durchsetzung fragwürdiger Sprachkonventionen, mit der Umwandlung politischer Fragen in moralische Bekenntnisse und mit einer hoch aggressiven Ausgrenzung von Abweichlern, wie sie zuletzt in den Tagen der Baader-Meinhof-Jagd im Lande üblich war.“ 

Ein Autor, der auch für die Rechtsaußen-Zeitschrift Eigentümlich frei Textchen zimmert, instrumentalisiert hier also linke Opfer staatlicher und boulevardmedialer Verfolgung, um diverse Stahlbehelmte (diese hier dürften u.a. gemeint sein), die ein ziemlich süßes Leben führen (dank gut dotierter Redakteurs-Jobs, üppiger Renten, Talkshow-Einladungen en masse, Lesereisen und sonstigem Halligalli) zu Opfern „hoch aggressiver Ausgrenzung“ stilisieren zu können. Die Frage wäre noch, wer den Roman schreibt zu Seiferts These, und ob er „Die verlorene Ehre des Roland Tichy“ oder „Die verlorene Ehre des Rüdiger Safranski“ heißen wird.

[+++] In dem Tagesspiegel-Nachruf auf den „Schwarzwaldklinik“- und „Traumschiff“-Erfinder Wolfgang Rademann steht ein Satz, der, wenn man ihn in den Kontext der aktuellen Mediendebatten hineinwirft, plötzlich ganz anders klingt, als ihn der Urheber gemeint hat:

„‚Die Wirklichkeit fließt niemals mit ein‘, da komme nur rein, was er, Rademann, wolle, dass da reinkomme.“

Ausführlichste Nachrufe auch anderswo - in der SZ etwa von David Denk:

„An dieser Stelle stimmt ausnahmsweise mal, was in Nachrufen allzu oft behauptet wird: So eine Figur wird es im deutschen Fernsehgeschäft wohl nie wieder geben." 

Denn:

„(Rademann) kannte buchstäblich alle Protagonisten des deutschen Nachkriegsfernsehens persönlich und hat die meisten überlebt (...) Rademann war nicht nur wegen seiner leicht garstigen „Berliner Schnauze“ als Interviewpartner sehr begehrt, sondern weil er Akteur und Zeitzeuge zugleich war: Nie sprach Rademann nur für sich, sondern immer auch als Botschafter einer versunkenen Welt – womit das alte West-Berlin genauso gemeint ist wie das Unterhaltungsgewerbe, dessen goldene Zeiten er nicht nur erlebt, sondern wesentlich geprägt hat.“

Dafür, dass er in einer „versunkenen Welt“ lebte, spricht auch ein Satz aus Tilmann P. Gangloffs Nachruf für die Stuttgarter Zeitung:

„Rademann hat nie Krimis produziert, weil ihm wichtig war, dass es in seinen Filmen keinen Sex und keine Gewalt gab.“

Weil Rademann einst auch Reporter bei der B.Z. war, widmet ihm das Berliner Boulevardblatt heute die Titelseite

Und Jörg Seewald schreibt auf der FAZ-Medienseite, Rademann habe

„Deutschland mit der ‚Peter-Alexander-Show‘, der ‚Schwarzwaldklinik‘ und den ‚Traumschiff‘-Reisen über Jahrzehnte hinweg im Fernsehen so etwas wie eine romantische Mitte geschenkt“.

„Romantische Mitte“ - das ist eine faszinierende Formulierung. Wenn die Formate, für die Rademann steht, in der „Mitte“ anzusiedeln sind bzw. waren, müsste es ja Sendungen geben oder gegeben habe, die noch seichter oder romantischer oder auf ähnliche Weise jenseits davon sind. Welche Seewald meint - ich weiß es nicht, aber es würde mich interessieren.


Altpapierkorb

+++ „Jeder ist zu jemandem geworden, der in dieser Welt in eine Diskussion eingreifen kann. Ich glaube, dass es für uns Journalisten wichtig ist, den Unterschied deutlich zu machen. Der Unterschied ist, dass das, was wir berichten, sich unterscheiden muss von dem, was jemand meint zu wissen, sagt Georg Mascolo in einem Gespräch mit NDR Kultur, das ja gewissermaßen ein hausinternes ist, weil der Interviewpartner „seit Februar 2014 Leiter des Rechercheverbunds von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung“ ist, wie erfreulicherweise in einer Bildunterschrift vermerkt ist. Der Oberrechercheur sagt auch: „Wir müssen die Fähigkeit zurückgewinnen, zu sagen: Wir wissen etwas nicht, wir können etwas nicht beurteilen, wir unterwerfen uns nicht vollständig diesem unglaublichen Geschwindigkeitsprozess, in dem das stattfindet, weil ansonsten auch wir dazu übergehen, viel zu häufig zu mutmaßen und über Dinge zu berichten, bevor wir sie selbst verstanden haben.“

+++ Stefan Ripplinger geht für die Februar-Ausgabe von konkret noch einmal auf die in diesem Dezember-Altpapier ausführlich beschriebene Debatte ein, inwiefern die Häme über eine Spende Mark Zuckerbergs als antisemitisch einzuordnen ist. „Die Personalisierung der Kritik am Kapitalismus wird nicht erst falsch, wenn sie antisemitische Blüten treibt, sie ist immer falsch. Ein Kapitalist ist notwendigerweise Teil eines ausbeuterischen Systems, was für ein Mensch er ansonsten ist, tut nichts zur Sache“, meint Ripplinger. 

+++ Eine Kleinanzeige, die „Mitstreiter“ für eine Bürgerwehr in Frankfurt anzuwerben versucht, stammt von der ebd. ansässigen Titanic. Die Frankfurter Neue Presse weiß Bescheid. Die Frankfurter Rundschau - in der die Kleinanzeige erschienen ist - auch.

+++ Zum Wahlkampf in den USA: Luise Pusch (Fembio) wundert sich darüber, was der Boston Globe in einem „Endorsement“ für Hillary Clinton auslässt: „Was mag (die Zeitung) bewogen haben, das auffälligste Merkmal dieser Präsidentschaftskandidatur, nämlich dass Hillary Clinton eine Frau und (ganz anders zum Beispiel als Angela Merkel, der Göttin sei’s geklagt) sogar eine engagierte Feministin ist, unerwähnt zu lassen? (...) Beim Endorsement des Boston Globe für Obama vor acht Jahren fehlten die Wörter ‚black‘ und ‚African-American‘ Schließlich sollte das ja ein Präsident für ALLE AmerikanerInnen sein, nicht nur für die Schwarzen oder für die, die ein Zeichen gegen die Rassendiskriminierung setzen wollten. Aber es gab zahlreiche Synonyme aus dem heiklen Wortfeld, das zwar nur indirekt angesprochen wurde, aber keineswegs unter den Tisch fiel. Das wichtigste dieser Wörter war ‚race‘, andere waren ‚multi-ethnic‘, diversity‘, ‚roots‘. Für Hillary wäre entsprechend mindestens das Wort gender‘ erwartbar gewesen. Aber sogar das fehlt!“

+++ Wird in der ARD mit Karola Wille an der Spitze dies und das grundlegend anders? Ein taz-Artikel über „Zugeständnisse“ des Senderverbunds an hiesige TV-Produzenten lässt verschiedene Schlüsse zu. Mal spricht Autor Jens Mayer von einem „Paradigmenwechsel“, mal von „längst überfälligen Anpassungen“ - und davon, dass sich die Produzentenallianz (auf deren Seite eine Zusammenfassung verschiedener Artikel zum Thema zu finden ist) „nicht in allen Punkten durchsetzen konnte“. 

+++ Mal ein anderen Blick auf das Thema TV-Serien liefert Sabine Horst (Zeit Online). Sie hat sich mit ihrem Sohn Anime-Serien angeschaut - und schreibt darüber: „Der Sohn schlägt ‚Akame ga Kill!‘ vor. Weil es da ein durchlaufendes politisches Thema gibt – es geht um den Kampf einer jugendlichen Guerillatruppe gegen ein semifeudales Schreckensregime. Das ist harter Stoff: Zwangsarbeit, Folter, sexuelle Gewalt, Leid, Tod, moralische Konflikte, mit denen sich Philosophen und Schriftsteller jahrhundertelang beschäftigt haben. Nach einer Szene, in der zwei verwaiste Schwestern, die zu Kindersoldaten abgerichtet wurden, auf verschiedenen Seiten landen und schließlich unter Tränen gegeneinander kämpfen müssen, brauche ich selbst ein Kleenex (...) Wenn man durch die Stahlbäder von Erwachsenen-Premiumserien wie 'The Walking Dead' und 'Game of Thrones' gegangen ist, erscheint einem so etwas wie Akame rührend unzynisch und trotz des hohen Body Counts sogar tröstlich.“ Horsts instruktive These: „Angesichts der durchaus lebensnahen Identifikations- und Verhandlungsangebote, die Animes liefern, angesichts der Möglichkeiten auch, sich in dieser Community als aktiver Fan einzubringen, stellt sich die Frage, warum ein Teenager seine Tage darauf verschwenden sollte, dem Abstiegskampf des weißen amerikanischen Mittelstandsmannes  in ‚Breaking Bad‘ und ‚Mad Men‘ beizuwohnen."

+++ Netflix-Gründer Reed Hastings findet die ZDF-Mediathek „nicht schlecht". Das hat er im Interview mit dem Medienmagazin journalist gesagt (Teaser hier)

+++ Und Altpapier-Autor Christian Bartels hat für epd medien Markus Stromiedels dystopischen Roman „Zone 5" gelesen: „Stromiedel war lange einer der präsenteren deutschen Drehbuchautoren. Er hat die Figur des ‚Tatort‘-Kommissars Borowski ersonnen und für 'Großstadtrevier' und ‚Ein starkes Team‘ geschrieben. Zwei ‚Notruf Hafenkante‘-Folgen waren seine bislang letzten TV-Arbeiten, weil dort ‚gutes Handwerk‘ in angenehmen Umfeld möglich war, wie er sagt. 2008 beschrieb er für die FAZ, ‚wie das Fernsehen Autoren vernichtet‘. Inzwischen hat er sich von der im Fernsehen gewünschten ‚Variation des Immergleichen‘ abgewandt, da er doch lieber Neues schreibt und Geschichten, die ihm wichtig erscheinen.“

Neues Altpapier gibt es wieder am Mittwoch.