Bärendienstleistungen
... nicht allein bei den "Elefanten-im-Porzellanladen-Runden", auch bei Facebook. "So funktioniert Propaganda". "Alptraum aus Erregung und Desinformation". Die Rechte auch von Rechten gegenüber der Bild-Zeitung. Innehalten im Internet. Ein Uli-Wickert-Interview zerfällt in zwei Teile, von denen immerhin einer ernst genommen zu werden verdient.

Der Vorwurf des Bärendienst-Leistens basiert der Wikipedia zufolge auf einer alten französischen Fabel. Gerade hatte ein FDP-Oppositionspolitiker ihn wegen der gesetzlichen Vergrößerung des WDR-Rundfunkrats gegen die NRW-Landesregierung erhoben (gestern unmittelbar überm Altpapierkorb).

Inzwischen ist er auf anderen aktuellen Baustellen auch erhoben worden: durch Julia Klöckner wegen der SWR-TV-Duelle ebenfalls gegen eine rot-grüne Landesregierung (siehe Tagesspiegel; da variiert Joachim Huber die jüngere Tiermetapher von der Elefanten- auch zur "Elefanten-im-Porzellanladen-Runde"). Und in der Lageso-Sache sowieso; schließlich wimmelt es in Berlin von Bären in übertragenen Sinnen. Die Süddeutsche übernimmt ihn aus dem Mund der gestern sehr oft gefragten Sprecherin der Initiative "Moabit hilft" gleich als Überschrift ihrer Zusammenfassung.

[+++] Wie das bei Medienlawinen so ist: Geht es in die ursprüngliche Richtung nicht mehr weiter, dann in andere Richtungen. Insofern lässt sich viel darüber lesen, wie die Falschmeldung von einem in der Warteschlange vorm Landesamt gestorbenen syrischen Flüchtling über die sogenannten sozialen in viele redaktionelle Medien gelangt ist.

Hier dokumentiert die Berliner Zeitung per Screenshot den (wenn ich richtig sehe, Katzencontent-verzierten) Facebook-Entschuldigungs-Post des Gerüchteurhebers ("... Ich wollte wachrütteln, etwas verändern und habe dabei in einer Mischung aus Betrunkenheit und nervlichem Zusammenbruch ein völlig falsches Mittel gewählt"). Wer den Bild-Zeitungs-Bericht über den Mann nicht lesen möchte, kann zum BLZ-Artikel klicken, der wiederum vor allem auf einem darin auch verlinkten Die Welt-Artikel aus dem November 2015, als der "freiberufliche PR-Berater" noch nicht wegen Bärendiensten im Fokus stand, basiert.

Eine zunächst konsensfähig erscheinende Einordnung der Causa, die zunächst der Tagesspiegel am Ende seiner schon gestern hier verlinkten Zusammenfassung formuliert hatte, lautet:

"So verworren der Fall ist, eine Erkenntnis gibt es. Niemand – nicht die Politik, nicht die Helfer, nicht die Presse – hat den Tod eines Menschen am Berliner Lageso auch nur einen Moment lang für unwahrscheinlich gehalten."

Daher sei die Sache "nur ein Drama". Die BLZ hat das beim Sich-Umhören rund ums Lageso auch bestätigt bekommen. Diese erste Einordnung bekommt nun aber Gegenwind von einer auch nicht alltäglichen Kommentatoren-Koalition aus Jasper von Altenbockum, Stefan Kuzmany und Stefan Niggemeier.

"Ein Ereignis, das nicht passiert ist, sollte keine solche Wirkung haben" (Niggemeier, uebermedien.de).

"Ein Gerücht für wahrscheinlich oder gar für eine Tatsache zu halten, weil es eigene, lange gehegte Befürchtungen bestätigt, ist eine sehr menschliche Schwäche. Ihre Folgen sind fatal" (Kuzmany, SPON).

"So funktioniert Propaganda" (von Altenbockum, FAZ-S.1).

Unterschiede in den Ansichten der drei gibt es natürlich ebenfalls. Lesenswert ist insbesondere der Niggemeier-Beitrag, der gegen Ende, wie so allerhand Texte zurzeit, zum grundsätzlichen Appell wird:

"Leicht wird das nicht, das zu lernen: innezuhalten und zu zögern und vielleicht erstmal den Ball flach zu halten. Weil scheinbar alles für das Gegenteil spricht: die simple Technik, der Sog der anderen, die eigene Empörung. Aber wenn wir das nicht lernen, wird der gegenwärtige Alptraum aus Erregung und Desinformation immer schlimmer."

[+++] Wie das gemeint ist, lässt sich anhand einer anderen Causa mit Niggemeier-Beteiligung nachvollziehen, in der auf die ersten Blicke (und vielleicht auf spätere Blicke auch noch) Fronten verrutscht erscheinen. Bildblogger kritisieren die Bild-Zeitung, das ist eines der ältesten Motive der deutschen Medienkritik. Die bildblog.de-Überschrift "'Bild'-Online-Chef: 'BILDblog marschiert für Pegida'" variiert es gehörig.

Es geht um den Träger des von Fotos in vielen Medien bekannten Träger des symbolisch für "Siegmar 'das Pack'" "reservierten" Galgens auf einer Pegida-Demonstration. Und um die Frage, ob, im @niggi-Duktus, auch "Arschlöcher Rechte" auf Privatsphäre gegenüber der Bild-Zeitung haben, sogar rechte Arschlöcher.

Den "Alptraum aus Erregung und Desinformation" illustriert der Diskussions-Strang unter diesem Tweet des bild.de-Chefredakteurs Julian Reichelt. Der Ursprungs-Tweet enthält ein Herzchen. Die Beiträge darunter enthalten viele Fotos; über die Hakenkreuzhaftigkeit von Krawatten (und Fußböden) wird gestritten, dann folgen Bilder, die den Begriff "Strang" vielleicht doch zu verbieten scheinen. Thread halt.

Wer nun in der Sache, die bildblog.de vor den (in letzten Wochen ja stark wie nie gefragten) Deutschen Presserat bringt, Recht hat?

Das sollte am besten der Presserat entscheiden. Das nun von Niggemeier geforderte Innehalten enthebt einen ja auch von womöglich gefühlten Verpflichtungen, überall eigene Meinungshäufchen hinzuzufügen.

[+++] Für Innehalten beim Textelesen im Internet sorgt oft das von vielen Portalen praktizierte Prinzip, Artikel in mehrere Teile zu unterteilen. Wer weiter lesen will, muss einen Moment warten, bis sich die neue Seite mit ihren Bannern, Gadgets, Trackern undsoweiter aufgebaut hat. Das sorgt für Klicks, von denen die Portale leben oder einmal leben zu können hoffen (und dafür, dass viele Leser doch eher aussteigen). Wer aber weiterliest, hat einen Moment innegehalten.

Wo dieses Prinzip sinnvoll eingesetzt ist: beim Uli-Wickert-Interview der Wirtschaftswoche. In dessem zweiten Teil erscheint der frühere "Tagesthemen"-Star und heutige Wärmedämmungs-Werbeträger, Käse-Connaisseur, Krimiautor usw. usf. wie er eben vielen erscheint.

"Und wenn ich jetzt KGB-Chef wäre, was würde ich in Deutschland tun? Die Presse diskreditieren, indem ich ein Wort wie 'Lügenpresse' lanciere",

sagt Wickert dort zur aktuellen Lage. Der besonnene Interviewer Maximilian Nowroth fragt "Haben Sie Belege dafür, dass der russische Geheimdienst Pegida unterstützt?" Wickert antwortet:

"Nein. Keineswegs. Ich sage nicht, dass es so ist. Aber wir müssen darüber nachdenken! ..."

Darüber nachgedacht werden muss und kann anhand vieler aktueller rt.com-Inhalte tatsächlich (genau so wie darüber, ob das, was drinsteht, nicht auch teilweise oder ganz zutreffen könnte). Aber laut oder in Form schriftlich ins Internet gestellter Interviews Thesen zu formulieren, für die man keineswegs Belege hat, erweist der Kritik doch eher weitere Bärendienste. Und erschwert es sogar, sich kurz darauf glaubhaft über "zu viel Müll" auf Facebook beklagen.

Aber, Herr Wickert, sind Journalisten, vielleicht vor allem auch prominente, nicht irre überschätzt. Bzw., wie Nowroth fragt: Sind sie "noch die Vierte Gewalt im Staat?"

"Dieser Anspruch war schon immer schon falsch. Es gibt keine demokratische Legitimierung der Presse. Stattdessen sind Medien in größten Teilen ein Teil der Wirtschaft."

Von dieser Aussage bis zu

"Das Wichtige ist, dass unsere Presse Bescheid weiß, was passiert – und das auch sagt. Denn das ist eines der ganz großen Probleme in der Gesellschaft: Wenn wir Dinge nicht benennen, können wir uns damit auch nicht auseinandersetzen ...",

seiner letzten Aussage auf S.1 desselben Interviews hat Wickert weitestgehend recht, würde ich sagen. Das ändert sich erst auf S. 2. Dieses Interview hat wiwo.de richtig gut aufbereitet.


Altpapierkorb

+++ Wer jetzt auch Bild-Zeitungs-Inhalte bewertet: die Kommission für Jugendmedienschutz der Landesmedienanstalten. Sie hat, wie die KJM in feinstem Beamtendeutsch mitteilt, eine "Entscheidung gegen einen Menschenwürdeverstoß ... getroffen", also ist zum Urteil gekommen, dass bild.de mit Fotos aus dem Pariser Club Bataclan nach dem Massenmord am 13. November ("Auf dem blutverschmierten Boden liegen zahlreiche Leichen in deutlich sichtbaren Blutlachen ...") nicht  gegen die Menschenwürde verstoßen habe. +++

+++ Karen Krüger schreibt im Aufmacher der FAZ-Medienseite über den Prozess gegen Can Dündar und Erdem Gül, die die Staatsanwaltschaft lebenslang einsperren lassen will: "Die Anklage ist ein massiver Angriff auf die Pressefreiheit, sie kriminalisiert investigativen Journalismus und sendet eine Botschaft an das Land: Der türkische Staat hat das Recht auf Vertuschung und Lüge, und jedem, der sich dagegen wehrt, drohen drakonische Strafen". +++

+++ Gute Ideen I: "Die Öffentlich-Rechtlichen brauchen Regeln, die immer und für alle Parteien gelten", was die TV-Duelle/ Elefantenrunden-Frage angeht, meint Felix Werdermann (Freitag). +++

+++ Gute Ideen II: "Wir brauchen eine Anti-Fake-Behörde". Vielleicht könnte man sie beim WDR ansiedeln, in dessen Digitalistan-Blog Dennis Horn diese "und andere Ideen gegen problematische Inhalte" schon mal erfrischend offen ("Es gibt keine einfachen Lösungen für das gesellschaftliche Problem, dem wir gerade gegenüberstehen. Aber vielleicht wäre es sinnvoll, langsam damit zu beginnen, überhaupt über Lösungen zu diskutieren") anpackt? +++

+++ Intendant Tommy Buhrow will nach der Werbezeitbeschränkung im WDR-Radion "nichts ausschließen, auch nicht die Schließung einer Hörfunk-Welle" (dwdl.de). +++

+++ Die Einigung, die die ARD mit dem Fernsehproduzenten-Verband getroffen hat und die u.a. zu "Kalkulationsrealismus" und "Anreizen zu Innovation" führen soll (Pressemitteilung), schildert u.a. der Tagesspiegel. +++ Leistungsanreize für niederländische Produzenten könnten dazu beigetragen haben, dass dort das Fernsehen besser ist, meint Birte Kohring bei SPONS bento.de. +++

+++ Berichte über Angriffe auf Journalisten bei der AfD-Demonstration in Magdeburg (Tagesspiegel) bündelt auch der DJV-betriebene Blog augenzeugen.info. +++

+++ Die TAZ hat ihre Erlöse durch Spenden 2015 im Vergleich zum Vorjahr "mehr als verdoppelt" (Standard mit Link zum TAZ-Hausblog). +++

+++ "An Einstein verdienen nun die Chinesen", zumindest die, denen die Visual China Group gehört, die nämlich "das fotografische Gedächtnis der westlichen Welt" teils gekauft, teils sich per "Partnerschaft mit der amerikanischen Gruppe Getty Images" gesichert hat, berichtet die FAZ. +++

+++ Im Aufmacher der SZ-Medienseite macht Casper Busse gespannt auf die Versteigerung der Fußball-Fernsehrechte, bei der die Bundesliga ihre Einnahmen von zurzeit 800 Millionen pro Saison auf "bis zu 1,5 Milliarden Euro" steigern will. "Im frei empfangbaren Fernsehen steht ... der Klassiker, die ARD-'Sportschau', in der jetzigen Form zur Diskussion. RTL hat Insidern zufolge großes Interesse an der Bundesliga ..." +++ Außerdem geht's um eine ZDF-Krimireihe und um "zwei persönliche", von Elfriede Jelinek selbst vorgetragene "Radio-Texte" ("Jelinek versteht sich nach wie vor auf ihre Mittel. Aber sie ringt diesmal stark darum, das zu Sagende tatsächlich zu formulieren", schreibt Stefan Fischer).+++

+++ Auf der FAZ-Medienseite beglossiert Michael Hanfeld nicht nur erneut die SWR-TV-Duell-Sache ("Der Ringelpiez mit Anfassen in Mainz hat also ein Ende ..."), sondern auch noch eine Diskussion in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats über u.a. die Silvester-Vorfälle in Köln und die deutsche Medienberichterstattung ("Wieso Europarats-Abgeordnete den Deutschen die Leviten lesen"). Dabei geraten Information und anlass-unabhängige Meinung allerdings arg durcheinander. +++

+++  U.v.a. meldet die prallvolle FAZ-Medienseite überdies, dass Enissa Amani ("Sie ist vielseitig, sie ist witzig, sie räumt mit Vorurteilen auf", und ihre Familie floh "Mitte der achtziger Jahre aus Iran" nach Deutschland) ab März die montägliche Comedy-Show "Studio Amani"  bei Pro Sieben moderieren wird. +++

+++ Vietnamesische Blogger, darunter viele christliche, werden inzwischen "seltener als in den vergangenen Jahren inhaftiert, weil das weltweit für mehr Aufsehen sorge. Dafür würden sie jetzt von Unbekannten auf offener Straße verprügelt", berichtet Thomas Klatt hier nebenan. +++

+++ Die Aussage und Interview-Überschrift "Ich glaube diese ganze Refugees-Welcome-Kacke nicht" würde bei einem Interviewpartner ohne Migrationshintergrund vermutlich gaanz anders rüberkommen als wenn Serdar Somuncu sie äußert. Jedenfalls bestreitet der u.a. aus Olli Welkes "heute-show" bekannte Kabarettist nun auch eine Talkshow bei n-tv ("Wir agieren eher in der Tradition von Christoph Schlingensief als in der von Anne Will und Frank Plasberg", wobei Plasberg sich aber, Somuncu zufolge, doch seinerseits dieser annähere ...), auf die ein Tsp.-Interview aufmerksam macht. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Montag.