Bruch in der Informationskette
Der Onlinejournalismus will genauer und besonner werden, aber das braucht Zeit. Erst einmal stecken die deutschen Medien ziemlich tief in einer Falle. Ein ehemaliger Bundeswirtlandschaftsminister trägt dazu bei. Außerdem: Der aktuelle Bundesjustizminister haut daneben; die neue Bild-Zeitungs-Chefin kommentiert erfreulich unscheinbar; ein ARD-"Brennpunkt", der seine Sendezeit um 50 Prozent überzog.

Zunächst das Positive: Der deutsche Onlinejournalismus will 2016 wirklich

"... genauer, besonnener, verlässlicher, was meistens heißt: langsamer"

berichten, wie Markus Hesselmann, der Online-Chefredakteur beim Tagesspiegel, schon Dienstagnacht twitterte und auf Nachfrage kaum relativierte.

Dazu passen frische, mahnende Einlassungen eines unserer wortgewaltigsten und auch an Einfluss reichsten Publizisten, etwa

"Immer häufiger unterschreitet die Reaktionszeit der Öffentlichkeit die Frist, die ein kluger Gedanke braucht".

Jakob Augstein verknüpfte sie mit einem eleganten Florett-Seitenhieb gegen das 140-Zeichen-Medium Twitter:

"Der Dichter und Verleger Michael Krüger hat gerade geschrieben: 'Wer in unseren chaotischen Zeiten lebt und etwas über sie aussagen will, darf nicht twittern; er muss in ganzen Sätzen reden.'"

Ob Krüger damit wirklich dafür plädierte, lieber ausgerechnet Mark Zuckerbergs Netzwerk um lange Posts zu bereichern, könnten Mit-Intellektuelle ihn bei Gelegenheit ja mal fragen.

[+++] Jetzt das Aktuelle. Es ist weniger positiv: Auf Anhieb hat der Paradigmenwechsel noch nicht zu spürbar besserer Berichterstattung beigetragen. Die Berichte über die Silvesternacht-Ereignisse vor allem am Kölner Hauptbahnhof, die sich im Lauf dieser Woche tatsächlich auffällig langsam verbreitet haben (siehe Altpapier vorgestern, gestern), mussten im Lauf des gestrigen Tags erheblich verändert werden. Ob eher trotz oder eher wegen des genaueren, besonneneren Journalismus, ist unklar. Es muss im Sinne des Hesselmannschen Anspruchs ja aber auch nicht sofort geklärt werden.

Jedenfalls zirkulierten seit gestern bei Medien weitere Polizei-Einsatzberichte, die gravierend anders klingen als das, was Polizeivertreter und Politiker Anfang dieser Woche - in Medien - gesagt haben.

Einer dieser Berichte führte zum gestern hier verlinkten "Geheime Polizei-Protokoll!" im kostenpflichtigen bild.de-Bereich. Der ebenso boulevardige Kölner Express aus der DuMont-Verlagsgruppe hatte das gleiche oder Ähnliches auch "exklusiv". "Die 'Bild'-Zeitung und 'Spiegel-Online' zitierten am Donnerstag ausführlich aus einem eigentlich 'nur für den Dienstgebrauch' bestimmten 'Einsatzerfahrungsbericht'", schreibt um Korrektheit bemüht die FAZ. Bei welt.de wurde dann noch zitiert, was "Kölner Polizisten ... der 'Welt am Sonntag'" sagten; "ein interner Bericht eines Bundespolizisten" lag auch "dem WDR vor" oder wurde halt einfach "jetzt veröffentlicht" (Tsp.); "zuerst hatte die Bild-Zeitung ihn veröffentlicht, er liegt auch SZ.de vor", das ihn dann "in voller Länge und unkommentiert" auch veröffentlichte.

Wie auch immer, das Ergebnis ist das, was alle die genannten Medien eigentlich verhindern wollten: Das Verhalten der Medien lässt sich zwar erklären, aber auch von denen, die gerne "Lügenpresse" posten und rufen, gegen sie verwenden.

"Wie aber konnte es dazu kommen, dass die Attacken, die nun ganz Deutschland empören, tagelang nahezu unbeachtet blieben? Wo doch Internet und soziale Medien in Echtzeit jedes umfallende Fahrrad in der tiefsten Provinzen melden? Vor allem am rechten Rand ist der Schuldige schnell benannt: 'Lügenpresse lässt nordafrikanischen Sex-Mob links liegen', schreit es aus dem einschlägigen Kopp-Verlag. Der Vorwurf, die Medien hätten versagt, kursiert aber nicht nur unter Rechtspopulisten. Wie also wurde was wann öffentlich bekannt?",

schreibt auf der SZ-Seite 2 Jan Bielicki und gibt dann einen Überblick über die Frühphase der weiterhin, womöglich noch dramatisch laufenden Geschichte.

"Ob da irgendwo ein Bruch in der Informationskette war, oder ob da jemand versucht hat, Fakten hinter dem Berg zu halten, weil es sich bei den Tätern offensichtlich um Migranten gehandelt hat und man dies aus politischen Gründen nicht feststellen wollte",

müsse jetzt geklärt werden, zitiert der Kölner Stadt-Anzeiger (der zwar einen lausigen Internetauftritt hat, DuMont halt, aber in der Sache gut informiert ist) einen der stets gern interviewten Polizeigewerkschaftler.

An solchen Informationsketten hängen zurzeit in der Digitalära viele dran, mittelbar natürlich auch das Altpapier.

[+++] Wie Zeitungen und deren Onlinemedien mit so was umgehen, ist eine Frage. Sie haben ihre speziellen Probleme in der Digitalära. Wie das öffentlich-rechtliche Fernsehen damit umgeht, ist eine andere. Schließlich wird es von fast allen finanziert und kritisiert. Besonders, wenn es von Politikern regierender Parteien kritisiert wird, reagiert das Fernsehen oft. Schließlich sitzen solche Politiker in seinen Aufsichtsgremien.

Den umfassendsten aktuellen Überblick dazu hat wieder der Tagesspiegel. Dort gibt's Aussagen von ARD-Chefredakteur Thomas Baumann ("In Baumanns Perspektive hat das Erste ausreichend berichtet ... Am Dienstag ... berichtete das ZDF mit einem 'ZDF spezial', während die ARD ihrerseits auf jeden 'Brennpunkt' verzichtete. Baumanns Begründung: 'Ein 'Brennpunkt' wurde in diesem Fall angesichts der Tatsache, dass das Ereignis schon Tage zurücklag, nicht erwogen.' Neue Lage, neue Reaktion am Donnerstag ..."), denen Joachim Huber dann "eine nicht eben sinnfällige Wenn-dann-Logik" bescheinigt.

Ebenso exklusive wie unüberraschende Originalaussagen von "Tagesschau"-Chef Dr. Kai Gniffke hat dwdl.de. In der TAZ macht sich Jürn Kruse über den CSU-Medienkritiker und u.a. ehemaligen Bundeslandwirtschaftsminister Hans-Peter Friedrich lustig (nicht wegen dessen NDR-, sondern wegen dessen Madsack-Zeitungs-Interview).

Ernster nimmt Christian Meier (welt.de) Friedrichs "ungeheuerlichen", "brandgefährlichen Vorwurf des "Schweigekartells". Damit schließt er den Kreis zum weiter oben umrissenen grundsätzlichen Problem, das sich für die Medien 2016 bereits verschärft hat:

"Die seriösen Medien stecken in einer Falle. Rechtfertigen sie sich für ihre Berichterstattung oder üben sie gar Selbstkritik, wird das als Schwäche ausgelegt. Ignorieren sie ihre Kritiker, sind sie die arroganten Medien, die im Zeitalter der sozialen Netzwerke, in denen das Publikum längst offensive Medienkritik übt, nichts verstanden haben ..."

[+++] Mit zur Falle gehören, auch darauf geht Meier ein, auch Vorwürfe von links, Medien sollten immer mutmaßliche Nationalitäten oder Ethnien von Täter und Verdächtigen verschweigen. Eine Meinungs-Umschau dazu hat ebenfalls DuMonts Joachim Frank verfasst.

Und falls die Sondersendungen interessieren, die gestern ZDF und ARD (dann doch "Brennpunkt", sogar einen, der die vorgesehene Sendezeit um 50 Prozent überzog und 15 statt zehn Minuten dauerte ... ) ins Programm hoben: Faz.net, das eigentlich ja keine Talkshow auslässt, war offenbar nicht am Start (jetzt aber zur Phoenix-Talkshow zumselben Thema), jedoch ich bei handelsblatt.com. Der "Brennpunkt" war bemerkenswert gut.

[+++] Natürlich laufen jede Menge an dieses Thema angelehnte weitere Debatten. Zwei kurze Blicke da hinein: In die feministische wirft sich faz.nets Don Alphonso gerne; ich will nur darauf hinweisen, dass Alice Schwarzer, die immer eine Reizfigur war, erst für die einen, dann für die anderen, die aktuell ihre "kühn" gezogenen "kulturelle Bögen von Köln bis Kairo und Kabul" kritisierten (Hilal Sezgin, zeit.de), gestern sozusagen Unterstützung von der tatsächlich international erfahrenen SZ-Feuilletonchefin Sonja Zekri erhielt ("Für Deutschland ist das neu, für den Nahen Osten ist es das nicht").

Ein anderes, in Deutschland mindestens so sensibles Thema ist es, Worte aus der Nazizeit zu verwenden. Was war für eine Hölle los, als Eva Herman einmal bei Kerner im falschen Moment "Autobahn" sagte ... Jetzt hat Heiko Maas, also der sehr medienerfahrene Bundesjusitizminister, in einem Zeitungsinterview zu den Kölner Ereignissen (nicht mit den vereinigten Madack-, mit den vereinigten Funke-Zeitungen) ein Wort, das bisher weitestgehend der Bewertung der Nazizeit vorbehalten war, verwendet. Damit habe er "besonders daneben gehauen", findet Nico Fried auf der SZ-Meinungsseite, mit Recht, würde ich sage.

Das Wort lautet "Zivilisationsbruch".


Altpapierkorb

+++ Beliebt in Deutschland, seit Schumi immer Autorennen gewann (oder noch länger?): internationale Presseschauen über Deutschland. Zu den Kölner Ereignissen die beste, weil von Korrespondenten kommentierte, hat die TAZ. +++ Die FAZ-Medienseite hat auch eine, von Ursula Scheer gestaltete. "Das ist der Stresstest für den deutschen Willkommenskurs", lautet online die Überschrift. +++ Sueddeutsche.des "Sie haben eine Medien-Stasi geschaffen", das Zitat entstammt einer ungarischen Zeitung, dürfte besser geklickt haben. +++

+++ So erfreulich unscheinbar wie die seit Jahresbeginn amtierende neue Chefredakteurin der Bild-Zeitung, Tanit Koch, ist auch ihr erster Kommentar ("Den Bürgern kann zugemutet werden, Wahrheiten – auch unbequeme – richtig einzuschätzen"), auf den meedia.de aufmerksam machte. +++

+++ "Man kann gar nicht genug Differenzierung verlangen von JournalistInnen, das gehört zu unserem Job", sagt Konstantina Vassiliou-Enz, Geschäftsführerin der Neuen deutschen Medienmacher, im Interview der Journalistengewerkschaftszeitschrift mmm (mmm.verdi.de). Neu deutsch steht in dem Fall für nicht "standarddeutsch", also den Migrationshintergrund, den die NDM in ihrem differenzierten Glossar zumindest eingeschränkt empfehlen. Allerdings, sind "Menschen, die gerade aus Syrien kommen", echt "Kontingentflüchtlinge"? +++

+++ "Unverändert hoher Bedarf" der deutschen Papierindustrie, allerdings "insbesondere im Karton- und Pappesegment". Der Fachverband Papierrecycling meldet: "Deutschland wird vorerst Netto-Importnation von Altpapier bleiben". +++ Heißt vermutlich, dass nicht genug Zeitungen verkauft werden. Wobei der Bundesverband Pressegrosso die Lage differenziert sieht. Zwar sei "die Anzahl der Presseeinzelhändler ... moderat zurückgegangen, um 2,3 Prozent. Bundesweit sind 2.651 Presseverkaufsstellen weniger am Markt aktiv als ein Jahr zuvor", vor allem Kioske und Pressefachgeschäfte verschwanden. Dafür habe "sich die Präsentationsauslastung im Lebensmitteleinzelhandel - insbesondere in den großen Supermärkten und SB-Warenhäusern - verbessert". +++ Falls Ihnen diese Zusammenfassung der Ehastra ("Einzelhandelsstrukturanalyse") 2015 zu fachlich ist: wuv.de fasst sie in anderem Tonfall zusammen. +++

+++ Den englischsprachigen Bericht (PDF) "Jihad against Journalists" der Reporter ohne Grenzen empfiehlt netzpolitik.org. Die deutsche Webseite der ROG fasst ihn auf deutsch zusammen. +++

+++ Immer wenn Netflix was (BLZ/ DPA; horizont.net) ankündigt, sind alle deutschen Medienmedien hellwach. Reed Hastings' Worte "Sie werden gerade Zeuge der Geburt des ersten weltweiten Fernsehsenders" interpretiert Jürgen Schmieder auf der SZ-Medienseite so: "Das könnte gravierende Auswirkungen auf jene, womöglich auch in Deutschland ansässigen Sender haben, die zahlreiche amerikanische Filme und Serien im Angebot haben". +++ Marcel Weiß schreibt bei neunetz.com von einer "(kaum aufhaltbaren) Gefahr, die von Netflix auf die private deutsche TV-Landschaft zukommt". +++ "Doch was sehen wir da eigentlich? Nur tolle Stücke? Von wegen. Es gibt auch Super-Flops" bei Netflix, "schönen Mist" wie die Adam-Sandler-Komödie "The Ridiculous 6", die Nina Rehfeld auf der FAZ-Medienseite vorstellt: "Am Zustandekommen der klamaukigen Kalauer-Parade kann man erkennen, in welches Stadium Netflix binnen kurzer Zeit eingetreten ist: Der Streamingdienst schließt Mega-Deals mit Stars ab, deren Prominenz allein freilich nicht reicht, um das Publikum für sich zu gewinnen." +++

+++ "Eine gewisse Grund-Aggressivität ist bei der Arbeit" als Journalistin "ganz hilfreich", und sie kann durchs Ambiente auch befördert werden, findet Ulrike Simon (RND-, also Madsack-Medienkolumne). +++

+++ Das umstrittene Mediengesetz in Polen ist nun in Kraft (evangelisch.de). Heißt: Die Regierung "könnte sämtlichen Rundfunkmitarbeitern kündigen" (FAZ). +++

+++ Einen brandneuen ARD-Sender mit pfiffigem Logo hat dann noch die Medienkorrespondenz bei Twitter dokumentiert. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Montag.